Leyendecker. Thomas Stange. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Stange
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847630111
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an der Mühle vorbeikommenden Reisenden bot, lässt sich heute nur schwerlich nachvollziehen, brannte die alte Mühle doch mehrfach ab - zuletzt Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - wurde jedes Mal wieder aufgebaut, veränderte dabei Charakter und Aussehen.

      Doch all diesen Einwirkungen von Zeit und Schicksal zum Trotz lässt sich die Hardtmühle noch heute finden. Ihr Mühlrad ist schon vor langer Zeit abgebaut worden, kaum etwas erinnert noch an ihre einstmalige Bedeutung. Wer sich die Zeit nimmt und ein wenig genauer hinschaut, kann noch immer den alten Diebsgraben am Waldrand gegenüber erkennen, der es lichtscheuen Genossen früherer Zeiten so trefflich ermöglichte, ungesehen zur Mühle zu gelangen. Oh ja, die Hardtmühle hat in der Tat im Laufe ihrer langen Vergangenheit so manchem Gesetzlosen zeitweilig Unterschlupf und Sicherheit geboten. So manche Tat ist in ihr geplant, so manche Flucht durch sie erst ermöglicht worden.

      Und so liegt sie heute noch in ihrem tiefen, langgestreckten Wiesental und wirkt immer noch ein wenig ernst und abweisend und bewahrt immer noch ein Geheimnis, das bis heute ungelüftet blieb. Und an stillen Winterabenden, wenn die Menschen der Gegend vor den Kaminfeuern zusammenrücken, sorgt es als Überlieferung dann und wann immer noch für Gesprächsstoff.

      2. Kapitel

      Die Augenlider des alten Mannes beginnen zu flattern. Durch zusammenhanglose Traumfetzen und konturlose Erinnerungen bricht sich sein Bewusstsein zögerlich Bahn. Gleichsam in jähem Erschrecken reißt er nun die Augen auf. Ohne den Kopf zu bewegen wandert sein Blick durch den nur von zwei Petroleumlampen und das herunter gebrannte Kaminfeuer schwach beleuchteten Raum.

      Er ist allein.

      Sogleich beruhigt sich sein angstvoller Blick. Jetzt ist der alte Mann wach.

      Sein Leben währt nun schon zweiundfünfzig Jahre und wer ihn sieht, der meint, der alte Mann setze gerade zu einer Verbeugung an, denn sein Rücken ist stets nach vorne geneigt, der Kopf ein wenig tief zwischen die Schulterblätter gezogen. Ebenso auffallend ist sein unsteter Gang, denn sein rechtes Bein ist im Knie unbeweglich, der Fuß leicht nach innen verzogen. Allerdings ist diese Behinderung schon so alt, dass der alte Mann sie gar nicht mehr wahrnimmt. War seine Gestalt selbst in seinen besten Jahren nie als hochgewachsen zu bezeichnen, hat das Alter sie nun noch mehr zusammensinken lassen. Was ist es also, dass den wenigen Menschen, die noch mit ihm zusammen treffen, sein Anblick so bemerkenswert erscheinen lässt?

      Es ist sein Gesicht mit den traurigen Augen, von so dunkelgrauer Farbe, dass sie fast schwarz wirken. Sein Blick, sanft, aber durchdringend, wird von einer schmalen, geraden Nase, von tiefen Furchen zu beiden Seiten begrenzt, wirkungsvoll verstärkt. Der Mund ist wohlgeformt und proportioniert, durch eine Grube von dem weichen, wenig energischen Kinn getrennt. Sein Haar ist lang, bis in den Nacken glatt nach hinten gekämmt, aschgrau und immer noch mit schwarzen Strähnen durchwirkt. Welcher Lebensinhalt könnte einen Mann mit einem solchen Gesicht einmal ausgefüllt haben? War er einst ein Gelehrter, ein Chirurg oder gar Arzt? Ein gebildeter Kaufmann vielleicht? Ein vormals berühmter Künstler gar? Die wenigen Leute in der Gegend, mit denen der alte Mann noch Kontakt halten muss, reden ihn mit Euer Ehren an; seinen richtigen Namen kennen sie nicht. Und wenn sie ihn gekannt hätten, hätte ihnen dieser Name nichts gesagt. Anfangs verstiegen sie sich in wilden Vermutungen, versuchten, von dem Gesicht des alten Mannes auf seine frühere Profession zu schließen. Schließlich einigte man sich darauf, dass es sich um einen ehemaligen Richter handeln müsse, der in der alten Mühle seinen Ruhestand verlebe.

      Dieses Ende der Spekulationen geriet damit gleichzeitig auch zum Ende des Interesses für den alten Mann mit dem bemerkenswerten Gesicht und dem auffälligen Gang, der in der alten Mühle wohnt und Leyendecker heißt.

      3. Kapitel

      Leyendecker unterdrückt einen schmerzhaften Seufzer, als er sich in seinem Lehnsessel vorsichtig aufsetzt. Einmal wieder in Frieden aufwachen, denkt er beiläufig, einmal von diesem Alpdruck befreit sein. Die Vergangenheit sitzt als Lebenslinie tief in mir drinnen. Sie sitzen mir immer noch im Nacken....

      Verdrießlich nimmt Leyendecker die silberbeschlagene Karaffe mit dem alten Port von dem kleinen Rauchtisch zu seiner Rechten und füllt sein Glas. Zwei Schlucke von der braunrotöligen Flüssigkeit. Einen Moment lang genießt Leyendecker den samtigen Nachgeschmack, hebt dann das Manuskript vom Boden auf, das seinen im beginnenden Schlaf kraftlos werdenden Händen entglitten ist. Seine Augen gleiten über die Seiten, ohne an einem Satz, an einem Wort Halt zu finden.

      Die Holzdielen knarren leise, als sich Leyendecker schwerfällig erhebt. Ihn fröstelt. Er greift sich ein paar Scheite aus dem Vorratskorb und legt sie in das nur noch schwach züngelnde Kaminfeuer. Nachdenklich, langsam hinkt er dann zu dem alten Sekretär an der Wand hinter ihm, gleich neben der Türe. Mit knappen, durch tägliche Übung geformten Bewegungen schließt er das Manuskript sorgfältig ein. Seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Seine Vergangenheit, so ist ihm klar geworden, würde ihn niemals loslassen, wenn er nicht etwas dagegen unternähme. Schreiben kam ihm in den Sinn. Aufschreiben, was war. Aufschreiben, wie alles begann. Warum alles so wurde, wie es geworden ist. Rechenschaft ablegen vor sich selbst. Ein Geständnis ablegen......

      Er hat tatsächlich angefangen zu schreiben, vor...wie langer Zeit? Es muss bereits Monate her sein, dass er sich zum ersten Male an seinen Schreibtisch setzte, um auf die leeren Blätter vor sich zu starren. Gedanken, die sich der Formung widersetzen, Worte, die sich weigern, zu fließen. Rastlos, mit einem Anflug von Verzweiflung im Herzen war er damals von seinem Schreibtisch wieder aufgestanden, hatte sich an sein Pult gestellt, von dem aus er durch das rechte Fenster direkt in den großen verwilderten Garten der Mühle blicken kann. Wenn mir doch jemand den ersten Gedanken gäbe, den aller ersten Gedanken, dachte er. Nur einen Gedanken, dann wird es schon gehen.

      Dann hatte er begonnen, langsam im Zimmer auf und ab zu hinken. Fünf Schritte vom Bücherregal rechts am Schreibtisch vorbei bis zum Kamin, zwei Schritte um den Lehnsessel herum, vier Schritte zurück zum Bücherregal. Bei Regenwetter konnte sich sein Bein mitunter besonders nachdrücklich in Erinnerung bringen. Ein Himmelreich für den aller ersten Gedanken. Er hatte seine Wanderung durch den Raum fortgesetzt.

      Dann drängte sich eine Zahl in seinen Sinn. Neunundneunzig. Es war ihm gar nicht bewusst geworden, dass er seine Schritte mitgezählt hatte. Neunundneunzig. Und dann war der aller erste Gedanke plötzlich da gewesen.....

      4. Kapitel

      Monate waren seit diesem aller ersten Gedanken nun vergangen, Monate, in denen aus den ersten, unsicher niedergeschriebenen Zeilen ein umfangreiches Manuskript geworden war, eine noch längst nicht beendete Arbeit, sicherlich nicht; dennoch eine gut strukturierte Sammlung von Gedanken, die vordem so schmerzhaft und unauslöschlich des Schreibers Seele zerfurcht haben. Ist es Leyendecker deshalb nun leichter zumute? Mitnichten. Denn Leyendecker hat erkannt, dass diese schwerlastenden Gedanken bisher geruht haben, in sich und in ihm geruht haben, unsagbar in ihrem Gewicht zum Einen, unsichtbar in ihrer Bedeutung jedoch zum Anderen. Seine Feder, sein Papier hat Belastendes an die Oberfläche gehoben, hat nie Gesagtes gesagt werden, Unkörperliches gegenständlich werden lassen. Augen meint Leyendecker in seinem stillen Zimmer zu erblicken, fremde Ohren lauschen zu hören, als ob er seiner Feder Stimme verliehen hätte. Leyendecker hat erkannt, dass er mit seinem gedankenvollen Manuskript ein gefährliches Schriftstück in Händen hält.

      Welch ein Ausweg bliebe ihm? Wie oft schon hat er da gestanden, vor seinem lodernden Kamin, das Manuskript in Händen? Nur einer leichten, einer winzigen, kaum Kraft kostenden Bewegung hätte es bedurft, Gesagtes, Körperliches, Gegenständliches den Flammen anzuvertrauen, damit für immer Augen und Ohren zu entziehen. Was verlieh ihm die Kraft, diese Kraft nicht aufzubringen? Lange genug haben sich Leyendeckers Gedanken auf diese Frage konzentriert, um ihn erkennen zu lassen, dass es die Angst vor der Rückkehr in die Qual war, die ihn zurückhielt. Zu genussvoll war die einkehrende Ruhe der Seele gewesen, zu begehrenswert die geistige Freiheit, die sich ihm im Schreiben erschlossen hatte. Indem er sich dieses Umstands bewusst wurde, hat sich sein Leben verändert. Nachdem ihn der innerliche Druck des Gewesenen