Marsjahr. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783653
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gar nicht übersehen, denn er überragte alle anderen Schüler. Sein Kopf war kahlrasiert, bis auf einen Streifen in der Mitte, der in harte, an die Decke zeigende Stacheln unterteilt war. Ein Irokesenhaarschnitt, wie Paul ihn nur von den Downtown-Kids kannte, die auf der Monroe Avenue rumlungerten. So auffällig wie der Haarschnitt war auch die Kleidung des Jungen. Über einem zerlöcherten, von Sicherheitsnadeln zusammengehaltenen T-Shirt trug er eine schwere Lederjacke mit abgewetzten Ärmeln. Der Schulterbereich war gespickt mit Nieten, das Revers durchstochen von einer Sammlung greller Buttons mit mysteriösen Akronymen. DK, PIL, SxE, GBH. Darunter trug der Fremde ein kariertes Holzfällerhemd, um den Bund seiner Cargohose geknotet wie ein Schottenrock. Mit versteinerter Miene marschierte er auf Army-Stiefeln an Paul vorbei.

      Paul konnte seine Augen nicht von dem ungewohnten Anblick losreißen. Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment meinte Paul, in den graublauen Augen des Jungen eine immense Abneigung zu lesen. Nicht so sehr gegen ihn persönlich, eher spürte er eine Art allumfassende Verneinung, als verabscheute der seltsame Neuankömmling alles und jeden um sich herum.

      Dann sah der Junge wieder geradeaus und ging vorbei. Paul rammte Mark einen Ellbogen in den Hüftspeck.

      "Was ist?" Mark hatte die Suche nach dem Bremsenreiniger noch immer nicht eingestellt. Unbeirrt wühlte er im Spind, als gäbe es irgendwo im hintersten Winkel ein unentdecktes Geheimfach.

      "Hast du gesehen?"

      "Was denn??"

      "Der Typ eben. Mit dem Irokesenschnitt."

      "Nein. Wer an der Apollo trägt einen Irokesenschnitt?"

      "Eben."

      Mark reckte seinen Hals, aber der Junge war bereits verschwunden.

      "Ich seh' nichts."

      "Vergiss es."

      Paul durchlebte eine Sekunde des Zweifels. Mark hatte recht – wer an der Apollo High traute sich, so rumzulaufen? Der Junge sah aus wie ein finsterer Paradiesvogel und passte besser in eine der Punkbands, deren Videos spät abends auf MTV liefen. Schon zu Beginn der nächsten Schulstunde hatte Paul die Begegnung vergessen.

      Dienstag, 31. Oktober

      Liebes Tagebuch,

      dies wird ein besonders langer Eintrag, denn heute ist ein besonderer Tag. Der schlimmste Tag des Jahres - Halloween.

      Es ist der Tag, an dem sie die Grenze zu meinem Privatleben überschreiten und bis an meine Haustür vordringen. Nicht einmal vor meiner letzten Zuflucht schrecken sie an diesem Abend zurück. Und wenn man ihnen keine Geschenke macht, wird man sie nie wieder los.

      Den Unterricht lasse ich heute ausfallen. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Heute morgen bin ich noch vor dem Frühstück zur Tankstelle am Ende der Straße und habe zwei große Plastiktüten voll Süßigkeiten gekauft. Keine der billigen Mischpackungen, die größtenteils farbstoffgeschwängerte Zuckerkegel enthalten. Nein, dieses Jahr gibt es nur feinste Markenware. Reese's Peanut Butter Cups. Hershey Kisses. Und die unverschämt teuren Mini-Schokoladenriegel. Mars, Snickers, Milky Way.

      Neben die Haustür habe ich einen beleuchteten Plastikkürbis gestellt. Er wird sie milde stimmen. Wenn man ihnen gibt, wonach sie verlangen, wird man sie schnell wieder los. Tür auf, eine Handvoll Süßigkeiten in die Beutel, Tür zu. Meine Medikamentendosis habe ich verdoppelt, zwei Smiley-Pillen statt einer. Ich bin perfekt vorbereitet.

      Liebes Tagebuch, draußen sind dunkle Wolken aufgezogen, als wolle die Natur meine Gedankenwelt parodieren. Das lange Warten hat begonnen. Meine Gedanken beginnen zu kreisen. Gerade musste ich an die Botschaft denken, die in der Schule an der Wand gegenüber des Trinkbrunnens geschrieben stand.

      Der Bogeyman wird dich holen.

      War es Drohung oder Warnung? Nein, ich will es gar nicht wissen. Wie es der Doc bei Grübelattacken empfiehlt, versuche ich, mich mit Ersatzhandlungen abzulenken. Irgend etwas, nur nicht Nichts tun. Es erfordert große Anstrengung, auf etwas zu fokussieren, wenn im Hinterkopf der Abend lauert.

      Eine Weile habe ich mit Pasteur geredet, dann wurde es ihm langweilig und er verließ das Haus. Wer weiß, was er da draußen treibt. Seit wir hier eingezogen sind, hat er sich verändert. Alles scheint ihm zuviel. Unser Verhältnis verschlechtert sich von Tag zu Tag

      Danach habe ich in der Formelsammlung rumgeblättert, bis die Symbole anfingen, vor meinen Augen zu tanzen.

      Ich glaube, das Bad könnte mal wieder eine Reinigung vertragen. Nicht, dass es schmutzig wäre, aber man weiß nie, welche Keime sich in den Ecken und Kanten einnisten. Die Angst wegschrubben - vielleicht funktioniert das?

      Ich werde noch eine Pille nehmen und versuchen, ein wenig zu schlafen.

      Das Kreischen der Türklingel riss mich aus einem traumlosen Schlaf. Ich lag auf der Couch, umgeben von Dunkelheit. Mein Gott, wie viel Zeit war vergangen? Benommen stolperte ich zum Fenster, eine Hand bereits am Korb mit den Süßigkeiten, in Erwartung singender Kinder vor der Haustür.

      Liebes Tagebuch, du wirst nicht glauben, was dort draußen im Schein der Kürbislampe stand. Zwei Meter groß und mit breiten Schultern wie ein Footballspieler in Schutzkleidung – das war alles andere als ein Kind. Nicht einmal ein Mensch. Es war der Bogeyman höchstpersönlich, gekleidet in einem Overall, so schwarz, dass das narbige, kreidige Gesicht darüber zu schweben schien. In der Hand hielt er ein Fleischermesser, die Klinge lang wie ein Lineal. Die Prophezeiung auf den Schulkacheln hatte sich erfüllt.

      Hinter der Jalousie lauschte ich meinem hämmernden Herzen und erwartete das nächste Klingeln. Doch der Bogeyman stand nur da, regungslos. Die Messerklinge reflektierte oranges Licht. Dann drehte er sich auf seinen schweren Stiefeln um und ging betont langsam die Auffahrt. Kurz bevor er die Straße erreichte, sah er über seine Schulter, mir direkt in die Augen. Die Klinge funkelte. Ich verstand die Nachricht: dies war nicht sein letzter Besuch.

      Dann bemerkte ich etwas seltsames. Meine Angst, mein dunkler Begleiter, der mich nie allein ließ, verschwand. Und mit ihr auch die Angst vor der Angst. Noch nie hatte ich mich so wach gefühlt.

      Voll Tatendrang ging ins Badezimmer. Auf dem Boden standen Flaschen mit Reinigungsmitteln. Schmutzige Wischtücher hingen zum Trocknen über dem Rand der Badewanne. Die Wanne selbst strahlte weißer als Weiß – offenbar hatte ich den Großteil des Nachmittags damit verbracht, sie zu putzen. Ich machte mich ans Aufräumen. Als ich die Plastikflasche mit dem Rohrreiniger zurück ins Regal stellte, fiel mir auf der Rückseite das Warnsymbol ins Auge, ein Totenschädel in leuchtoranger Raute. Einen Impuls folgend nahm ich die Flasche mit ins Wohnzimmer, stellte sie vor mich auf den Tisch Der Schädel bewegte sich. Zuerst hielt ich es für ein willkürliches Zucken der Augenhöhle, aber dann verstand ich. Er zwinkerte mir zu. Ein Signal der Ermutigung. Der Schädel wurde zum Verbündeten im Kampf gegen den Bogeyman.

      Ruckartig wanderten die Augenhöhlen nach oben, Richtung Schraubverschluss. Ich legte einen fragenden Finger auf den Plastikdeckel. Der Schädel nickte Bestätigung. Tu es!

      Ich drehte den kindergesicherten Deckel vom Rohreiniger. Die Flasche war bis zur Hälfte mit einem Granulat gefüllt, funkelnde Perlen, die aussahen wie versilbertes Halloween Candy.

      Der Totenkopf nickte ein weiteres Mal, diesmal drängender. Ich befand mich auf dem richtigen Weg. Ich schüttete eine esslöffelgroße Menge des Granulats in meine Handfläche, unsicher, was ich damit anfangen sollte.

      Selbst ohne Augen gelang es dem Schädel, genervt auszusehen Er drehte den Kopf Richtung Haustür. Ich folgte seinem leeren Blick zu dem Bastkorb mit den Schokoriegeln, die verteilbereit auf der Kommode warteten. Endlich begriff ich meine Aufgabe.

      Ich schüttete ein paar der Silberkügelchen vor mich auf den Glastisch, schob sie zu einer Kette zusammen und holte aus dem Bad mein Maniküreset. Auf dem Rückweg stoppte ich beim Candy-Körbchen. Ich entschied mich für einen Mars-Riegel.

      Mit der Nagelschere war es ein Leichtes, die schwarze Verpackung an ihrer Naht aufzutrennen. Feierlich platzierte ich den freigelegten Schokoriegel vor mir wie einen Laborfrosch auf dem Seziertisch. Der Schädel