Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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er eine Kerze an und stand auf. Im Spiegel zeigten sich die Spuren der vergangenen Nacht. Unter seinen Augen lagen dunkle violette Schatten, tiefe Falten erweckten den Eindruck, als wäre er um Jahre gealtert. Während er mit beiden Händen durch das Haar fuhr, wanderte sein Blick über den Rand des Spiegels hinaus und blieb auf einigen Karten und Briefumschlägen liegen, die mit Stecknadeln an der Wand befestigt waren. Meine Verehrung für den großen Meister, stand da in verblassenden Buchstaben geschrieben. Ein einmaliges Erlebnis. Ich gratuliere. Dürfen wir uns auf ein nächstes Mal freuen?

      Grüße seiner Bewunderer, Lobhudeleien, Komplimente, die ihm nichts bedeuteten, auch wenn sie das notwendige Dekor seines Ruhmes darstellten, den Lorbeerkranz, der seinem Genie die angemessene Krone verlieh. Auf dem Tisch lag ein kleines vergilbtes Bild, mit ausgefransten Rändern, doch immer noch lächelte ihm Moira entgegen. Ihr pechschwarzes Haar war zu einem Knoten aufgesteckt, ein paar widerspenstige Strähnen hingen über ihre weiße Stirn. Er liebte diesen Ausdruck, diesen leicht spöttischen Zug, der seine Seele zum Schmelzen gebracht hatte. Seine Gedanken schweiften weg, zu den glücklichen Tagen, die er mit seiner Frau verbracht hatte. Sie lagen so weit zurück, und trotzdem kam es ihm vor wie gestern.

      Kein Laut war zu hören, nur der zarte Klang einer Kirchenglocke in der Ferne, als er gähnend vor die Tür trat. Der Knecht Ezechiel, ein dicklicher Mann mit einem breiten, faltendurchzogenen Gesicht, in dem ein traurig herabhängender Seehundschnauz saß, stand gebückt beim Feuer und deutete fragend auf den Topf mit dem kochenden Wasser.

      „Danke“, sagte Caligari und setzte sich.

      „Siehst müde aus“, brummte Ezechiel, während er den Tee in die Tassen goss. „Schlecht geschlafen?“

      „Moira hatte eine schlimme Nacht. Hast du was gehört, was sie geängstigt haben könnte? Dein Wagen steht ganz in der Nähe.“

      „Moira? Aber die ist doch immer –“ Ezechiel brach ab. Wenn es um seine Frau ging, verstand der Zauberer keinen Spaß.

      „Du hast doch einen leichten Schlaf."

      „Ich habe keinen Laut gehört, außer –"

      „Außer?"

      Ezechiel griff in seinen Schnauz, bevor er antwortete. „Ich hatte Mühe beim Einschlafen. Und da hörte ich ein Rumoren in ihrem Wagen, als würde sie an die Wand schlagen, dann wieder ein Wimmern. Und ein komisches Lachen."

      „Ich weiß, ich habe es auch gehört.“

      „Es war sehr seltsam, nicht wie sonst“, sagte Ezechiel, nachdem er lange nachgedacht hatte. „Vielleicht der Mond, was weiß ich. Da rennt sie ja immer auf und ab. Dann schlief ich wieder ein.“

      „Irgendwas muss geschehen sein. Und du hast tatsächlich nichts bemerkt, was der Grund für ihr Verhalten gewesen sein könnte?“

      „Keinen Schimmer. Wir waren ja alle weg, in der Abendvorstellung. Sie war allein hier. Allerdings …“

      „Allerdings?“

      Der Knecht zögerte. „Na ja, ich kam ja früher von der Vorstellung zurück, und mir fiel auf, dass die Pferde unruhig waren, als ob … ach, ich weiß nicht ... als ob jemand da gewesen wäre.“

      „Als ob jemand da gewesen wäre?“

      „Ich kann‘s nicht genau sagen. Jemand, der nicht hierhergehört, verstehst du? Ein Fremder.“

      „Das würde allerdings einiges erklären … Ein Fremder.“ Der Knecht zuckte die Schultern. „Ist was gestohlen worden?“

      „Mein Mantel ist verschwunden.“

      „Dein Mantel? Hast du ihn verlegt?“ Caligari fuhr sich nachdenklich über die grauen Schläfen. Dann gab er sich einen Ruck. „Na ja, wir werden sehen. Wahrscheinlich falscher Alarm. Ich werde –“ Ein lauter Ruf ließ beide herumfahren.

      „Moira ist weg!“ Es war Agatha.

      Serafina streckte den Kopf aus der Tür und gähnte. Auf ihrer Schulter saß, mit gesträubtem Gefieder und einem verschlafenen Ausdruck um seine runden Pupillen, Napoleon, der Papagei. Es war noch früh, der Himmel hing weit und weiß über den Bergen, und der Widerschein der Morgenröte verblasste eben am Horizont. Als sie sich der Feuerstelle näherte, merkte sie bestürzt, dass eine heftige Diskussion im Gange war. „Ist was passiert?“

      „Moira ist weg“, antwortete Ezechiel.

      Caligari war außer sich. „Himmelherrgottdonnernochmal!“, fluchte er.

      „Donnernochmal“, echote der Papagei.

      „Psst, sei still!“, zischte Serafina.

      „Donnernochmal!“

      Der Direktor trat aus seinem Wagen. „Was ist los?“ Agatha berichtete ihm mit wenigen Worten.

      Serafina erinnerte sie auf sonderbar vertraute Weise an das letzte Jahr, als Moira in einem unbeobachteten Augenblick Ezechiel überrumpelt hatte. Sie war am nächsten Tag nicht zurückgekehrt und auch nicht am Tag darauf. Schließlich, entmutigt und besorgt, informierten sie die Behörden, und schon bald waren Suchtrupps, unterstützt durch eine johlende Meute ortsansässiger Jugendlicher, auf der Suche nach ihr, doch nach drei Tagen hatte sie, getrieben durch Hunger und Kälte, von selbst den Weg nach Hause gefunden. Man konnte nur hoffen, dass es auch diesmal so glimpflich ablaufen würde.

      „Vielleicht hat man vergessen, die Tür abzuschließen?“, sagte der Direktor missmutig.

      Caligari nickte grimmig. „Wo ist Shi-Sha?“

      Serafina zupfte ihn am Ärmel. „Wir werden sie finden. Sie kann nicht weit sein. Ich bin sicher, dass wir sie –“

      Sie wurde durch Shi-Sha unterbrochen, der zwischen den Wagen auftauchte. „Was gibt‘s denn so Wichtiges?“

      „Moira ist weg!“, schimpfte Caligari.

      „Weg“, krächzte der Papagei und zupfte an Serafinas Ohr.

      „Weg? Schon wieder? Du machst Witze.“

      „Witze. Witze.“

      „Mir ist nicht nach Witzen zu Mute.“

      „Was hat das mit mir zu tun?“

      „Du warst der letzte in ihrem Wagen … Hast du die Tür abgeschlossen?“

      „Natürlich.“

      Von Agatha kam ein höhnisches Kichern. „Wer’s glaubt.“

      „Vielleicht –“, wollte Serafina besänftigende Worte einstreuen, doch Caligari winkte ab.

      Der Direktor hatte sich bis jetzt zurückgehalten, doch nun wurde er unruhig. „Wo ist der Schlüssel?“

      Seufzend steckte Shi-Sha die Hände in die Taschen und holte ihn hervor. Ein überraschtes Murmeln ging durch die Zuschauer. „Und der Käfig war verschlossen?“, fragte Caligari mit gefurchter Stirn. „Bist du sicher?“

      „Auf jeden Fall!“

      „Pfff!“, ließ sich Agatha vernehmen.

      „Halt den Rand, Agatha!“

      „Nun regt euch nicht gleich auf!“, befahl der Direktor. „Es gibt sicher eine vernünftige Erklärung.“

      „Mir gefällt dein Ton nicht“, knurrte Ezechiel. Auch wenn er sich mit seiner Angetrauten tagein, tagaus in den Haaren lag, reagierte er heftig, wenn man sie beleidigte.

      „Ach, dem Herrn gefällt mein Ton nicht?“, bellte Shi-Sha. „Das meint ausgerechnet Ezechiel, der Mann, der bei der Vergabe der Intelligenz krank im Bett lag! Sei gefälligst –“

      „Ruhe jetzt!“, unterbrach der Direktor die Tirade, was erwartungsgemäß zu einer neuen führte.

      „Himmelherrgott! Ich –“, rief Shi-Sha.

      „Genug!“, warnte der Direktor erneut.

      „Ist