Leyendecker. Thomas Stange. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Stange
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847630111
Скачать книгу
Vorsichtig, nach jedem Schritt einhaltend, trat er näher, begann, das rätselhafte Objekt in Augenschein zu nehmen. Eine Mappe, von ihrer Größe dazu geeignet, eine beträchtliche Anzahl von Schriftstücken aufzunehmen, tatsächlich wohl auch gut gefüllt, aufwändig bezogen mit dunkelbraunem Leder, vor unbeabsichtigtem Öffnen durch zwei kräftigen Lederschnallen gesichert. Leyendecker schien nach der Mappe greifen zu wollen, streckte seine Hände aus, hielt inne, zog sie abrupt wieder zurück. Wenn du diese Akte aufnimmst, wenn du sie erst in Händen hältst, wirst du sie auch öffnen. Aber wenn du sie öffnest, wird nichts mehr so sein wie früher. Diese Erkenntnis, gleich einer Eingebung in seinem Bewusstsein aufgeblitzt, ließ Leyendecker nicht nur in seiner Bewegung erstarren, sondern ihn vor dem drohenden Schicksal und seinem Schreibtisch zurückweichen. Er fand sich in seinem Lehnsessel wieder, die Armlehnen mit den Händen krampfhaft umklammernd. Einige Minuten saß er so da. Dann ging eine Verwandlung in ihm vor. Leyendeckers Gesichtszüge waren leer geworden. Seine um die Lehnen gekrampften Hände öffneten sich, fielen herab. Wie in Trance oder als ob jemand Fremdes seine Bewegungen steuerte, erhob sich Leyendecker, ging hinüber zu seinem Schreibtisch, nahm die Mappe, zog entschlossen die Lederriemen auf, klappte den Deckel zur Seite, öffnete die Seitenteile und starrte dann auf das zuoberst liegende Dokument. Es ist das abschließende Protokoll einer Urteilverkündung des französischen Spezialgerichts zu Mainz, abgefasst in deutscher Sprache, datiert auf den 23.Tag des Monats November im Jahre des Herren 1803. An diesem Tage werden zwanzig Männer zum Tode durch das Fallbeil verurteilt. Einer von ihnen heißt Johannes Bückler mit Namen, besser bekannt als der Schinderhannes.

      Lange hat Leyendecker bewegungslos da gestanden, hat auf seinen Schreibtisch hinunter gestarrt, auf das Protokoll, auf diesen einen Namen. Johannes Bückler. Damit hatten sich alle die Gerüchte von damals und gleichzeitig Leyendeckers schlimmste Befürchtungen bestätigt. Hannes war hingerichtet worden. Allerdings, wie es dazu gekommen war, dass er den Greifern in die Hände fallen konnte, darüber gab das Protokoll keine Auskunft. Oder doch? Leyendecker legte das oberste Blatt beiseite, nahm das nächste, überflog es, legte es zur Seite, nahm das nächste und so weiter, bis zum letzten Schriftstück. Er fand zwar nicht, was er suchte; dennoch, diese Papiere legten über nichts weniger als das Schicksal von 68 Menschen Zeugnis ab, viele davon Gefährten von Leyendecker, manche Freunde sogar. Leyendecker nahm die beiseitegelegten Dokumente wieder auf, ordnete sie, begann, sie nun erneut durch zu sehen, diesmal genauer. Das Bild, das daraufhin von den Geschehnissen des Sommers 1803 vor seinen Augen entstand, wurde zwar deutlicher, rundete sich jedoch nicht ab, enthielt vielmehr Lücken, warf mehr Fragen auf, als es Antworten enthielt. Ein Teil der Bande war tatsächlich durch Leyendeckers Verrat hochgegangen. Einige der Männer waren nach Saarbrücken verbracht und dort abgeurteilt worden, andere saßen zu diesem Zeitpunkt noch in Mainzer Kerkern und erwarteten ihren Prozess. Von einem bestimmten Tag an, Mitte des Monats Juni, erhöhte sich ihre Zahl jedoch schnell Tag um Tag, was für Leyendecker den Schluss nahe legte, dass jemand, der viele Zusammenhänge kannte, viel wusste, also in der Bandenhirarchie weit oben gestanden hatte, ein umfangreiches Geständnis abgelegt haben musste. An diesem Punkt begannen sich Leyendeckers Gedanken zu überschlagen. Hannes? Hannes sollte gestanden, alle seine Gefährten, seine besten Freunde ans Messer geliefert haben? Nein, Hannes und er, Leyendecker, hatten einen anderen Plan gehabt. Also kaum glaubhaft. Doch wenn nicht Hannes, wer dann? Vielleicht der Müllerhannes? Nein, der wusste zwar Einiges, aber beileibe nicht genug. Vielleicht der Scheele Franz? Der war mit Vielem vertraut. Was hatte sie ihm wohl geboten, damit er auspackte? Straffreiheit? Straffreiheit. Straffreiheit!

      Leyendecker hatte nun wieder begonnen, die Seiten hastig durch zu blättern. Hannes hatten sich mit seinen beiden treuen Paladinen, Christian Reinhard und Christoph Erhard auf die Flucht begeben. Diese beiden Namen waren es, die Leyendecker nun in den Prozeßprotokollen suchte. Auf Christian Reinhard, auch Schwarzer Jonas genannt, stieß er nach kurzer Zeit, Christoph Erhard konnte er in den Akten jedoch nicht finden, Christoph Erhard, dem Hannes so viel Vertrauen geschenkt hatte.

      Erhard war der Verräter. War Erhard der Verräter? Hannes war geschnappt worden und er scheinbar nicht. Zufall? Vielleicht. Oder eher doch Resultat eines wohlausgedachten Plans? Oder eines Geständnisses? War Hannes, der sich mit Leyendeckers Hilfe zum Verräter seiner Bande machte, selbst zum Verratenen geworden? Wäre Christoph Erhard in der Lage gewesen, einen solchen Plan zu schmieden? Leyendecker bezweifelte es, so, wie er den Christoph kennen gelernt hatte. Der war treu, willig, Hannes zutiefst ergeben und schreckte vor keiner schmutzigen Arbeit zurück. Der würde Hannes eher beschützt haben, als dass er ihn verriet. Und trotzdem. Warum war er nicht verhaftet worden? Oder doch? Leyendecker überlegte, eine Szene entstand vor seinen Augen. Christoph Erhard erledigt gerade einen Auftrag, als Hannes und die anderen hochgenommen werden, ist einfach nicht da, kommt womöglich grad hinzu, als sie Hannes abführen. Dann eine andere Szene. Christoph Erhard, der sich längst abgesetzt, Hannes und die anderen Leute hinter sich gelassen hat. Noch eine Szene. Christoph Erhard, der in einem dunklen Verhörzimmer sitzt, um Gnade winselt und auspackt, alles, was er weiß. Leyendecker schüttelte den Kopf und mit ihm die Bilder aus seinen Gedanken. Du weißt nichts, du ahnst nichts, du spekulierst nur, sagte er sich.

      In der Zwischenzeit war Leyendecker in die Prozessprotokolle völlig vertieft, hatte seine Angst vor der Akte, die Angst vor ihrem Inhalt, die Frage, wie dessen Kenntnis sein Leben verändern würde und sich selbst vollkommen vergessen. Halb in seinem Unterbewusstsein nahm er wahr, dass es immer dunkler um ihn herum geworden war. Ohne darüber nachzudenken stand er auf, hinkte zum Salontisch, nahm die dort stehende Petroleumlampe, hinkte zum Kamin, entzündete einen Span an der nur noch schwachen Glut, entzündete damit die Lampe, warf den Span in den Kamin, schlurfte zurück zum Schreibtisch, stellte die Lampe ab, setzte sich, war sich gar nicht bewusst geworden, was er tat, war bereits wieder in der Vergangenheit entschwunden. Er suchte nach einem Hinweis, unter welchen Umständen Hannes verhaftet worden war und begegnete stattdessen einer Vielzahl von Hannes Anschlägen, wie dieser sie nannte. Die Erpressung von Hallgarten im März 1802, ein Plan, den Leyendecker selbst noch entwickelt hatte, durchgeführt zu einer Zeit lange nach seiner Abreise ins Hessische. Der Pächter des Montforter Hofes hatte kräftig zahlen müssen. Dann die Sache auf dem Neudorfer Hof im Februar. Die war von Leyendecker ebenfalls als Erpressung geplant worden, ging aber schief. Der Pächter wollte nicht zahlen, machte Krakeel und wehrte sich. Das Mainzer Gericht bezeichnete das als gemeinschaftlichen bewaffneten Raubüberfall. Pech. Dann im Januar die Kratzmühle bei Merxheim. Damit hatte Leyendecker nichts zu tun. Hannes hatte wieder einmal keine Geduld gehabt, hatte zugeschlagen, ohne lange nach zu denken. Wenig Beute und einen Überfall mehr auf dem Konto. Alles Taten der letzten Tage vor der Flucht. Hannes war zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich unruhig gewesen. Im Herbst des voran gegangenen Jahres hatte es hintereinander zwei Fehlschläge gegeben. Einen in Waldgrehweiler, einen in Obermoschel. Die Beute war kaum nennenswert gewesen, dafür hatten sie aber ordentlich eins auf den Pelz gebrannt bekommen. Dass die Überfallenen und die Bürger sich wehrten, war für Hannes etwas völlig Neues gewesen, so was kannte er noch nicht, das machte ihn nervös.

      Für Leyendecker war das Studium der Protokolle, die laut Hannes‘ angeblichem Geständnis die Taten der Bande in dürrer Amtssprache verzeichneten, gleichsam zu einer Reise durch seine eigene Geschichte geworden. Während sein Blick, seine Aufmerksamkeit von Anklagepunkt zu Anklagepunkt wanderte, hatte er begonnen, im Geiste ein „war ich“ oder „war ich nicht“ dahinter zu setzen. Die größten Erfolge, dachte sich Leyendecker unweigerlich, hat Hannes in der Zeit gehabt, in der er ausschließlich auf mich gehört hat, nämlich vom Sommer 1800 bis zum Sommer 1801. Vorher war er doch nichts anderes als ein einfacher Wegelagerer und Straßenräuber gewesen, danach drohte er, zum Mordbuben zu verkommen. Natürlich hatte es einige Zeit gebraucht, bis Hannes ihm, Leyendecker, richtig vertraute. Wie lange war das eigentlich? Leyendeckers Erinnerung reist weiter rückwärts. Kennen gelernt hast du ihn ...wann war das? Richtig, im Spätsommer 99. Dann begann er, sich eine richtige Bande zusammen zu suchen und du wurdest Mitglied. Dann hieß es, dich zu bewähren, dann merkten sie, dass du der einzige warst, der richtig Lesen und Schreiben konnte, dann kamst du selbst auf die Idee mit den Passierscheinen und den Erpresserbriefen, von denen Hannes so begeistert war. Johannes-durch-den-Wald, dieser Name ist auch auf deinem Mist gewachsen...

      Mit einem Schlage ist Leyendecker zurück in der Gegenwart. Der gegenwärtigen Gegenwart. Braucht einen Moment, um sich klar zu werden, das er an seinem