Marsjahr. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783653
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roch nach Michelin und Goodyear. Vielleicht war es auch das Latex der Horrormasken, ausgehöhlte Schrumpfköpfe die mit aufgerissenen Mündern von Marks Bücherregal glotzten. Was Marks Stolz auf seine Besitztümer betraf, rangierte die Maskensammlung gleich hinter dem Pussy Magnet an zweiter Stelle. Im Laufe eines Jahrzehnts hatte er sich Zombies, Ghouls, Totenschädel, Brandopfer, und prominente Horrorhelden wie den Hellraiser und natürlich Michael Myers zusammengekauft und dafür wahrscheinlich ein kleines Vermögen ausgegeben. An jedem Halloween kam eine der Masken zum Einsatz, aber präsentiert wurden sie Marks Besuchern (die in der Regel aus Paul bestanden) ganzjährig.

      Paul stakste zwischen den kunstvoll aufgetürmten Papierwolkenkratzern aus Fangoria und Hot Rod Magazinen hindurch zur Couch. Der Dreisitzer hatte ihm schon in mancher späten Nacht als Bett gedient (und Scotts Pressluftmeißel am nächsten Morgen als ungnädiger Wecker).

      "Und während wir auf den Anruf der Mädels warten", sagte Mark und zog zielsicher eine VHS-Kassette unter dem Fernseher hervor, "vertreiben wir uns die Zeit mit dem Original. Falls sie vorher anrufen, müssen sie sich eben gedulden." Er schob Halloween I in den Rekorder. In einer Hand die Fernbedienung, in der anderen eine Tüte Kartoffelchips, plumpste er neben Paul ins Leder. Einundneunzig Minuten und fünf Opfer später war die Tüte leer, und niemand hatte angerufen.

      -

      Durch die Augenhöhlen der eng anliegenden Michael Myers Maske nahm Brian die Nacht wahr wie mit Scheuklappen. Er hoffte, hinter dem Gesicht des Serienkillers so gefährlich auszusehen, wie er sich fühlte - trotz des peinlichen Brotmessers, das in keiner Weise dem filmischen Original glich, und dessen Wellenschliff-Klinge garantiert verbiegen würde, wenn man sie jemanden in den Bauch rammte.

      Er folgte den Hinterteilen der beiden Mädchen wie ein Esel der Karotte. Sein Blick schweifte über Rachels Rundungen, von denen dank ihres Kostüms nicht viel übrig geblieben war. Aber sie wollte ja unbedingt so auszusehen wie die Hauptdarstellerin dieser dämlichen Rettungsschwimmer-Fernsehserie, die sie so verehrte. Deshalb hatte sie sich einen identischen roten Badeanzug besorgt, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, dass Ende Oktober in diesem Staat nicht die ideale Zeit war, um in Schwimmzeug durch die Nachbarschaft zu laufen. Als ihr endlich ein Licht aufging, gab sie den Plan nicht etwa auf, sondern kaufte eine Art hautfarbene Ganzkörperstrumpfhose, die sie unter dem Badeanzug trug. Von weitem funktionierte die Illusion, doch gegen den beißenden Herbst konnte das Nylon wenig ausrichten. Nachdem sie an zwei Haustüren geklingelt hatten, war Rachel wieder nach Hause geeilt, hatte sich den knielangen Wollmantel ihrer Mutter übergezogen und damit Sexappeal und Glaubwürdigkeit des Badenixenkostüms zerstört. Da half auch das zitronenfarbene Stück Hartplastik nicht mehr, dass einst die Hülle ihres Warndreiecks gewesen war, und nun, mit einer Kordel an ihrem Knöchel befestigt, als Rettungsboje durchgehen sollte.

      Auch der Hintern dieser "Elli" blieb unter ihrer lächerlichen Stola verborgen. Brian musste ihn gar nicht sehen, um zu wissen, dass er keinen Vergleich mit Rachels durchtrainiertem Sitzfleisch standhalten können.

      "Lass es uns dort mal probieren. Das mit der Kürbislampe."

      Rachel zeigte auf ein Einfamilienhaus, das aussah, wie alle anderen in dieser Straße. Unsanft aus seinen Gedanken gerissen, trat Brian auf den viel zu langen Umhang der Möchtegern-Freiheitsstatue. Die Ausländerin raffte ihr Kostüm und funkelte ihn an. Ihre Schaumstoffzacken zitterten. Im Zwielicht des Mag-Lites, das Rachel ihr in Ermangelung einer echten Fackel zugedacht hatte, sah sie gar nicht mal so unattraktiv aus. Vielleicht lag ein flotter Dreier doch im Rahmen des Möglichen, wenn auch nur um damit anzugeben - wer konnte schon behaupten, Miss Liberty gevögelt zu haben?

      Rachel drückte ihm den Sammelbeutel in die Hand.

      "Honey, du bist dran."

      Honey schlurfte lustlos zur Haustür, drückte die Klingel und wartete. Nichts geschah. Das Kürbislicht flackerte. Unter der Maske wurde es warm. Brian nahm sie ab und trocknete das schwitzige Gesicht in der Armbeuge seines Overalls. Ein Rascheln. Aus dem Gebüsch neben der Tür kam eine Katze und liebkoste seinen Knöchel. Brian verscheuchte sie mit einem Tritt.

      "Macht keiner auf", verkündete er das Offensichtliche und zog die Maske wieder über. Rachel zuckte mit den Schultern, als hätte sie nichts anderes erwartet. Während Brian zurück zur Straße ging, wo johlende Kindergruppen ihre Beutezüge planten, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er sah über seine Schulter. War da ein Schatten hinter der Jalousie? Der Regen machte es unmöglich, Genaueres zu erkennen. Welche Rolle spielte es auch? Er wollte endlich nach Hause.

      "Letzter Versuch", verkündete Rachel, als hätte sie seine Gedanken gelesen. "Ale, dein Einsatz." Sie zeigte auf das Haus ihrer Wahl und schob ihre Teilzeitschwester auf den erleuchteten Eingang zu. Eine erschöpft aussehende Frau öffnete ihrem Klingeln.

      "Trick or Treat", sagte Ale mit einem Akzent, dem Brian eine gewisse Erotik nicht absprechen konnte. Ihr Tonfall hingegen klang, als spräche sie Beileid aus.

      Die Frau nahm von irgendwoher eine Handvoll Naschkram, hielt dann aber inne. Sie beäugte das Trio mit dem misstrauischen Ausdruck, der für Staubsaugervertreter und Jehovas Zeugen reserviert ist. Brian hielt dem Blick stand, sein echtes Gesicht genauso ausdruckslos wie seine Maske.

      "Seid ihr nicht schon ein wenig alt für Halloween?"

      "Gib das Zeug her und halt die Klappe, du alte Schachtel." Der Satz lag Brian auf der Zunge, aber er beherrschte sich und schwieg. Er drehte das Brotmesser in der Hand. Vielleicht war es an der Zeit, zu testen, wie stabil die Klinge wirklich war.

      Gerade als Rachel zu einer langatmigen Erklärung über kulturelle Unterschiede zwischen Nord- und Südamerika ausholte, stieg Rauch aus dem Kopf der Frau.

      "Mom!", krähte eine Stimme im Hintergrund. Brian begriff, dass der Rauch aus dem Zimmer hinter der Frau kam.

      "Oh, mein Gott", rief die als Mom titulierte, ließ Bonbons und Schokoriegel auf die Türschwelle regnen und stürmte zurück ins Haus. Für ein paar Sekunden sagte niemand ein Wort. Dann polterte es, und etwas huschte an ihnen vorbei, eine schlanke Gestalt, die etwas trug, das entfernt Rachels Badeanzug ähnelte. Flink wie ein scheues Tier verschwand es in der Dunkelheit.

      "Was zum Teufel war das?", fragte Brian.

      Rachel seufzte, gleichermaßen frustriert über ihren durchnässten Mantel, Ales mangelnde Halloweenbegeisterung und den immer noch leeren Sammelbeutel.

      "Keine Ahnung. Lass uns nach Hause gehen."

      -

      Der Tag war gekommen. Letzte Woche hatte Mom ihn erwähnt, im Gespräch mit der Nachbarin, einen tiefen Seufzer vorangestellt: Schon wieder! Das Jahr geht so schnell rum.

      Ein paar Tage später begegnete Greg ihm im Supermarkt in Form einer Kette orangefarbiger Pappbuchstaben (würde es kein Rot geben, hätte Greg genau dieses Orange zu seiner Lieblingsfarbe erkoren), die über gigantischen Kürbissen inmitten einer Dekoration aus Herbstlaub und Ährenbündeln hing. Und vorhin hatte er ihn sogar in der Schule aufgeschnappt, als Gesprächsthema seiner besten Freunde. Selbst wenn Greg nie viel zu ihren Diskussionen beisteuern konnte, so wusste er doch immer, worum es ging.

      Heute ging es um Halloween.

      Das erkannte Greg auch daran, dass auf dem Frühstückstisch die Papiertischdecke mit der Endlosreihe tanzender Skelette, und der kleine Porzellankürbis aufgetaucht waren, in dessen Bauch man drei Teelichter versenken konnte. Greg liebte das warme Flackern, dass aus den dreieckigen Augenhöhlen strahlte und wildes Schattentheater auf seiner morgendlichen Portion Count Chocula aufführte.

      Halloween bedeutete, dass er mehr Süßigkeiten essen durfte als sonst. Von diesem Privileg machte er schon vor dem Frühstück Gebrauch und bediente sich mehrfach aus der gut gefüllten Tupperschüssel im Flur bedient, bis diese nicht mehr gut gefüllt war und Mom Mäßigung anmahnte.

      Kürbiskerzen und Süßigkeiten waren eine feine Sache. Was Greg jedoch am meisten faszinierte, war, dass man an diesem Feiertag völlig verrückte Kleidung tragen durfte.

      Er konnte sich noch gut an das letzte Halloween erinnern. Eine Gruppe Kinder hatte an