Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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verhängnisvolles Ereignis, das einen oder viele Menschen trifft

       2. a. Zustand des Geschädigtseins durch ein schlimmes, unheilvolles Ereignis

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Fünf nach zwölf

      Das, was der Kollege da erzählt, klingt schrecklich. Anna schaudert es. Ihre ohnehin nicht ganz bodenfesten Gedanken beginnen erneut zu schwanken. Noch während der Kollege berichtet, schaltet Anna den Fernseher ein. Sie zappt von Programm zu Programm in der Hoffnung, auf ein Bild zu stoßen, das ihr einen Eindruck vermitteln könnte, von dem was ihr Kollege da erzählt. Auf jedem Programm ist etwas anderes zu sehen, mehr noch zu hören. Was sie allerdings nicht genau mitbekommt, denn die angestrengt ruhige Stimme an ihrem Ohr spricht gleichzeitig: Möglicherweise habe es auf der an der Strecke befindlichen Straßenbrücke einen Unfall gegeben, erklärt der Kollege am Telefon weiter. Die Rettungsarbeiten seien in vollem Gang.

      Anna ist schockiert. Wie viele mögen es wohl sein, die da in den Trümmern stecken? Hastig überlegt sie. Welcher Zug war das? Wilhelm Conrad Röntgen ICE 884 von München nach Hamburg. Wie gut, dass Max schon ein paar Minuten zuvor losgefahren ist! Ihre private Erleichterung macht nun der aufmerksamen Angestellten Platz.

      Als zuständige Ingenieurin müsse sie sich das neben den Kollegen ansehen und dokumentieren, außerdem solle sie der Feuerwehr Angaben machen, wo und wie die Zugteile gehoben werden können, gibt der Kollege die Anordnung an Anna weiter, da sie Expertin für den ICE 1 sei und ihr Weg schließlich auch kürzer als von München, Berlin oder Nürnberg. Die aus Hannover seien unterwegs und ihr Kollege habe noch Urlaub und sei sowieso zu weit weg. Und da der Ort nicht mehr mit der Bahn zu erreichen sei, müsse sie den Privatwagen nehmen, wenn sie einen hat? Ja, antwortet Anna, geht klar, sie will schnell packen und sofort losfahren.

      Am Telefon werden Anna Name und Mobiltelefonnummer des Kollegen vor Ort weitergegeben, der wird ihr neben den neuesten Informationen auch einen Ausweis aushändigen für den Fall, dass sie ihren im Büro liegen hat, damit sie den Streckenabschnitt überhaupt betreten darf. Alles Weitere würde sie dann in Eschede selbst erfahren, sagt er abschließend und danach legt auch Anna den Hörer auf. Plastik auf Plastik. Beim Zug ist fast alles aus Metall. Metall auf Metall. Und Glas. Große Flächen Sicherheitsglas. Schnell schlüpft sie in ihren üblichen Hosenanzug und versucht dann, den Kollegen zu erreichen, damit sie ihm ihr Autokennzeichen, Wagentyp und eine Beschreibung ihrer Person durchgeben kann. Wenn sie Glück hat, kommt sie noch vor einer Straßenabsperrung durch, die es mit Sicherheit irgendwann geben wird.

      Was für ein Chaos! Anna greift in eine Schachtel im Schrank, in der sie ihre Kamera und die Filme aufbewahrt. Sie nimmt das Weitwinkelobjektiv und auch das fünfziger Objektiv heraus, legt eine neue Sechserpackung Filme dazu, mehr hat sie nicht da. Sie schaltet den Fernseher ab. Ein Diktiergerät besitzt sie privat nicht, dafür holt sie einen Block und ein paar Stifte aus der Schreibtischschublade. Vielleicht kann der Kollege vor Ort aushelfen. Ob der eine Polaroid-Kamera hat? Hat sie wirklich ihre Sicherheitsschuhe im Auto? Na klar, hat sie doch immer, überzeugt sich Anna selbst: Sie ist doch stets einsatzbereit. Also noch eine Tasche für Klamotten. Fertig.

      Anna ist schon fast zur Tür hinaus, als sie sich erinnert, dass sie Max eine Nachricht hinterlassen sollte, damit er Bescheid weiß. Sie schreibt auf einen Zettel:

      «Lieber Max, tut mir leid! Aber es hat einen Unfall gegeben (Eschede) und ich soll die Doku machen. Kann länger dauern. Machs Dir schön, bandel nicht mit Nina an! Kuss, Anna.»

      Darunter notiert sie noch den Namen und die Telefonnummer des Kollegen, damit Max sich bei ihr melden kann. Sie blickt sich kurz im Flur um und legt dann den Zettel neben das Telefon auf das Schränkchen. Wenn sie erst zusammenwohnen, wird sich einspielen, wo und wie sie Nachrichten füreinander hinterlassen. Außerdem ist jetzt wohl die Zeit reif, dass sie sich auch ein Handy zulegt. Mit Schwung zieht sie die Tür hinter sich zu und bemerkt nicht, dass der Zettel vom Tischchen geweht wird, und eilt die Treppe hinunter.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Ein fauler Tag

      Es ist Mini, die durch ihren Anruf Silvia so verschreckt hat. Sie möchte wissen, ob ihre Schwester sich erinnern könne, zu welcher Firma Max hatte fahren wollen. Richtung Hamburg sei er unterwegs, das wisse sie noch, mehr aber auch nicht. Der Kloß in Silvias Hals wird immer dicker. Hatte Max denn den Firmennamen beim Hemdenabstecken noch genannt? Müde und in ihre Arbeit vertieft hat Silvia wahrscheinlich nicht richtig zugehört. Sie sagt Mini, sie solle auf seinem Schreibtisch nochmal nachsehen.

      «Kein Zettel? Ist wirklich kein Hinweis da? Nicht mal etwas irgendwohin gekritzelt? Vielleicht weiß Mutter etwas? Wollen wir sie anrufen? Nein, lieber nicht. Wir wollen sie nicht unnötig in Angst und Schrecken versetzen.»

      «Und Papa? Hast du ihn schon gefragt?» Silvia ist sich nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollen.

      Mini gibt ihrer großen Schwester allerlei Kürzel von Max´ Schreibtischunterlage und Silvia telefoniert mit Hilfe der Telefonauskunft die in Frage kommenden Firmen ab, um zu erfahren, ob Max dort angekommen ist.

      «Und keiner will dir Antwort geben? Haben die denn die Nachrichten nicht gehört?», empört sich Silvias Freundin Jenny, die, wie so oft auch heute, auf einen Tee von der nahegelegenen Uni her bei ihr vorbeigekommen ist.

      «Nein.»

      Eine gefühlte Ewigkeit später gibt es auch eine Unfall-Hotline. Eine Nummer oder besser gesagt zwei Telefonnummern, eine in Hamburg und eine in Hannover. Wie gut, dass es Tastentelefone gibt. Und die Wahlwiederholung ist auch eine sehr gute Erfindung, geradezu perfekt für solche Anlässe.

      Sie laufen tatsächlich heiß, diese Nummern. Denn es dauert mitunter viele Versuche und viele Minuten bis zu einem ersehnten Freizeichen und ehe jemand am anderen Ende der Leitung ist. Der Hörer scheint bereits klebrig zu glühen.

      «Wann ist es sinnvoll, wieder anzurufen?»

      Aufgewühlt erhält Silvia die Antwort, dass zu oft anrufen nicht so gut sei. Sie wisse ja selbst, wie schwierig es sei durchzukommen. Wer weiß schon, welche Nummer die richtige Nummer ist. Und falls Max im Zug war, wohin man ihn gebracht hat. Oder gehört er zu denen, die erst viel später geborgen werden können? Ganz oder in Teilen? Oder vielleicht steckt er schon mitten in seinem Vorstellungsgespräch und hat gar keine Nachrichten mitbekommen? Es gibt zwei Züge, die für Max in Frage gekommen sind!

       Das ist ein guter Gedanke.

      Von der Vorstellung beseelt, den Bruder irgendwo heile zu erreichen, telefoniert Silvia weiter. Viele Firmen fangen mit den Kürzeln an, die Mini ihr gegeben hat. Und zahlreiche Anrufe gehen zwischen Mini und Silvia hin und her, außerhalb der Reichweite der Hotline und anderen Einrichtungen. Eine der sich ähnelnden Antworten lautet: «Was wollen Sie? Das werde ich Ihnen nicht sagen, wer hier Vorstellungsgespräche hat!» Und Silvia entgegnet dann: «Das müssen Sie auch nicht, ich möchte nur wissen, ob mein Bruder eins bei Ihnen hat.»

      Die Suche nach Max ist mühsam und menschlich unerfreulich. Teils weil die Leute nichts vom Unfall gehört haben, teils weil es ihnen schlicht egal zu sein scheint.

       Wer wählt bei den Firmen eigentlich die Musik für die Warteschleifen aus?

      Das Mozartstück von vorhin war okay, aber der Rest?

      Gleichzeitig ist da der Gedanke, dass Max sich selbst bei belegter Leitung gar nicht melden kann. Also muss eine Leitung frei bleiben. Und so fordert Silvia ihre kleine Schwester auf, nicht von sich aus zu telefonieren, bis sie mehr in Erfahrung gebracht haben.

      Mittlerweile sind einige Stunden vergangen. Viele verschiedene Gesichter und Stimmen klären die Fernsehzuschauer und Radiohörer über eine Vielzahl von Möglichkeiten auf, wie und warum der Unfall passiert sein könnte. Die genaue Anzahl der Toten und Verletzten stehe noch nicht fest.

       Das hilft uns jetzt auch nicht weiter.

      Ach, sei still, Mick!