Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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ein gutes Gefühl bei dem Termin. Vielleicht klappt es ja diesmal und Max bekommt den Job! Dann ist es wirklich überschaubar, wann er zu ihr zieht. Mit viel Liebe hat sie schon den Tisch gedeckt, damit sie gleich essen können, wenn er nachher von seinem Gespräch nach Hause kommt. Nach Hause kommen. Hört sich gut an. Ob er das auch so sieht?

      Zurück im Keller macht sie mit der Durchsicht der Dinge weiter. Der Kopf ist schon fast wieder ihrer. Und ihrer Kehle wird es bestimmt auch bald wieder besser gehen. Großvater hat immer gesagt «Wer feiern kann, kann auch arbeiten.»

      Da ist so viel in den Kisten und scheint gar kein Ende zu nehmen. Dabei gefällt ihr die Wohnung oben so wie sie jetzt ist sehr gut. Hell, sonnig und vorwiegend weiß eingerichtet. Soll sie die Stehlampe wegtun? Ist ziemlich sperrig, das Ding, aber für eine größere Wohnung wiederum genau das Richtige. Und größer wird sie ja wohl werden, die Wohnung, wenn Max nach Hamburg kommt. Was er dazu meint? Und hier ist auch noch ein Karton aus dem Büro. Wie ist der denn hier gelandet? Anna erinnert sich vage, dass sie beim Verlassen ihres alten Büros einen Karton mit Privatsachen gepackt und mit nach Hause genommen hatte.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Fehl am Platz

      Dann hatte Anna die Büroakten beim Ausräumen des Büros versehentlich mitgenommen. Sie kann die Ordner also getrost zu den Akten legen, diesmal allerdings in die Firma. Da, wo sie hingehören – die haben nun wirklich nichts mit ihrem Privatleben zu tun. Als Anna den Karton neben die Kellertür stellen will, bricht der Pappboden auf. Sie flucht kurz, nimmt dann die Sachen und legt sie in die alte Holzkiste, die sie wegen ihrer dunkelgrünen Farbe eigentlich aussortieren wollte. Die wird ja wohl halten, denkt Anna, und macht mit einem satten Rums den Deckel zu. Firmenunterlagen sollte sie eh besser verschließen.

      Genug von den Kartons und dem Staub im Keller möchte sie in ihre sonnige Wohnung zurückgehen. Einmal die Füße hochlegen und vielleicht den Fernseher anschalten, um sich statt vom Staub von anderen Dingen berieseln zu lassen. Als sie sich wegen eines erneuten Schwindelanfalls auf die Treppe setzen muss, überlegt sie, dass das nicht nur der Alkohol sein kann. Irgendwie fühlt sich heute alles falsch an. Vielleicht hat sie sich ja den Magen verdorben? Alte Häuser sind ja wirklich toll, aber ein Aufzug wäre auch nicht schlecht, denkt Anna. Glücklicherweise hat sie immer ein paar kleine Scheine in ihrem Schlüsseletui, das erspart ihr den für sie jetzt noch unangenehmeren Gang hinauf in den vierten Stock.

      Die Apotheke ist nicht weit entfernt, und als das Drehen um sie herum schwächer wird, macht sie sich langsam auf den Weg dorthin. Die freundliche Frau hinter dem Tresen bietet ihr einen Stuhl an. Ob Anna den Schwindel und die Übelkeit schon länger habe, fragt sie, und ob sie am Vortag viel Alkohol getrunken habe, ob sie sich im Einzelnen daran erinnern könne, was sie gegessen habe? Oder ob es sein könne, dass?

      Zuerst kann Anna der Apothekerin nicht ganz folgen, als diese aber um die Augen herum zu lächeln beginnt, dämmert es Anna. Es kann doch nicht sein, dass sie schwanger ist? Nein! Oder doch? Sie hat doch sonst alles so gut im Griff! Ihre Gedanken beginnen miteinander zu flüstern, ohne dass sie viel davon verstehen kann. Und schließlich verändert sich das dumpfe Gefühl in der Magengegend und wird zu einem Ziehen. Für alle Fälle hat sie neben einem schwangerschaftskompatiblen Mittel gegen Übelkeit auch einen Test gekauft. Anna nimmt noch in der Apotheke etwas von der Arznei ein, die Apothekerin dabei fest im Blick, und hofft, dass es ihr damit gleich besser gehen wird.

      Auf dem kurzen Weg nach Hause denkt Anna nicht viel oder alles zugleich. Den Test lässt Anna jedenfalls erst einmal in der Packung. Bis Max da ist, denkt Anna und will sich etwas hinlegen. Was, wenn doch?

      Das Blinken des Anrufbeantworters im Flur lenkt Annas Aufmerksamkeit von der Tüte in ihrer Hand ab. Sie drückt die Taste für die Wiedergabe und erfährt von einem Kollegen im Büro von einem Unglück. Ein Zug sei entgleist. Anna solle sich sofort melden und am besten führe sie dann gleich los! Sie solle die Kamera mitnehmen und das Diktiergerät, falls sie eines zu Hause habe. Alles Nötige eben für die Dokumentation, ach ja, und die Sicherheitsschuhe nicht vergessen. Was für ein Wichtigmacher, die hat sie dafür immer dabei, denkt Anna leicht angewidert, und ruft den Kollegen zurück.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Sommerliche Unterhaltung

      Silvia hat sich freigenommen. Der Tag beginnt. So, wie ein richtig schöner Sommertag zu beginnen hat. Die letzten Wochen hat Silvia durchgearbeitet. Wie schön ist dieses Gefühl, beinahe alles momentan Anliegende erledigt zu haben und einen Tag lang mal nichts zu tun!

      Der sonst vorherrschende Musiklärm der Nachbarn unter ihr kann sie heute nicht stören, denn beide sind glücklicherweise in der Tagschicht. Die Fenster der Dachwohnung im alten Haus der verstorbenen Großeltern in Kiel stehen weit offen und so manche Biene nimmt die Abkürzung durchs Haus. Auch Silvia summt vor sich hin, heute aber möchte sie mal nichts tun und faulenzen. Ihr Freund Adrian hat die Wohnung wie immer während der Woche, in der er bei ihr ist, schon früh verlassen und Silvia hat einfach weiter gefrühstückt und gelesen, bis sie nun wirklich rundum satt und zufrieden ist. Vielleicht geht sie noch einmal hinaus in den Park. Es ist einfach herrlich zwischen den mächtigen Bäumen herumzuspazieren, sich in der Natur von allem wortreich Inszenierten weg und einer gewissen Erdung hinzugeben. Sie legt Buch und Brille beiseite und beschließt, erst noch den Abwasch zu erledigen, ehe sie sich aufmacht.

      Der Fernseher sirrt etwas und die Meldungen flimmern unter seiner Oberfläche hinweg. Eigentlich hat sie das Nachrichtenverfolgen vor langer Zeit aufgegeben, da ihrer Meinung nach eh nur schlechte kommen. Jetzt erschreckt Silvia die Meldung eines Unfalls. Ein Zug ist entgleist. Ein schrecklicher Unfall. Wie furchtbar! Ein Zugunfall in der Nähe von wo?

      Silvia langt nach dem Geschirrtuch. Das fällt jedoch herunter und sie streift die nassen Hände an ihrer Hose ab. Dann stellt sie den Apparat lauter. Greift nach ihrer Brille, setzt die Gläser auf und liest nun auch die Schrift. Nicht Eschwege, sondern Eschede. Das liegt doch auf dem Weg vom Elternhaus aus gen Norden irgendwo, ist klein und kein bisheriger Haltepunkt für Silvia gewesen. Ein unbehagliches Gefühl macht sich langsam in ihr breit. Und dann noch breiter. Wie ein aufgehender Hefeteig wird der Kloß in ihrer Kehle immer dicker, nur merklich schneller: Max ist auf dem Weg nach Hamburg zum Vorstellungsgespräch. Das hatte er ihr gestern noch gesagt, als sie seine Hemden zum Umnähen absteckte. Bringen durfte Silvia ihn nicht. Er sei ja schon groß, hatte Max gesagt. Er will gerne pünktlich sein und fährt daher nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug. Und so freute Silvia sich auf einen ganzen freien Tag und war schließlich noch am Vorabend alleine abgefahren.

      Die Sonne steht schon recht hoch über ihrer Dachwohnung und wirft mit tanzendem Staub vermischte Strahlen durch die geöffneten Fenster. Silvia hebt das Geschirrhandtuch wieder auf. Komisch, wie breit die Fliesenfugen hier sind. Und wie schmutzig das Fernseherglas doch ist, obwohl sie es neulich erst abgewischt hat. Die Schlierchen lassen die Sprecher etwas älter erscheinen als sie vermutlich sind.

      «Tut mir leid», sagt sie, um etwas banal Normales zu denken. Wenn man etwas laut ausspricht, muss man es ja auch gedacht haben, also weiter.

       Hee, nun mal langsam, Silvia! Bisher weißt du noch gar nichts.

      Ich muss aber mehr wissen! Was haben die da gerade gesagt? Was ist passiert?

       Hör erst mal richtig zu, bevor du nervös wirst.

      Du meine Güte, ich kann doch nicht zu Hause bei Mini anrufen und einfach nachfragen, sie hört doch sofort meine Besorgnis. Wie mach ich das bloß?

      Silvias Gedanken werden durch das Läuten des Telefons abgelenkt. Das Klingeln lässt sie zusammenzucken und gleichzeitig zurückschrecken. Silvia schaut irritiert auf das Gerät.

      Nun geh schon ran!

      Zögernd nimmt sie den Hörer ab. Statt wie üblich ihren Namen zu nennen, fragt sie leise:

      «Ja?»

      http://duden.de/rechtschreibung/Unglueck,