Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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schlichte irdische Bedürfnisse.

      Kurz danach werden die Leuchtmittel gebracht, die für die Weiterführung der Arbeit in der Nacht sorgen. Mittlerweile sind es über tausend Helfer, und bisher wurden fünfundsiebzig Tote und circa fünfunddreißig Schwerverletzte gezählt. Für weitere Blutspender wird eine Verkehrsregelung notwendig. Der Abtransport der Leichen wird durch Begleitfahrzeuge gesichert. Das sind beinahe neutrale Informationen in einem Regelwerk aus Arbeit. Informationen zum Ablauf machen aus diesem Chaos eine halbwegs überschaubare Angelegenheit.

      1998, Erich Preuß, «Eschede, 10 Uhr 59», Seite 23

      «Noch am Tag des Unfalls werden die Servicemitarbeiter auf den Bahnhöfen und in den Zügen gebeten, ‹ab morgen als Zeichen ihres Mitgefühls und ihres Respekts vor den Toten einen Trauerflor zu tragen.› Die Großbildleinwände in den Bahnhöfen senden bis auf weiteres kein Unterhaltungsprogramm.»

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Terminersuchen

      Herr Ade ist für ein paar Tage in sein Refugium an der Nordsee gefahren, um aufzutanken. Und da er aus terminlichen Gründen seine Reise im Mai nicht antreten konnte, nutzt er die ersten Junitage dafür.

      Frau Zett ist gerade im Begriff das Büro zu verlassen, als sie noch das letzte Telefonat für diesen Tag annimmt. Kaum hat sie die Bitte um einen raschen Termin aufgenommen, stellt sie zunächst einmal dem Kunden gegenüber klar, dass Professor Ade nicht vor Ort sei. Und der Anrufer es ihr überlassen müsse in Erfahrung zu bringen, ob Professor Ade Zeit habe.

      Mittwoch, 3. Juni 1998, Ohne Verbindung

      Für ein paar Stunden darf sich Anna zurückziehen. Bei Tageslicht wird das geborgene Material weiter gesichtet und dokumentiert werden müssen.

      Ihr ist es mittlerweile egal wo sie schläft. Die Hotelzimmer sind belegt. Als Anna kurz nach Mitternacht ins Bett einer Pension in der Nähe sinkt, ist sie nur noch irritiert, dass sie Max nicht erreicht hat. Dann wird er wohl unterwegs sein oder bei Nina oder vielleicht ist er auch nach Hause zurückgefahren, als er die Nachrichten gehört hat? Dass sie noch hier bleiben muss, versteht er doch sicherlich, oder? Aber so spät noch in seinem Elternhaus anzurufen traut sie sich nicht. Das kann sie morgen bei Tag machen.

      Donnerstag, 4. Juni 1998, Ansichtssache

      Sehr früh am Morgen – beinahe noch nachts – hält es Mini nicht mehr aus. Ein Name der eingelieferten Unfallopfer klingt dem ihres großen Bruders Max sehr ähnlich. Nein, die Hotline hat nur diesen einen Namen, keine weiteren kommen für die Geschwister bisher in Betracht. Nach kurzer Absprache mit ihrer großen Schwester, die irgendwie in ihrer Wohnung festzukleben scheint, fährt Mini mit ein paar Freunden des Bruders in die Stadt, in der dieser Mann liegen soll, während Mutter und Vater vorerst jeder bei sich zu Hause bleiben, wo sich ein paar Freunde um sie kümmern.

      Die Haarfarbe stimmt, aber der Rest?

       Seltsam.

      Vielleicht will Mini sich nicht sicher sein, denkt Silvia bei sich, als sie deren Beschreibungen am Telefon hört. Weil das dort alles so schrecklich aussieht? Wie muss die große Schwester ihrer kleinen Schwester die Fragen stellen, ohne mit direkten Worten Unaussprechliches zu benennen, um trotzdem etwas herauszubringen?

      «Die Narbe am Rücken könnte es sein, aber sicher bin ich mir nicht. Und seine Kleidung ist nicht da.» Mini hat den Mann bisher nur in Bauchlage gesehen und muss die Prozedur des Umlagerns abwarten.

      Silvia kann sich keine Vorstellung davon machen, wie es dort im Krankenhaus auf der Intensivstation zugeht und warum das Identifizieren so schwierig sein soll. Sie muss warten, bis die Vorderseite des dort liegenden Mannes zu sehen ist. Mittlerweile wird ihr aber klar, dass das Warten genauso sinnlos ist, wie das Fahren an den vielleicht falschen Ort.

       Was, wenn er doch nach Hamburg gebracht wurde?

      Vielleicht aber auch nicht. Wie hieß es doch? Die zuerst Versorgten wurden in die nahegelegenen Krankenhäuser gebracht, andere mussten teils auch wegen ihrer speziellen Verletzungen woanders hingebracht werden?

       Und hat nicht derjenige mehr Chancen, der zuerst gefunden und versorgt wird? Ist eine Namensähnlichkeit nicht möglicherweise ein Hinweis darauf, dass er noch sprechen kann oder zumindest irgendwann noch sprechen konnte?

      Silvia beschließt, nun doch ins Krankenhaus zu ihrer Schwester zu kommen. Adrian fährt. Ihre Freundin Jenny begleitet sie. Was für eine gute Freundin sie ist, weiß Silvia eigentlich noch gar nicht. Das Auto ist recht warm, obwohl es noch nicht mal Mittag ist. Die Sonne lugt fröhlich um die Häuserecken und es verspricht wieder, ein wirklich warmer Tag zu werden. Normalerweise sind es für Mini und Silvia die schönsten Tage im ganzen Jahr. Nur Max hat immer gespöttelt, das sei sentimentales Gefasel und jede Jahreszeit hätte doch ihre Momente.

      Das Warten hat sich etwas verändert. Silvia wird nun gefahren, statt in der Wohnung hin- und herzulaufen. Das Nichts-tun-können weicht einem Was-werde-ich-zu-sehen-bekommen.

      Die Strecke ist beides, lang und kurz. Ein verlässliches Gefühl für Zeit ist nicht mehr da. Silvia hat die Stimmen Leute von der Hotline noch im Ohr: «Rufen Sie doch später wieder an, aber wenn es möglich ist, bitte nicht zu oft. Sie merken ja selbst, wie schwer es ist, bei uns durchzukommen.» Die Stimmen waren alle unterschiedlich und doch ähnelten sie sich. Keine von ihnen war auch nur einmal unfreundlich oder ungeduldig geworden. Der Ton macht eben die Musik. Oder wie Mozart es ausdrückte:

       Die Musik steckt nicht in den Noten, sondern im Raum dazwischen.

      Ob das auch Bahnmitarbeiter sind? Silvia ist sich nicht sicher und will es eigentlich auch gar nicht wissen. Vielmehr will sie wissen, wo ihr Bruder ist und vor allem was mit ihm ist. Die Sonne scheint weiterhin, und der Tag ist von außen betrachtet immer noch ein echter Frühsommertag wie er oft in einem Jahreszeitenkalender abgebildet wird.

      Mittlerweile ist es Donnerstagmorgen. Dienstagnachmittag hat Silvia Max zuletzt gesehen. Also vor einer Ewigkeit, wenn sie an die bisherige Suche nach ihm denkt. Nachdem sie sich irgendwann mitten in der Nacht zum Donnerstag doch hingelegt und so etwas Ähnliches wie ein bisschen Dämmerschlaf gefunden hatte, stecken Angst, Sorge und auch Müdigkeit in ihr fest. Silvia hat keine Vorstellung davon was sie erwartet, und die Worte ihrer Tante Erika «Ich bete für euch alle» haben nichts Tröstliches. Im Gegenteil. Warum, warum, warum er?

       Max hat sich nicht gemeldet, also ist er dabei?

      Er ist ja manchmal etwas sonderbar und eher einsilbig, aber einfach so zu verschwinden traut sie ihm nicht zu. Solche Sorge anderer würde er nicht für seine persönliche Freiheit in Kauf nehmen. Auch wenn er alles satthatte, bisher hat er sich immer um die Familie gekümmert. Und jetzt, da der Verkauf des Elternhauses und die Auflösung des väterlichen Büros mitsamt Max´ dortigem Arbeitsplatz ansteht und er sein eigenes selbstbestimmtes Leben beginnen kann, doch sowieso.

      «Was haben die denn geraucht?», fragte Jan, Silvias bester Freund, als er gestern spät am Abend von seiner Schicht kommend vorbeisah und gerade noch einen Teil der Nachrichten mitbekam. Nachdem es doch kein Autounfall auf der Brücke war, sollten nun fliegende Kühe den Unfall verursacht haben? Was für eine Idee! Die Hände hätte der Mann zumindest aus den Taschen nehmen können und sich auch aufrecht hinsetzen.

       Jeder, wie er kann.

      Wir müssen alle einmal sterben. Die einen früher, die anderen später. Im Tod allerdings sind alle gleich – ja, nur sind die einen früher tot, die anderen später. Wann ist gleich gleich? Interessiert es den Tod denn, was derjenige tat, bevor er kommt?

      Die Gedanken hüpfen hin und her, haben keine Struktur – sind sie ihren Sinn los? Nein, bestimmt nicht! Dumm ist nur, dass sie