Nur ein halber Kanten Brot, dachte Leyendecker selig, ein halber Kanten bringt die neue Hoffnung für den nächsten Tag. Einen zweiten halben Kanten hast du noch. Den musst du dir aufheben. Das ist die Hoffnung für Übermorgen.....
Nur wenige Tage später hatte die Demütigung begonnen, für Leyendecker zum Ausweg zu werden. Ein wenig Brot, ein Stückchen Speck, ein paar Kreuzer waren doch allemal einen kurzen Moment der Selbstaufgabe wert. Das Überleben hatte seinen Preis, doch Leyendecker war bereit, ihn zu zahlen. Einige wenige Nächte verbrachte er noch in Heuschobern und Feldscheunen, danach aber unzählige Nächte unter freiem Himmel. Denn die Bauern wurden immer wachsamer, fürchteten Räuber und Diebsgesindel. Mehrfach hatte mitten in der Nacht ein Bauer oder ein Knecht mit der Mistgabel oder einem Knüppel in der Hand vor ihm gestanden, um Leyendecker aus seiner freien Unterkunft zu vertreiben. Einmal war sogar eine Feldstreife direkt auf sein Nachtquartier losgezogen, so dass Leyendecker in aller Hast das Weite suchen musste.
Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, wartet auf Leyendecker dann die zweite Stufe der Demütigung. Es war der Tag, an dem seine Bitte nach etwas Essen oder ein wenig Geld zum ersten Mal abgeschlagen wurde, der Tag, an dem seine bittend ausgestreckte Hand leer blieb. Wir haben nichts für dich, nichtsnutziger Bettler, hatten sie gesagt. Sieh zu, dass du fort kommst. Und Leyendecker sah zu, dass er fort kam. Nichtsnutziger Bettler. Dieser Ausdruck sank tief in Leyendeckers Selbst hinab. Tief in sein Herz, in seine Seele. Zu wissen, dass man bettelt, ist eine Sache. Eine Sache, die man mit sich selbst ausmachen muss, eine Sache, die einem noch ein kleines Stück Ehre belässt. Jedoch von Fremden als Bettler gescholten zu werden, als jemand, der zu nichts nutze ist, das schlägt eine tiefe Wunde.
Wie viele Wunden kann die Seele eines Mannes ertragen, bis sie schließlich zugrunde geht? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem alles, was im Leben jemals Bedeutung und Wert besessen hat, ausgelöscht ist?
8. Kapitel
Seit zwei Stunden kauert Leyendecker nun schon hinter dem alten, halb verfallenen Viehstall, von dem aus man das großzügige Bauernhaus, die Scheuer und die ganze Hofreite so gut überblicken kann. Es ist eine klare Neumondnacht, ideal für Leyendeckers Vorhaben. Vor einer Stunde hat der Bauer zusammen mit seinem Knecht die Abendronde gedreht. Das hat eine ganze Zeit gedauert, eine knappe halbe Stunde, schätzt Leyendecker. Danach sind beide zusammen ins Haus gegangen. Kurze Zeit später wurde in der Knechtkammer im Obergeschoss Licht entzündet. Das bedeutete, dass der Knecht im Begriff war, zu Bett zu gehen. Das Licht in der Wohnstube brannte noch, also saßen Bauer und Bäuerin noch zusammen. Leyendecker stellte sich auf ein gutes Stück Wartezeit ein. Immer wieder wanderte sein Blick dabei zu dem kleinen Scheunenanbau, in dem der Bauer seine Kaninchen hielt. Auf die oder doch zumindest auf einige von ihnen hatte Leyendecker es abgesehen. Es würde das erste Mal sein, dass Leyendecker sich etwas nahm, ohne vorher lange zu fragen.
Den Ort und den Gegenstand seines Trachtens hatte er sich wohlüberlegt erwählt und auskundschaftet. Stahl man einen Hammel von der Weide, konnte man ihn nur verkaufen. Dabei lief man in Gefahr, der Feldstreife aufzufallen. Zum Schlachten und selber Essen war ein Hammel für einen Wanderer zu groß. Hühner machten ein Riesenspektakel, wollte man sie sich greifen. Das war also auch nichts Rechtes. Kaninchen aber, die waren ideal. Machten keinen Lärm, waren Verpflegung und Kapital zugleich.
Leyendecker schreckte aus seinen Gedanken hoch. Das Licht in der Knechtkammer war ausgegangen. In kurzer Zeit würde der Knecht schlafen. Jetzt verlosch auch das Licht in der Wohnstube, dann erhellt sich das Fenster eines anderen Zimmers. Die Schlafstube, schloss Leyendecker. Hier war es nur ganz kurz hell, danach lag das gesamte Gebäude im Dunklen. Ein halbes Stündchen warte ich noch, beschloss Leyendecker. Der Bauer hielt sich keinen Hofhund. Schlecht für den Bauern, gut für mich, dachte er.
Schließlich zog er den kräftigen Jutesack hervor, den er sich vorsorglich organisiert hatte. In einem der Dörfer, durch die Leyendecker vor ein paar Tagen gekommen war, vermisste ein Müller jetzt einen Futtersack...
Vorsichtig schleicht Leyendecker nun durch die Dunkelheit. Er hat sich alles eingeprägt. Richtung, Entfernung, mögliche Fußangeln, wie der Riegel der Stalltüre zu betätigen ist. Nur, wie es im Kaninchenstall aussehen wird, das weiß er nicht. Drinnen ist er noch nicht gewesen. Schnell hinkt er von seinem Beobachtungsposten zu der großen Scheuer hinüber. Er versucht dabei, sich gleichmäßig zu bewegen. Eine gleichmäßige Bewegung fällt weniger auf als eine plötzliche. Wo hat er das nur gehört… ? Jetzt steht er mit dem Rücken zur Scheunenwand, jetzt an der Türe zum Kaninchenstall. Klapp, die Tür ist auf. Leyendecker dringt ein warmer Geruch nach Heu entgegen, gleichzeitig der Dunst altgewordener Rüben und welken Salats. Leises Kratzen, fast unhörbare Bewegungen verraten Leyendecker, wo die Ziele seines Tuns zu finden sind. Wenn es bloß nicht so dunkel wäre! Hier drinnen ist es dunkler als dunkel, und Licht ist in Leyendeckers Plan nicht vorgesehen. Mit ausgestreckten Händen tastet er sich vor, spürt Käfiggitter an seinen Händen, sucht nach der kleinen Türe, die dort irgendwo sein muss, findet sie, sucht den Riegel, erkennt den Mechanismus, mit dem er funktionierte, öffnet ihn, öffnet die Tür, tastet in dem Käfig herum, spürt einen schmerzhaften Stich.....verdammt, das Vieh hat ihn gebissen, tastet weiter, ertastet weiches Fell, greift zu, greift dann mit beiden Händen zu, wird nochmals gebissen, spürt ein Sträuben, zieht kräftig an, klammert das Gegriffene mit einer Hand fest, schüttelt mit der anderen Hand den Jutesack auf, versenkt das Gegriffene in dem Sack, der Sack pendelt wild hin und her, etwas fällt polternd zu Boden, nichts wie hinaus hier, denkt sich Leyendecker, hinkt mit zwei Schritten ins Freie, über die kurze Wiese hinter den alten Viehstall, in dem Moment, wo in der Schlafstube des Bauernhauses das Licht angeht, läuft hinkend den Abhang hinab, stolpert, fällt hin, dreht sich mehrmals um die eigene Achse, da ist der Hohlweg, nimm die Beine in die Hand, Leyendecker, und ist in diesem Moment in der Dunkelheit entschwunden.....
So etwas machst du nie wieder, schwor sich Leyendecker. Nie wieder wirst du nehmen, was dir nicht gehört, gerade wie ein gewöhnlicher Tagedieb, es fehlt nicht viel, und du wirst Wegelagerer, schalt er sich. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht hatten ihm den Schreck gehörig in die Glieder getrieben. Darüber hinaus hatten sie ihn zur Besinnung kommen lassen, ihn dazu gebracht, sich die Schwelle bewusst zu machen, an der er sich befand. Blieb der nächtliche Diebstahl eine Einzeltat, könnte sich Leyendecker nach einiger Zeit wieder zur Gesellschaft der ehrbaren Bürger zählen. Stahl er weiter, wäre er für immer ein Gesetzloser, ein Ausgestoßener......
Noch immer zappelt an diesem späten Vormittag seine in ihrem Jutesack sorgsam eingeschlossene Beute. Leyendecker war bis zur Morgendämmerung marschiert und hat sich dann abseits der alten Handelsstraße in den tieferen Wald zurück gezogen. Seit gestern hat Leyendecker nichts mehr gegessen. Nun vermeldet ihm sein Magen mit umso schmerzhafterem Druck, dass es Zeit wäre, Nahrhaftes zu sich zu nehmen.
Na, mein kleiner Freund, wollen doch mal sehen, wie du aussiehst.
Vorsichtig öffnet Leyendecker den Jutesack. Sein Gesicht verzieht sich zu einer freudigen Grimasse, als er des fetten Langohrs ansichtig wird, das er sich da gegriffen hat.
Ein schönes, dichtes Fell hast du, denkt sich Leyendecker, das wird mir bestimmt einige Kreuzer einbringen. Und dein Fleisch wird mich die nächsten drei Tage satt machen.
Einen Moment überkommt Leyendecker so etwas wie Trauer, das er seine Beute dafür ins Jenseits befördern muss, dann denkt er jedoch an die beiden Bisse, die