Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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Schutz.

      Was weiß dieser Neue schon! «Und woran willst du das gesehen haben?», mosert Ben.

      «Wie er immer zur Uhr blickt. Vorhin war er ganz im Spiel, ganz dabei. Und jetzt …», Lukas lässt mit Blick auf Anna den Satz unvollendet.

      «Der Trick ist gut!» Anna grinst Lukas breit an.

      «Und jetzt lässt er Anna wieder alleine hier zurück. Fährt zu Papa nach Hause», nimmt Ben dagegen den Faden bereitwillig wieder auf.

      «Ist doch toll, wenn die Familie zusammenhält», versucht Lukas Max zu verteidigen.

      «Ich habe eher den Eindruck, dass er alles zusammenhält», grummelt Ben Lukas entgegen.

      «Was hat der Vater eigentlich?»

      Anna mischt sich wieder ein:

      «Frag ihn doch selber!»

      «Anna, was ist das für ein Trick?»

      Das Kennenlernen von Max und ihr ist so unspektakulär, überlegt Anna. Sportverein. Das klingt ziemlich langweilig, fast so schlimm wie Schulzeit. Sie sieht sich im Lokal um. Das alte Mobiliar ist recht schlicht – um nicht zu sagen fast schäbig – und erinnert sie mehr an die Aufenthaltsräume des Wartungspersonals der Werkhallen in ihrer Firma als an eine Kneipe.

      Keiner von ihnen beiden hat den anderen vor einem heranrasenden Laster gerettet oder sich in besonderer Weise bei irgendetwas für den anderen eingesetzt. Und dennoch fühlt es sich so gut an! Es ist etwas ganz Besonderes! Und es funktioniert.

      Keine dramatische Trennung von Partnern war notwendig, weil sie zu der Zeit schlicht keine hatten. Keine Kämpfe, kein Zögern, kein Unrundlaufen, keine Schwingungsabweichungen – eine harmonische Resonanz der beteiligten Kräfte. Laut Kuchling heißt das: «Durch Überlagerung von zwei harmonischen Schwingungen gleicher Richtung und Frequenz entsteht wieder eine harmonische Schwingung gleicher Frequenz, deren Amplitude von den Einzelamplituden und den Nullphasenwinkeln abhängt.»

      Ein schnurgerader Weg. Abgesehen von Max´ merkwürdiger Familie, die Anna eigentlich gar nicht kennenlernen will und ihrer eigenen, die sie selbst genauso wenig präsentieren möchte wie Max seine, was aber andere Gründen haben könnte, denkt sie. Aber ihre eigene Familie ist ja auch hübsch weit weg und das ist gut so! Trotzdem ist es etwas ganz Großes: Anna und Max. Max und Anna. Bens Sticheleien haben allerdings doch eine kleine Wirkung. Sie schmeicheln ihr, ob sie es zugeben will oder nicht.

      Dienstag, 2. Juni 1998, Vorlauf

      Max ist ein wenig genervt. Wie viele Vorstellungsgespräche eigentlich noch? Ganz zu schweigen von den Bewerbungen. Liegt es an der Durchschnittsnote im Diplom? Liegt es an ihm als Person? Liegt es am Fach? Hätte er nicht VWL studieren sollen? So schwierig hatte er sich den Neubeginn nicht vorgestellt. Oder liegt es an Hamburg?

      Anna ist mittlerweile dort gelandet. Die Kontakte seiner Schwester sind jetzt auch einmal Max hilfreich. Eine Freundin von Silvia hatte seiner Schwester erzählt, dass in ihrer Nachbarschaft eine Wohnung für eine kurze Zeit zur Untermiete frei sei. Erbstreitigkeiten, und da wisse man nie so genau, wie lange die dauerten. Die Adresse sei für einen Freund, sagte Max und hofft, dass Anna die Zeit reichen werde, um die Arbeit dort kennenzulernen und für sich – oder vielleicht auch für sie beide? – eine andere Wohnung suchen zu können.

      Der Job macht Anna viel Spaß und mit den neuen Kollegen scheint sie sich auch gut zu verstehen, soweit man das nach ein paar Wochen beurteilen kann. Die Pendelei ist für Max nicht so einfach, ehrlich gesagt eher unmöglich geworden, weil weder ein Heimplatz für den Vater gefunden ist noch das Haus verkauft werden konnte. Und Letzteres muss auch noch ausgeräumt werden. Silvia hat versprochen, sich wieder mehr darum zu kümmern. So nahe am Ziel kann man schon mal ungeduldig werden.

      Welches Ziel eigentlich? Vom Elternhaus direkt in eine Beziehung mit Wohnungsanschluss? Hört sich schön an und doch wieder nicht. Max möchte gerne einmal nur für sich sein, aber mit Anna. Klingt komisch, weil sie gerne gleich zusammenziehen möchte, aber die derzeitige Wohnung, die sie so schnell bekommen hat, ist nur übergangsweise und auf Dauer sowieso zu klein. Ob sie nochmals abwartet? Ruhe ist nicht wirklich ihre Stärke, sonst hätte Anna vielleicht auch nicht den Job bekommen, da ist Ungeduld als Antriebs- und Überzeugungsmittel stark gefragt.

      Gut, dass Silvia nachher noch die Hemden umnäht. Als der Winter dann vorbei war, hatte sie immerhin schon den Flicken auf die Lederjacke genäht. Wieso sie für das Raussuchen des Lederrestes so lange brauchte, hatte sie ihm damit erklärt, dass es farblich und von der Dicke und der Narbung des Leders her zum Rest der Jacke passen müsse, entweder als Kontrast oder als Ergänzung. Kein Wunder, dass bei seiner Schwester vieles so lange dauert, überlegt Max, auch wenn sie manchmal recht hat.

      Wenn Silvia heute wieder mit ihrer Neugier kommt, wird er eben auch wie üblich kurz grummeln und dann fährt sie ja auch bald schon wieder los. Eine Fragende weniger. Wieso soll er überhaupt schon wieder alles wissen? Kann er hellsehen? Erst mal hinfahren, dann sehen sie weiter. Mini ist ja da im Haus beim Vater, und er kann dann endlich mal zwei ganze Tage in Hamburg bleiben. Hoffentlich legt Anna nicht so viel Hoffnung in das Vorstellungsgespräch, dann muss er sie auch noch trösten.

      Wer tröstet ihn, wenn es nicht klappt? An seiner Vorbereitung liegt es jedenfalls nicht, er ist bestens vorbereitet, hat alles Material gut studiert und zigmal kontrolliert.

      Dienstag, 2. Juni 1998, Maßnehmen

      Am Dienstagnachmittag kommt Max von einem Kundentermin nach Hause geeilt und bittet Silvia, ihm noch schnell ein paar seiner Hemden zu ändern, bevor diese gleich wieder nach Kiel fährt. Er bräuchte sie dringend, teilt er seiner Schwester knapp mit, und so lange dauerte es ja nicht, oder? Er hat am nächsten Tag wieder ein Vorstellungsgespräch. Und nein, er fährt lieber alleine hin, Silvia muss ihn nicht bringen.

      «Eigentlich kannst du ja auch ein wenig zunehmen, dann würden dir diese Hemden vielleicht auch mal so passen!», bemerkt Silvia und schiebt ihre Brille zurecht.

      «Das hättest du wohl gerne! Am liebsten von deinen Rippen, was?»

      «Ich wusste gar nicht» unterbricht Silvia das Abstecken, den Kopf zur Seite geneigt und eine Nadel vor die Augen ihres Bruders haltend, «dass du mit der Hand so gut nähen kannst!»

      «Schon gut, schon gut!», wehrt er lachend ab, «So was sollte ich nicht sagen.»

      «Nicht zu jemandem mit scharfen Gegenständen!», gibt Silvia zurück und droht Max lachend mit der großen Stoffschere.

      Als Hutmacherin kennt sich Silvia mit Nadeln aus. Der deutliche Handschlag scheint mehr zu Silvia als zu Max zu passen. Silvia ist nur wenig kleiner als ihr großer Bruder, aber nicht so schlank wie er. Neben ihren Freundinnen sieht sie immer ein wenig derb aus. Zu groß, um in der Masse zu verschwinden. Zu breit, um sich unauffällig schmal machen zu können und zu schwer, um durchs Leben zu schweben. Groß, breit, kräftig – das ordnet man eher einem Mann zu. Max hat sich früher gern über Silvia lustig gemacht: «Sechs Jahre Ballett – bei dir kaum zu glauben, Silvi!»

      Silvia steckt die Hemden ab und näht sie passend für ihren Bruder um. Sobald sie das erledigt hat, packt sie die Nähmaschine und die Kettelmaschine zu den bereits verstauten Kisten und Kartons in ihr Auto ein und fährt gen Norden zu sich nach Hause. Sie freut sich auf einen freien Tag. Im Elternhaus haben sie diesmal wieder viel gearbeitet und besprochen. Das Haus scheint mitsamt Inventar ständig zu wachsen, seit sie beschlossen haben, es zu verkaufen. Und danach kann jeder seinen eigenen Weg gehen. So ist es geplant.

      Silvia hatte sich bis zur Mitte ihrer Ausbildung immer mit um die Familie gekümmert. Nach ihrer Ausbildung hatte sie genug davon, sie ging nicht mehr zurück ins Elternhaus, zum Vater und den Geschwistern. Jetzt sind eben ihr großer Bruder Max und ihre kleine Schwester Mini dran, kümmern sich um ihn, denn allein kann er sich nicht mehr versorgen. Seine ständigen Stürze, die häufig damit verbundenen Fahrten ins Krankenhaus,