Unglück. Iris Wandering. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Wandering
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761934
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Jugendmannschaft. Sie begrüßen sich kurz und wünschen sich zurufend oder schulterklopfend ein gutes neues Jahr. Aus dem Umkleideraum nebenan hören sie das, was aus der Damenumkleide immer zuhören ist – obwohl es nur wenige Frauen sind –, bei jedem neuen Eintreten zuerst Neujahrsglückwünsche, mit und ohne Kussgeräusche, dann Kichern, Lachen und jede Menge Tratsch, normalerweise gemischt mit ein paar Fakten aus der vergangenen Woche.

      Heute allerdings mehr, denn über Weihnachten und Neujahr haben sie nicht trainiert und es haben sich ein paar Worte mehr angesammelt. Wozu sich selbst unterhalten, wenn doch von dort alles so gut zu hören ist? Und mit etwas Geduld erfährt man vor dem Spielen in etwa das Gleiche, was sie unter Männern erzählt hätten, hier vermutlich nur kürzer und mit etwas anderen Worten.

      Er zieht sich um, nicht wissend, dass er manchmal beneidet wird. Max ist groß und schlank, das schon. Dass seine hellen Augen und das dunkle Haar, das sich um seinen Kopf ringelt, in manchen Augen Aufsehen erregt, weiß er nicht so ganz genau. Er ist ja auch nicht der Einzige, der so aussieht. Für seinen Schopf kann er genauso wenig wie für seinen durchtrainierten Körper, den er gar nicht trainiert. Der einzige Sport, den er betreibt, ist das wöchentliche Volleyballspiel. Sonst nichts. Sonst ist er damit beschäftigt, Haus und Hof und Familie am Laufen zu halten. Er sieht eher aus wie ein typischer Läufer, immer in Bewegung. Auffällig ist seine Händedruck. Max ist handfest.

      Nachdem er sich umgezogen hat, geht Max in die Halle und hilft eines der Netze aufzubauen. Mit den Gedanken ist er bei Anna. Wo sie nur wieder bleibt? Wieso nur kommen Frauen eigentlich immer zu spät? Na ja, macht nichts. Sie sind ja ohnehin verabredet, nachher im «Filius». Das Lokal liegt nicht weit von der Halle entfernt und ist so etwas wie ihr Stammlokal geworden.

      Oder hat Anna es sich anders überlegt? Ist bei ihr «anders überlegt» mit der ihr eigenen energiegeladenen Überstundenbereitschaft zu übersetzen?

      Ah, da kommt sie ja. Und sie strahlt über das ganze Gesicht. Sie leuchtet richtig! Kopfschüttelnd lächelt Max in sich hinein. Wenn sie wüsste, wie sehr sie ihn immer wieder amüsiert.

      «Hey, du – ich habs geschafft!» Anna sieht ihn glücklich an und wedelt mit der an ihr festgewachsenen Wasserflasche hin und her.

      «Na, die Uhr lesen kannst du schon mal nicht gemeint haben», meint Max grinsend und wartet, die dichten dunklen Augenbrauen zu einer fast grinsenden Frage hochgezogen, auf das, was da gleich aus ihr herausprudeln wird.

      «Nee, hör auf. Ich musste wieder länger machen. Der Leiter des Betriebswerks in Hamburg stellt sich zwar ein wenig quer, der hat aber ohnehin nicht zu entscheiden. Ich denke, ich habe das Zwischenziel erreicht und dann kanns bald losgehen!»

      «Das trifft sich gut, hier kann es mit dir nämlich auch gleich richtig losgehen. Apropos gehen – wo sind denn deine Schuhe? Sag nicht, du hast sie schon wieder … »

      «Hier habe ich sie doch! Hörst du mir eigentlich überhaupt zu? Ich hab gesagt, es ist so weit, ich hab den Job so gut wie in der Tasche! Und dann gehts ab nach Hamburg!» Zufrieden erläutert sie Max knapp, dass der Chef ihr signalisiert habe, dass, wenn sie die Absenkung im Gegensatz zu ihrem Kollegen durchführe, Anna nach Hamburg gehen könne. Und Max weiß ohnehin, dass Hamburg immer schon Annas erklärtes Ziel gewesen ist.

      «Na klar, klingt das toll!», stimmt er Anna lächelnd zu, nimmt sie in die Arme und gibt ihr einen Kuss. So schnell hatte Max sich das zwar nicht vorgestellt, aber dann würde er sich eben auch in Hamburg eine Arbeit suchen.

      Die anderen kennen das Spielchen schon und wissen, dass es sowieso erst richtig losgeht, wenn Anna und dann noch später auch Ben erscheint.

      Was Anna und Max verbindet ist ihnen allen nicht ganz klar, besonders dem Griesgram Ben nicht, aber es scheint für die beiden zu passen. Warum auch nicht: Anna redet die ganze Zeit und Max hört zu. Auch äußerlich sind sie das genaue Gegenteil, denn Anna ist blond und recht klein. Ihr langes, leicht gelocktes Haar trägt sie gerne offen. Und da sie es durch tägliches Waschen in Form bringt, weht ihr immer der frische Duft ihres Shampoos nach.

      Oft ist es lustig, wenn Annas Luftschlösschen auf Max´ praktisches Wesen treffen. Vielleicht kann man das auch als liebevolles Erden bezeichnen. Einen langen Atem hat er ja schon bewiesen, so, wie sie sich am Anfang geziert hat. Oder ist es bei ihr überhaupt eher Unsicherheit? Ihre Rufe beim Spiel sind manchmal kaum zu hören und dann wieder ist sie unüberhörbar, fast zu laut. Na, jeder wie er will oder kann. Und hat nicht jeder Mensch mehr als nur zwei Seiten?

      Im Winter sitzen sie nach dem Training immer noch ein Weilchen im «Filius» zusammen. Als der Wirt für manche die zweite Runde Getränke bringt, sieht Max ihn an und denkt, der ist auch einer, der sich um die Eltern gekümmert hat und aus Pflichtgefühl einfach da geblieben ist. Einfach?

      Er, Max, würde den Absprung jedenfalls schaffen. Das Loslösen von zu Hause, von der Familie. Und wenn alles gut geht, mit Anna dann in Hamburg loslegen. Im Sommer, wenn sowieso alles irgendwie neu sein wird. Silvia hat versprochen, sich um einen Heimplatz für ihren Vater zu kümmern und seine kleinste Schwester Mini wird nach ihrem Abitur auch woandershin gehen. Abgesehen von der Studienplatzlotterie weiß sie wohl selbst noch nicht genau, wohin sie möchte. Überhaupt scheint alles am Loslegen zu sein. Bald ist es soweit. Wenn er es bis jetzt geschafft hatte, dann würde er die letzten Monate auch noch durchhalten. Endlich ist das Ende seiner Zeit im Elternhaus und somit sein Neuanfang in Sicht.

      Wohlig müde von der sportlichen Betätigung, dem kleinen Bier danach und mit der vorsichtigen Freude auf ein neues Leben, sinkt er auf der alten Holzbank noch etwas tiefer und verschränkt wie so oft die Arme vor der Brust. Dabei rutscht der Ärmel Richtung Ellenbogen und gibt den Blick auf die Armbanduhr frei. Ach herrje, schon so spät!

      «Entschuldige bitte.» Er gibt Anna einen Kuss.

      «Ich muss los», sagt er laut in die Runde und klopft einmal kurz auf den Tisch, dann steht er auf.

      «Aber ich hab dir doch noch gar nicht alles erzählt!», wendet Anna ein.

      «Ich ruf dich nachher noch an.» Max deutet nur auf die Uhr und Anna weiß, Max lässt seine kleine Schwester Mini spät abends nicht gerne mit dem Vater alleine. Sobald Mini ihren Führerschein gemacht hat, wird es anders aussehen, aber bis dahin bleibt es bei der Abmachung. Die Sache ist sehr einfach: Solange ihr Vater noch laufen kann, muss Mini dann nicht jedes Mal den Notarzt rufen, sobald er wieder gestürzt ist und seine Platzwunden genäht werden müssen. Der sture alte Herr zu Hause ist ein ewiges Familiendilemma. Aus der von seinem Vater unangetasteten Packung heraus wirken die Medikamente nicht.

      Während Ben noch überlegt, ob es Max´ Verantwortungsmacke ist, die bei Anna so gut ankommt, obwohl Max sie doch wieder alleine lässt, ist dieser schon längst auf dem Parkplatz und dann in der Dunkelheit verschwunden. Warum nur kommt seine Macke bei Anna so gut an?

      Mittwoch, 7. Januar 1998, Kneipengeflüster

      Zwischen Gemüsesäften und weiteren Biersorten – obwohl, ist Hopfen eigentlich ein Gemüse oder ein Kraut? – wird geratscht, geschnackt, geklönt, getalkt, je nachdem woher sie kommen. Sie sind ein bunter Haufen, der sich aus alten Schulkameraden und Zugezogenen zusammensetzt. Ben war eben bei Lukas´ Aufrutschen auf der Bank verstummt.

      «Hat Ben wieder Geschichten über mich erzählt?», fragt Lukas – einer der Neuen und erst seit einem Jahr dabei – in die Runde. Er weiß genau, wie gern Ben plaudert. Komischerweise nimmt kaum jemand Lukas das Schnacken lange übel, was vielleicht an seiner Frohnatur liegen könnte, ganz im Gegenteil zu Bens mürrischem Wesen.

      «Nee, wir sprechen über Max», gibt Ben zwischen zwei Schlucken zu. Er hat eigentlich keine Lust zu antworten, ist das Erzählen aber gewohnt, und darum schlüpfen ihm die Worte von ganz allein heraus: «Max ist eben so, aber okay.» Und mit einem ratlosen Seitenblick auf Anna merkt er noch an: «Wenn man auf den Typ mundfauler großer Bruder steht.» Dann nimmt er das von Max geleerte Glas und stellt es auf den freien Tisch hinter sich. Fast als Zeichen, dass er jetzt da sei – und Max eben nicht.

      «Er kennt einen