Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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sie in einer Schlange der Blutspendenden an und wird befragt. Natürlich hilft sie – vielleicht tatsächlich mit ihrem Blut. Ihr Herzblut scheint daran zu hängen. Dann wird Silvias Ton am Telefon schärfer:

      «Es ist mir völlig egal, ob Sie wollen oder nicht! Ich suche meinen Bruder und möchte wissen, ob er bei Ihnen ein Vorstellungsgespräch hat oder nicht. Ob er angekommen ist. Nein, ich werde nicht wieder anrufen. Ich bleibe dran!», zischt sie. Das Gespräch wird weitergegeben. Verbunden, geklickt, Musik am Ohr. Warten im Takt. Und dann möchte sie gar keinen Erfolg mehr haben. Er ist nicht angekommen. Er ist jedenfalls nicht zum vereinbarten Termin erschienen.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Überstunden statt Urlaub

      Während der Fahrt hört Anna im Radio unterschiedliche Meldungen zur Lage am Unglücksort. Das klingt alles doch ziemlich ungenau, denkt sie. Die Rettungsmaßnahmen laufen noch auf Hochtouren. Seit halb eins herrscht Katastrophenalarm. Einige Verletzte wurden bereits weggebracht, viele Hubschrauber im Einsatz erfährt Anna aus den Meldungen. Auch Sammelstellen für Verletzte seien eingerichtet worden, erklärt die Stimme aus dem Lautsprecher. Je näher sie dem kleinen Ort kommt, umso mehr Nachrichten werden es. Das liegt einfach an der Zeit, das weiß Anna von anderen Unfällen. Später wird zur Unglücksursache mehr herauskommen. Kollegen vom EBA, dem Eisenbahnbundesamt, sind auch vor Ort und bereits dabei, die Strecke abzulaufen.

      Als Anna am vereinbarten Treffpunkt beim Bahnhof ankommt, weiß sie zunächst nicht, wie sie den Kollegen finden soll. Überall stehen Autos, Kamerateams mit ihren Sprechern unterhalten sich und über ihnen ist das Geräusch von Hubschraubern zu hören. Bevor sie aussteigt, hört sie noch einer neuen Information aus dem Radio zu.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Die Suche geht weiter

      Max ist nicht angekommen. Nein, nicht immer stimmt es, dass man mit den Tatsachen besser leben kann. Seine Abwesenheit sieht ihm nicht ähnlich. Es ist ganz und gar untypisch für ihn. Kann er sich nicht melden, weil er von den Trümmern verschüttet wurde? Er hätte doch angerufen. Er hätte sich gemeldet, wenn es ihm gut gehen würde. Oder?

      Der Zug oder die Reste, die davon zu sehen sind, machen nicht den Eindruck, als ob irgendjemand ihm – ohne Schaden genommen zu haben – entsteigen konnte. Abgesehen von den ersten Wagen und dann hätte er sich doch gemeldet! Wie soll man klar denken, wenn einem die Worte fehlen?

       Er ist also nicht angekommen.

      Vielleicht lebt er noch?

       Wo mag er sein? Wie geht es ihm?

      Ist alles noch dran?

       Wann werden wir etwas erfahren?

      Was werden wir erfahren?

       Diesmal ist er unpünktlich.

      Mick, hör auf!

      Wie um alles in der Welt soll sie das den anderen erzählen, denkt Silvia. Papa und Mutter und Mini. Und Oma. Und Tanten und Onkel. Und seinen Freunden.

      Nun liegt wieder alles in Minis Händen. Denn vielleicht wurde er ja doch nach Hamburg gebracht, dann bleibt Silvia besser im Norden und telefoniert weiter mit der Hotline?

      Er hätte doch angerufen. Er hätte sich gemeldet, wenn es ihm gut gehen würde. Ist das die Antwort auf Minis früheren Gedanken, dass nichts schlimmer kommen könnte?

      Auf Max´ Schreibtisch unter der Schreibunterlage liegt glücklicherweise auch eine abgegriffene Telefonliste aus seinem vorletzten Semester, die Mini entdeckt, als sie nach Hinweisen auf den Firmennamen sucht. Mit einigem Mut der Verzweiflung beginnt sie, die Liste durchzusehen. Bei wem traut sie sich anzurufen? Welchen Namen hatte Max am häufigsten genannt, wenn er überhaupt von jemandem erzählt hat? Da ist etwas ausgestrichen und am Rand ergänzt worden. Also eine Korrektur. Und kann eine Korrektur nicht ein Hinweis darauf sein, dass dieser Jemand wichtig sein könnte? – Und kennen sich seine Freunde untereinander überhaupt?

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Annas Datenverkehr ist gestört

      Es ist bereits zwei Uhr durch, als es etwas leiser wird. Zeitweise ist weder Hubschrauberlärm noch Sirenengeheul zu hören. Aber das heißt nicht, dass es insgesamt ruhiger geworden ist.

      «Das könnte heißen, dass die Hubschrauber jetzt abgezogen werden», meint der Kollege zu Anna, der sie am Bahnhof schließlich doch gefunden hat. Anna zeigt ihm ihren Dienstausweis.

      «Wo ist denn ...?»

      «Urlaub», beendet Anna knapp seine Frage, richtet sich auf und wünscht sich wieder einmal, dass sie nicht so klein wäre und so jung aussähe.

      «Keiner der anderen, der alten Hasen, wollte herkommen?» Geringschätzung schwingt in seiner Stimme mit. Anna ist es gewohnt, schräg angeschaut zu werden und fragt daher nur:

      «Was genau hat der Fahrdienstleiter denn gesehen?»

      «Der hatte nur den Triebkopf vorbeifahren sehen», fährt er mit einem Blick auf das Bahnhofsgebäude fort.

      «Und der Lokführer?», erkundigt sich Anna.

      «Der sagt, dass er vor dem Bahnhof ein Rucken gemerkt hat. Und, dass er die Zwangsbremsung unterstützt hat.»

      «Was ist mit dem Blechteil, das auf der Strecke gefunden wurde? Kann das in Zusammenhang mit dem Knall, den es gegeben haben soll, gesehen werden?» Auch wenn sie nicht zum alten Eisen gehört und alles furchtbar durcheinander ist, könnte er doch ein wenig kooperativer sein, denkt Anna bei sich, und zieht auffordernd und zugleich fragend die Augenbrauen hoch. Muss sie ihm alles aus der Nase ziehen?

      «Die Polizei ist auf einen EBA-Mann getroffen, hat man mir gesagt, der wiederum von Bahnmitarbeitern auf dem vorderen Streckenabschnitt Teile übergeben bekam. – Begeistert waren die nicht. Besser wir warten ab, bis wir aufs Gelände dürfen.» Anna schaut sich in Richtung Süden, der Unglücksstelle, um.

      «Haben Sie so was schon mal erlebt?», möchte Anna von dem Mann wissen, um ihn besser einschätzen zu können.

      «So etwas hat wohl keiner von uns bisher erlebt!» Er schaut etwas irritiert zu ihr hinunter. Sie hat ihr Ziel erreicht, ihn zu einer Veränderung seiner bisherigen Haltung bewegt.

      «Womit soll denn der Zug geborgen werden? Und was ist mit der Brücke?»

      «Ich habe gerade die Meldung bekommen, dass die von der Bundeswehr angeforderten Bergepanzer kommen. Dazu ein Vierzigtonnenkran. Aber wann die eintreffen, kann ich Ihnen nicht sagen», erklärt er und fügt dann noch weitere Angaben über seinen derzeitigen Kenntnisstand hinzu.

      Das wird wohl kaum ausreichen überlegt Anna: Es waren zwölf Wagen plus Triebköpfe. Das macht etwa achthundert Tonnen, dazu das Mittelstück der Brücke, schätzungsweise zweihundert Tonnen. Drei Wagen vor der Brücke und der Rest dahinter. Und die vorderen können nicht gefahren werden. Wagen drei hat wohl einen Brückenpfeiler erwischt und ist im hinteren Teil stark beschädigt.

      «Das EBA hat im ersten Wagen also einen Radlenker gesehen, der durch den Boden gekommen ist.» Annas Wiederholung seiner Aussage bleibt vom Kollegen unkommentiert, stattdessen sagt er, die Arme vor der Brust verschränkt:

      «Die wollen von Ihnen wissen, wo und wie sie die Teile anpacken sollen.»

      Auch wenn Anna gut funktioniert – denn das tut sie eigentlich immer – weiß sie zwischenzeitlich nicht, was sie denken soll: Ein großes Mitgefühl für die Fahrgäste und die Angehörigen hat sich in ihr breit gemacht, droht überhandzunehmen. In ihrer Phantasie machen die Geschwindigkeit und die Wucht des Aufpralls eine Art Schleife, wiederholen sich wieder und wieder.

      Und dennoch versucht sie innerlich Abstand zu halten. Das muss sie auch. Das hat man ihr beigebracht, das hat sie gelernt. Sonst kann sie den Job nicht machen. Ein paar Leute