Es gab keine Zeit zu verlieren. Leyendecker machte sich auf den Weg.
Spät an diesem Abend befand er sich wieder in seiner gut geschützten Zuflucht im dichten Unterholz. Alles war nach seinen Wünschen verlaufen. Das Kaninchenfell hatte ihm gutes Geld eingebracht. Nicht so viel, wie erhofft, aber immerhin. Das Fleisch war gesalzen, einige Kreuzer klimperten in seiner Tasche, die Nacht versprach mild zu werden.
Leyendecker war zufrieden. War eigentlich recht einfach, die Kaninchenbeschaffung, dachte er sich. Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre. Das war der Haken an seinem Plan. Immerhin ist’s doch recht gut gelaufen fürs erste Mal und schließlich hat es sein müssen, erteilt sich Leyendecker selbst Absolution. Noch einmal gehe ich so ein Risiko aber nicht ein, beschließt er. Der nächste Plan muss besser werden…
Der nächste Plan wurde besser. Er brachte Leyendecker vier große frische Würste und ein Kuhfell ein. Dann suchte er nochmals den Bauern heim, dem er schon beim ersten Mal einen Besuch abgestattet hatte, griff sich diesmal drei Kaninchen und ließ nebenbei ein nagelneues Stallhalfter mitgehen. Als er das Halfter ein Paar Dörfer weiter versetzen wollte, wurde er auf einen Steckbrief aufmerksam, der an der Kirchentüre angeschlagen war. Nach einem Dieb wurde gesucht, der in diesem Bezirk schon mehrfach.... Leyendecker musste die Bekanntmachung zweimal lesen, bis ihm bewusst wurde, dass er damit gemeint war. Er ließ das Stallhalfter unauffällig in seinem Jutesack verschwinden und machte sich aus dem Staube. Ihm war klar geworden, dass es besser für ihn wäre, die Gegend bis auf Weiteres zu verlassen.
So zog er Nächtens weiter, schlief am Tage, bettelte nicht mehr, sondern stahl sich zusammen, was er brauchte, und langsam, ganz allmählich erkannte er, dass er sich nicht mehr auf Wanderschaft befand. Er war auf einer ziellosen Flucht. Vor den Bauern, die er bestohlen hatte, vor den Behörden, die wahrscheinlich nach ihm suchten, vor sich selbst.
So durchquerte Leyendecker den Hunsrück, planlos, hinkend, ein kleines Bündel auf dem Rücken, betrogene Hoffnungen im Herzen. Vielleicht wäre er tatsächlich irgendwann einmal von einem flinken Bauern gestellt, von ein paar Feldgendarmen aufgegriffen worden oder einfach nur erschöpft umgefallen, hätte ihn sein Weg nicht eines Tages und durch Zufall in das kleine Städtchen Simmern geführt. Denn dort fiel ihm der verletzte Hannes Bückler unversehens und direkt vor die Füße, damals, im August des Jahres 99.....
9. Kapitel
Das fliegende Gespinst der Erinnerung stoppt abrupt. Das war er gewesen, der aller erste Gedanke, den Leyendecker zu seiner Erleichterung, zur Genesung seiner überlasteten Seele so sehnlich gesucht und vom Schicksal so unverhofft zugeworfen bekommen hat. 99, das Jahr 1799, in dem alles begonnen hat. 99, nicht mehr als eine Zahl, unbedeutend für sich allein, doch gleichzeitig Initial für das Werden von Gedachtem zu Gegenständlichem, von Unausgesprochenem zu Gesagtem. Zu dem, was Leyendecker in seinem kleinen Sekretär gut verschlossen hält.....
Leyendecker hat sich nun wieder in seinen Lehnsessel gesetzt. Ob des nachgelegten Holzes flackert das Kaminfeuer jetzt lebhafter und macht mit seiner Wärme die Feuchtigkeit im Raum nur noch umso fühlbarer. Kalte Schweißtropfen stehen auf Leyendeckers Stirn. Er greift zur Portweinkaraffe, schenkt sich nach, leert das Glas in einem langen, wilden Zug, schenkt sich wieder ein. Der Wein ist dein bester Freund, denkt er sich. Der Wein ist dein einziger Freund, der dir noch geblieben ist, korrigiert er sich sogleich. Doch er muss sich zurückhalten, darf die Karaffe nicht austrinken. Schließlich erwartet er heute noch einen Besucher.
Leyendecker zieht ein Sacktuch aus der Tasche seines Hausgewands, tupft sich die Stirn, behält das Tuch danach in der Hand. In seiner Jugend waren ihm Schweißausbrüche solcher Art gänzlich unbekannt. In letzter Zeit macht sich sein Körper in dieser unangenehmen Weise immer öfter bemerkbar, einhergehend mit einem unbestimmbaren Gefühl des Schwindels. Den Gedanken an eine körperliche Erkrankung drängt Leyendecker resolut zurück. Sein Leben, so, wie er es geführt hat, hat ihn bis heute nicht umbringen können, also wird auch eine mögliche Krankheit darin nicht mehr Erfolg haben.
Der Regen, der bisher in langen, geraden Schnüren gefallen war, prasselt nun direkt auf die Scheiben von Leyendeckers Fenster. Der Wind muss sich gedreht haben, denkt sich Leyendecker und denkt dabei gleichzeitig an seinen Besucher. Der wird vollkommen durchnässt sein, wenn er die Mühle schließlich erreicht hat. Leyendecker spürt eine Veränderung im Raum und horcht auf. Das gleichförmige Knirschen des Mahlsteins hat aufgehört und fast gleichzeitig mit ihm das Dröhnen des Mühlrades. Der Müller hat wohl seinen Mahlauftrag beendet und macht nun Feierabend. Günstig, denkt Leyendecker, sehr günstig, dann bleibt das Geheimnis weiterhin gut beschwiegen. Wieder tupft er sich die immer noch feuchtkalte Stirn. Wenigstens das Gefühl des Schwindels ist kaum noch wahrnehmbar. Leyendecker erhebt sich erneut und begibt sich zu dem raumhohen Bücherregal, das die gesamte rechte Wand des Zimmers einnimmt. Mit präzisen Handgriffen entnimmt er von rechts das dritte, vierte und fünfte Buch der mittleren Reihe und legt den kleinen Stapel auf dem Salontisch neben ihm ab. Nun greift Leyendecker in die so entstandene Lücke, sucht nach etwas, was sich hinter den Büchern verbirgt, findet es. Leyendecker hält einen dunkelbraunen, hochgefüllten, mehrfach eingeklappten und mit Lederschnallen fest verschlossen Aktendeckel in der Hand. Nun, nachdem er die drei entnommenen Bücher sorgsam an ihren Platz zurückgestellt hat, sitzt er da, starrt mit halbgeschlossenen Augen die Akte an, die vor ihm im Halbdunkel auf dem Salontisch liegt. Leyendecker erhebt sich, hinkt schwerfällig zu seinem Schreibtisch hinüber, nimmt dort die Petroleumlampe, hinkt vorsichtig zum Salontisch zurück, stellt die Lampe ab. Petroleumlampen bereiten Leyendecker immer noch Unbehagen. Es ist zwar praktisch, dieses Licht, aber wenn es hinfällt, geht es nicht aus, man kann es auch nicht mit dem Fuß austreten, es brennt weiter und weiter und weiter.....vor Feuer hat Leyendecker eine panische Angst.
Der dick gefüllte Aktendeckel auf dem Salontisch ist nun in warmes Licht getaucht. Vorher, im Halbdunkel, wirkte er auf Leyendecker, der seinen Inhalt gut, zu gut kennt, noch irreal, ungreifbar. Jetzt, im Schein der Petroleumlampe, nimmt er für Leyendecker eine beängstigende Wirklichkeit an. Wie diese Akte in Leyendeckers Hände geriet, war für ihn selbst das Geheimnis eines Rätsels, das in einem Geheimnis steckte. An einem Tag im Spätsommer des Jahres 1802 war sie von einem unheimlichen Boten gebracht worden. Als Leyendecker des Nachmittags einer seiner seltenen Wege ins nahegelegene Dorf geführt hatte, hatte die Akte bei seiner Rückkehr in die Mühle auf seinem Schreibtisch gelegen. Ein Unbekannter musste also über Leyendeckers Abwesenheit wohlinformiert gewesen sein, sich dann am helllichten Tage unbemerkt Zutritt verschafft haben und ebenso unbemerkt wieder verschwunden sein. Der Müller, den Leyendecker natürlich sofort zur Rede stellte, schwor beim Andenken seiner Mutter, nichts gehört oder gesehen zu haben. Mit fliegenden Schritten hinkend war Leyendecker daraufhin in sein Zimmer zurück geeilt, hatte die Tür hinter sich zugeworfen, lehnte nun mit dem Rücken an ihr und starrte gebannt auf das mysteriöse Objekt. Der unheimliche Bote schien sich sicher gefühlt zu haben, hatte er sich doch die Zeit genommen, die Akte exakt in der Mitte von Leyendeckers Schreibtisch zu platzieren, grad so, als habe der, vor wenigen Augenblicken nur, eben noch den Inhalt studiert. Nun riss sich Leyendecker los, war mit wenigen Schritten am linken Fenster, entriegelte es, riss es auf, schaute sich wild umblickend hinaus. Stürmte dann zum rechten Fenster, tat dort das gleiche. Hatte er erwartet, den Unbekannten noch unter einem der Fenster lauernd anzutreffen? Leyendecker, du leidest unter Verfolgungswahn. Nein, Leyendecker, jemand ist hier eingedrungen. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Diese Mühle, dieses Zimmer ist dein Leben. Jemand Fremdes ist in dein Leben eingedrungen. Dieser Jemand wollte nichts stehlen, hat nicht zufällig deine Mühle, dein Zimmer, dein Leben ausgewählt. Es geht um dich. Um niemand anderen als um dich. Du solltest eine ganz spezielle Botschaft erhalten... Leyendeckers jagende Gedanken stolpern, haken sich an dem Begriff „Botschaft“ fest. Die Bedrohung, soeben