Nur mühsam ist es Leyendecker gelungen, seine allgegenwärtige Besorgnis in einen tiefliegenden Winkel seiner Seele zu verbannen. Er steht nun vor seinem Schreibpult, eine leere Seite Papier vor sich, das geöffnete Tintenfass und die schreibbereite Feder zur Rechten und blickt durch das kleine Fenster hinaus in den regnerischen Novembernachmittag, hinaus in den von hohem Gras und seit Jahren nicht mehr beschnittenen Obstbäumen und Sträuchern bestandenen Garten.
Ich sollte freien Blick haben, denkt er sich. Es wäre besser, wenn ich den Garten durchblicken könnte, denn wenn, dann kommen sie durch den Garten und nicht über die Straße, denn die lässt sich zu gut einsehen.
Du fängst an, unter Verfolgungswahn zu leiden, sagt sich Leyendecker. Was hat sich denn geändert? Du hast angefangen, deine Erinnerungen aufzuschreiben. Was ist schon dabei? Was du geschrieben hast, hast du niemandem gezeigt und hast es niemandem erzählt. Über die Sachen von damals ist längst das Gras gewachsen und außerdem, was hast du schon Schlimmes getan?
Du warst dabei und hast die Briefe geschrieben und hast ein paar der großen Sachen geplant, meldet sich Leyendeckers Gewissen. Hättest du dich dann nicht rechtzeitig auf die Reise begeben, läge auch dein Kopf seit vielen Jahren im Rhein.....
5. Kapitel
Es war im Frühjahr des Jahres 1801 gewesen. Der Zusammenhalt der Gruppe hatte merklich nachgelassen. Immer öfter stießen sie bei ihren Unternehmungen auf erbitterten Widerstand. Das Geschäft war gefährlicher geworden, Erfolge mussten oft teuer erkauft werden. Hannes wurde in dieser Zeit immer rastloser.
Leyendecker, sagte er, kundschafte was aus. Leyendecker, du musst wieder ein paar Briefe schreiben. Leyendecker, wir brauchen was Sicheres, die Leut‘ sind unzufrieden, die Leut‘ folgen mir nicht mehr....
Und Leyendecker schrieb Briefe. Schutzbriefe, Druckbriefe. Johann-durch-den-Wald und drei Kreuze darunter und ab dafür. Alles musste schnell gehen. Heute der Brief, morgen der Besuch. Der Brief war Leyendeckers Sache, der Besuch die von Hannes und den Männern. Trotzdem wusste man nie, ob die nicht schon von einer Horde bewaffneter Bauern erwartet wurden. Oder von den Feldgendarmen. Denn die Franzosen hatten ihren Druck links des Rheins erheblich verstärkt. Das hatte Hannes Respekt eingejagt. Und dann kamen die ersten Verhaftungen.....
Leyendecker, hatte Hannes ein paar Wochen zuvor gesagt, wir dürfen nicht mehr warten, wir müssen Schluss machen. Sonst geht die ganze Bande hoch. Und ich und du mit ihr.
Das geht schief, hatte Leyendecker geantwortet. Sie werden dich verraten, nur um ihre eigene Haut zu retten. Und wenn es nicht alle sind, so genügt doch einer, um dich ans Messer zu liefern. Dabei würde doch fast jeder von ihnen um den Preis der Straffreiheit seine Seele dem Teufel verkaufen.
Die Franzosen, hatte Hannes nach einer nachdenklichen Pause gemeint, suchen doch nach der Bande. Also geben wir ihnen die Bande. Stellen wir sie zufrieden...
Leyendecker hatte wieder einen seiner Briefe geschrieben. Nach Mainz. Diesmal jedoch anonym, ohne Hannes Unterschrift. Schon vorher hatte er seine Siebensachen gepackt und sich auf Hannes Weisung hin per Postkutsche auf den Weg nach Oberhessen gemacht. Er entzog sich auf diese Weise dauerhaft dem Zugriff der Franzosen. Hannes hingegen wollte später zusammen mit seinem Julchen und seinen beiden anderen engen Gefährten, dem Erhard-Christoph und dem „Schwarzen Jonas“ und dessen Frau nachkommen, in das Versteck, das auszukundschaften sich Leyendecker zuvor auf den Weg gemacht hatte. So konnte man die Reaktion der Franzosen auf die Verhaftungen aus sicherer Entfernung abwarten.
Was war dann falsch gelaufen? Die Nachrichten, die Leyendecker in seinem hessischen Exil erreichten, waren spärlich und widersprachen sich zumeist. Eine Reihe von Bandenmitgliedern waren tatsächlich verhaftet, in einzelnen, schnellen Prozessen abgeurteilt und hingerichtet worden. Und auch von Hannes Verhaftung war die Rede. Doch wie konnte das sein? Der Plan war doch so präzise ausgearbeitet. Von einem Aufsehen erregenden Prozess war die Rede und von einem Todesurteil. Diese rätselhaften Nachrichten hatten Leyendecker im Laufe des Jahres 1803 erreicht. Hatte Hannes wieder einmal nicht auf ihn, Leyendecker, gehört? Hannes war ein herausragender Bandit, aber ein ungeduldiger Planer. So kannte ihn Leyendecker seit jeher.
Er selbst hatte mit seiner Vergangenheit sehr schnell gebrochen. Leyendecker lebte still vor sich hin, bewahrte eine Aura der Unnahbarkeit - aber nicht ein Tag verging, ohne dass er über sein vorheriges Leben nachgedacht hätte.
Dann fingen die Träume an, die Alpdrücke, das angstvolle Erwachen. Es geht schon vorbei, hatte sich Leyendecker gesagt, ich muss nur lange genug abwarten, fern von allem, was passiert ist. Aber es ging nicht vorbei, fast zehn Jahre lang ging es nicht vorbei. Leyendecker saß fest, fest in seinem letzten Auftrag. Mit seinen Erinnerungen an lang vergangene Zeiten, glücklichere Zeiten, Zeiten mit Hannes… Aber auch das half nichts, die Träume blieben ihm, diese furchtbaren Träume.....
6. Kapitel
Lange hat Leyendecker so dagestanden. Bewegungslos. Seine Gedanken sind abgeschweift, haben sich immer mehr verloren. Jetzt drängt sich ein gewohntes, monotones Geräusch in sein Bewusstsein. Das unterschlächtige Mühlrad ist angelaufen, der Müller hat das Mahlwerk in Betrieb genommen. Damals, 1801, musste Leyendecker den Müller nicht lange bitten, um die Mühle erwerben zu können. Nicht für sich selbst hatte Leyendecker dieses Geschäft getätigt, sondern –natürlich- für Hannes.
Sie war recht hübsch gelegen, die Mühle am Hardtbach, nahe vor den Toren des kleinen Marktfleckens, vor allen Dingen weit, weit entfernt vom üblichen Betätigungsgebiet der Bande. Einen Bannkreis von mindestens zwei Tagesreisen hatte Hannes bestimmt. Leyendecker hatte sich daraufhin auf die Suche begeben und dieses ideale Versteck in Oberhessen ausfindig gemacht. Das Investment hätte sich rentiert gehabt, wäre Hannes und sein kleiner Trupp plangemäß aufgetaucht. Seit beinahe zehn Jahren dient die Mühle nun Leyendecker als eine ständige Zuflucht, die sich in der Zwischenzeit zu einem Alterssitz entwickelt hat. Der Müller besaß die Mühlenkonzession und ahnte von allem nichts. Für ihn war Leyendecker der Eigentümer. Von Hannes hatte er niemals etwas gehört und ihn nie zu Gesicht bekommen. Nie einen Mitwisser mehr als nötig, hatte Hannes immer gepredigt. Und genau so hat es Leyendecker sein Leben lang gehalten.
Gleichmäßig dringt das Knirschen des Mahlwerks an Leyendeckers Ohr, scheint seine Gedanken zu versammeln und anzutreiben. Er steht immer noch an seinem Pult, greift nun zur Feder, taucht sie ein, hebt die Hand, wie um zu schreiben. Doch etwas lässt ihn wie zu Eis erstarrt innehalten. Ein Gedanke, der gleich einem unerwarteten Blitz aus der hintersten Ecke seines Gehirns direkt in die Muskeln seiner rechten Hand fährt. Diese Bewegung des Schreibenwollens, wie oft hat er sie im Zusammenhang seines Manuskripts ausgeführt, begonnen und vollendet. Warum bleibt Leyendecker nun in dieser Bewegung stecken? Ein Gedankenzusammenhang ist es, unbemerkt präsent, etwas unbedacht Gedachtes, was seine Bewegung unvermittelt zum Stillstand kommen lässt.
Langsam, müde fast, legt Leyendecker die Feder wieder beiseite.
Er hat sich vor seinem Schreibpult stehen sehen, vor dem Schreibpult in seiner kleinen Schusterei in Lauschied, die er mit seinen damals siebenundzwanzig Jahren besessen hatte. Das Pult war sein ganzer Stolz und das Produkt dreijährigen unermüdlichen Sparens gewesen.
Das erste Mal, dass Leyendecker eines solchen Pults ansichtig wurde, war in Mainz. Dorthin musste er ziehen, um die Erlaubnis zu erwerben, sich als Schuster im eigenen Namen verdingen zu dürfen. Der Code Napoléon ließ es nicht zu, dass ein Jeder nach seinem Gutdünken ein Gewerbe ausüben