Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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Einleitungen bei seinen Vorlesungen, welche Professor Ade gerne auf diese Weise beginnt und mit einem Lächeln in sein mehr oder seltener auch minder aufmerksam lauschendes Publikum ergänzt.

      Das Lächeln umspielt nur wenig mehr als die Lippen, seine klaren grauen Augen erreicht es dabei nicht ganz. Hochaufgeschossen und für jegliche Dinge aufgeschlossen hatte Herr Professor Ade sein Amt vor einem Jahr an der Hochschule angetreten.

      Er ist ein Mann, der weiß was er will und wer er ist. Er ist jemand, der – im Gegensatz zu vielen anderen Männern – auch weiß was oder vielmehr wer er nicht sein möchte. Der von ihm mit seiner etwas rauen und dennoch melodischen Stimme in Schwingung versetzte Universitätsraum ist etwas älter, klassisch eingerichtet in Holz mit Holz, und eine gute Ausgangslage für vieles. Oft weiß man zu Beginn nicht wie eine Sache ausgehen wird, denkt er, aber man kann einiges dafür tun, um es in die Richtung zu bringen, die man für sinnvoll erachtet – Dinge die sich rechnen lassen. Er mag es, wenn seine Stimme auch ohne Mikrofon nur mit Hilfe der architektonisch gut durchdachten Akustik noch die hinterste Reihe erreicht.

      «Sie werden in diesem Studiengang lernen wie man Dinge lenkt. Aber nur, wenn Sie sich dafür eignen. Sie werden die Geschicke der Staatsorgane wie ein Marionettenspieler in der Hand haben. Nicht, indem Sie sich in der Öffentlichkeit prostituieren, sondern unsichtbar hinter dem grauen Vorhang der Bürokratie im Verborgenen handeln. Bevor die Figuren es bemerken, werden Sie sie bereits bewegt haben. Wenn Sie gut sind, werden Sie Ihre Grenzen erkennen.» Meist hat sein Publikum Mühe, ihm zu folgen. Auch seine leisen Scherze werden leider nicht immer als solche erkannt. Was die Leute im Hörsaal als geistreich unterhaltend empfinden, ist für ihn Alltag, den er mit Freude gestaltet. Vielleicht trifft er den ein oder anderen von ihnen in ein paar Jahren nur in anderem Ambiente wieder. Er hatte schon immer gerne mit Menschen gearbeitet.

      Da ist sie wieder: Die Kraft der Rhetorik! Sie ist sein Mittel der Kommunikation. Eine Möglichkeit, mit Sprache zum Verständnis beizutragen. Nichts anderes tut er. Er macht seinem Publikum wirksam seinen Standpunkt klar. Das war schon bei seinem Vater so, er kennt es gar nicht anders. Er geht den Weg unbeirrt fort, den sein Vater so vorzüglich beschritten hat, genau wie sein Großvater zuvor. Er wäre ein Narr, wenn er die Firma nicht weiterführte. Er will in seinem Leben Verschiedenes erreichen. Seine guten Kontakte tun ihr Übriges. Und so hat er schon früh eine Anerkennung als bester Jungunternehmer erhalten und sich damit seine Sporen verdient. Aber das ist nicht das Ziel, eher nur eine Basis, für seine selbstgewählten Aufgaben.

      Seine Besuche zu Hause gelten weniger der Familie als der Arbeit des Vaters. Beruflich gesehen sein Vorbild, das er zu überragen gedachte. Nicht wie kleine Kinder spielen oder pokern, und dann verzweifelt jammern, wenn sie das Spiel verlieren.

      Überhaupt besteht sein Leben aus Überragendem. Körperlich groß gewachsen, daher auch die Anfertigung der höheren Bergère-Sessel, weil die Originale ihm nicht gerecht werden. Da sind die Fußstapfen des Vaters, die Fürsorge der Mutter und der Neid der Geschwister auf seine klare Vorstellung vom Leben.

      Eines seiner Ziele, dem Herausragenden aus allen übrigen, ist ihm dank Fleiß und Ausdauer geglückt. Aber was heißt geglückt? Er hat es gewählt und erreicht. Mehr fühlt er es, als dass er es wirklich weiß – er verlässt sich in diesem Punkt auch auf seine Sekretärin, Frau Zett, und ihre Quellen – weit geachtet sei er, manches Mal auch gefürchtet, weit gekommen und von allem weit weg, so wie er es immer wollte. Was ihm guttut, ist auch für andere gut. Auch wenn es manchmal etwas einsam um ihn herum ist, so bindet ihn bisher doch nichts an eine Art Stammtisch oder Ähnliches. Er ist lieber mit sich allein, als dass er einsam unter vielen Menschen sich Situationen anpassen muss, die andere ihm vorgeben.

      Etwas mehr Beachtung könnte er seinen eigenen Ideen allerdings schenken, fühlt er. Vielleicht ergibt sich so nach und nach die Möglichkeit, es sich beruflich etwas bequemer machen zu können. Für ihn werden sich die Gelegenheiten bieten. Man ist, was man denkt. Und er ist gut, sehr gut sogar.

      Montag, 22. Dezember 1997, Annas Kostensenkungspotenzial

      Kalt und trübe ist es heute. Daran ändert auch die übermäßige Weihnachtsdekoration in den Straßen nichts. Anna lässt sich im Strom der zu den Büros hastenden Menschen mittreiben.

      Sie mag das Gefühl, Schritt halten zu können. Und auch den Gedanken, trotz aller Gleichförmigkeit fröhlich aus der Menge herauszuschauen. Nicht weit oberhalb ihrer Köpfe hängt das Grau tief über der Stadt. Und da heute ausnahmsweise mal kein Wind weht, scheinen sich die Wolken immer weiter auf die Häuser und Menschen herabzusenken.

      Das stört Anna jedoch nicht, denn sie weiß wie der Lauf der Dinge ist: Nach der dunklen Zeit folgen automatisch die immer heller werdenden Tage. Außerdem setzt sie sich sowieso gerne über Dinge hinweg, die andere zu stören scheinen. Was nicht heißt, dass sie ihre Familie absichtlich kränken will, wenn sie die Feiertage nicht mehr zu Hause verbringt und sich von ihnen absetzt. Es ist viel mehr nur so, dass Anna einen anderen Freiraum braucht als ihre Geschwister. Und mit ihrer guten Laune scheint sie ihrer Familie ohnehin manches Mal auf den Geist zu gehen. Dann trifft sie sich lieber mit Freunden, die ihr sonniges Gemüt mehr zu schätzen wissen.

      Als Anna vor einem Jahr in dieser Abteilung des Konzerns zu arbeiten begann, hatte sie sich intensiv auf den Job vorbereitet. Sie hatte ihre Antennen in viele Richtungen ausgerichtet und ihre diversen Praktika halfen ihr dabei. Mit drei älteren Geschwistern aufgewachsen, hatte sie schon früh gelernt, sich bemerkbar zu machen. Damals waren es geschwisterliche Rangeleien, heute sind es die skeptischen Blicke und Bemerkungen der vorwiegend männlichen Kollegen, gegen die sie sich meist mit einem Lächeln durchsetzt.

      Durch Sport und jede Menge Wassertrinken hat sie es mit Mitte zwanzig endlich geschafft, ihren bis ins Studium hinein deutlich sichtbaren Babyspeck loszuwerden. «Wer dynamisch sein will, sollte auch dynamisch aussehen» hatte einer ihrer Brüder sie oft aufgezogen. Mit ein paar aufhellenden Strähnchen hier und da in ihrem ansonsten eher dunkelblonden Haar verhilft sie ihrem Äußeren zu mehr Glanz. Damit kommt sie gut durch die tristen Tage. Sie mag auch den gelegentlichen Gang ins Sonnenstudio ganz gern. Anna arbeitet hart an sich und genießt die kleinen privaten Erfolge ebenso wie die großen beruflichen, zu denen sie sich Stück für Stück vorarbeitet.

      An ihrer geringen Körpergröße kann sie nichts ändern, allenfalls höhere Absätze tragen. Sie ist eben die Kleinste in der Familie, als hätte es bei ihr nicht mehr gereicht. Genauso wie die Geduld ihres Vaters, die er, wie es Anna scheint, bei seinen drei älteren Kindern bereits aufgebraucht hat. Sie kennt ihn gar nicht anders. Hat sie die Ungeduld von ihm? Das scheint irgendwie paradox zu sein.

      Aber nun ist sie hier und hat einen guten Job, der sie von allen unabhängig und vor allem selbstsicherer macht. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen was man tut und wie die Dinge laufen. Das tägliche Einerlei eines einfachen Verwaltungsjobs hatte sie auch kennengelernt und beschlossen, dass eine solche Einöde ihrer kreativen Ader und damit ihrem Potential auf Dauer nur abträglich sein würde. Ganz zu schweigen von ihrer guten Laune. Also hat sie sich ein anderes Betätigungsfeld als das schlichte Verwalten gesucht und schließlich im Rahmen ihres jetzigen Arbeitsgebietes ihren persönlichen Ablaufplan aufgestellt.

      Annas Augen und Hände beginnen aus Gewohnheit den Monatsbericht wie immer, aber eine Kleinigkeit stört sie. Sie weiß nicht was es ist, dafür ist es auch viel zu leise. Ein undefinierbares Etwas klopft zaghaft in ihr an und erhält eine Abfuhr. Jetzt nicht! Ihre normale Arbeitsweise will sie nicht durch unklare Betrachtungen in Gefahr bringen. Und so beendet sie den Bericht auch fast wie immer, jedoch nicht ganz so leichtgängig wie sonst. Etwas anderes in ihr treibt sie zur Eile an und das ist stärker als dasjenige, das sich nur zaghaft traut, sich verständlich zu machen. Solls halt deutlicher werden oder Ruhe geben. Anna hat Termine einzuhalten, damit alles glatt läuft, denn das Prämiensystem hat so seine Tücken. Aber immerhin kommt sie, wenn sie diesen Bericht klug einsetzt, nicht nur ihrem geliebten Hamburg ein Stück näher, sie kann auch den nächsten Urlaub mit Max erweitern.

      Ihr Rhythmus gibt Anna Sicherheit. Etwas anderes kommt derzeit nicht in Frage. Aber wann hatte Anna sich das letzte Mal überhaupt Fragen gestellt? Wann hatte sie das letzte