Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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auf dem, klein wie Nussschalen, Boote trieben.

      Erst jetzt fiel ihm auf, wie armselig und schäbig die Wagen waren, von Wind und Wetter verwaschen und gebleicht. Der Geruch von billigem Essen und ungewaschenen Kleidern stieg ihm in die Nase. Die Minuten verstrichen. Er trat zögernd in die Wiese hinaus, da schnitt etwas durch die Luft. Er stolperte, fiel und sah Flügel über sich. Einen Augenblick glaubte er, ein Gespenst zu sehen, das ihn erschrecken wollte, doch die Erscheinung entpuppte sich als eine riesige weiße Eule, die sich auf silbernen Schwingen in die Nacht davonmachte. Ärgerlich schimpfend glitt er auf die Füße und wischte den Schmutz von den Kleidern. In der Zwischenzeit war es kalt geworden, er zog den Mantel enger, warf noch einen letzten Blick zurück ... und erstarrte.

      Diesmal wusste er, woher der Schrei gekommen war. Es war ein Wagen, der abseits der anderen stand, kleiner und nicht bemalt, doch es war nicht nur die Abwesenheit der Farben und Zeichnungen, die ihm etwas Trauriges und Trostloses verlieh. Sein Puls schlug hart und schnell, er holte einmal, zweimal tief Luft und huschte mit ein paar Sprüngen näher heran. Der Vorhang vor dem kleinen vergitterten Fenster bauschte sich im Nachtwind. Am Boden kauernd, überlegte er, was er tun sollte. Ein drückendes Gefühl der Angst überfiel ihn. Die Vorstellung, dass sich hinter der Wand ein unheimliches Wesen verbarg, war so schrecklich, dass er kaum noch atmete. In seiner Phantasie versammelten sich die wildesten Kreaturen, nur darauf wartend, dass dumme Jungen wie er den Weg zu ihnen fanden ...

      Was tust du hier, du Idiot? hörte er sich in seinen Gedanken sagen, doch dann meldete sich eine andere Stimme. Sei kein Feigling! rief sie ihm zu. Komm schon! Du willst doch wissen, was da drin ist!

      Mit einem Bittgebet zum Himmel trat er um die Ecke, stieg zögernd die Treppe hoch und klopfte an die Tür, bis er merkte, dass sie nur angelehnt war und wie von selbst aufging. Das Mondlicht warf einen hellen Pfad ins Wageninnere und ließ etwas Glänzendes aufblitzen.

      Ein großer eiserner Käfig.

      Erregung überkam ihn. Einen Moment lang verschwamm alles, doch er verhielt sich ganz still, atmete tief ein, atmete nochmals ein, und sein Blick wurde wieder klar, doch der Drang wegzulaufen war überwältigend. „Was zum Teufel mache ich hier?“, flüsterte er sich zu. Dann fischte er mit zitternden Fingern ein Streichholz aus der Tasche und trat hinein. Sein Herz klopfte wild.

      Die plötzliche Helligkeit blendete ihn. Den hinteren Teil des Raumes beherrschte, einem Zwinger gleich, der Käfig. Die Gitterstäbe strahlten eine Festigkeit aus, die ganz und gar nicht zu dem zerbrechlich wirkenden Wesen passten, das mit aufgerissenen Augen am Gitter stand.

      Es war ein gespenstischer Anblick. Die Frau war klein und zart und reichte ihm kaum bis an die Schultern. Ihre Haut war käseweiß, wie gebleicht, als ob sie lange Zeit keine Sonne gesehen hätte. Sie starrte Jaco unruhig an, doch er hatte nicht den Eindruck, dass sie sich fürchtete. Auf einem Tischchen entdeckte er eine Kerze und zündete sie an. Erneut tauchte das Wageninnere aus dem Dunkel auf. Die Gitterstäbe umschlossen einen kleinen Raum mit einem Bettgestell, auf dem eine Matratze und einige schmutzige Decken und Kissen lagen. „Keine Angst, ich tue Ihnen nichts“, sagte er leise. „Ich habe Sie gehört. Brauchen Sie Hilfe?“

      Ihre Augen blieben so leer wie ein blinder Spiegel.

      „Haben Sie Hunger?“ Er griff nach dem Blechnapf, der auf dem Tischchen lag. Das Essen roch besser, als er befürchtet hatte. „Oder Durst?“ Keine Reaktion. Mit einem letzten Versuch deutete er mit dem Kerzenhalter auf einen Schal, der an einem Haken an der Wand hing. „Ist Ihnen kalt?“

      Sein Gesicht glitt in den Lichtkegel.

      Kaum hatte er den Kerzenhalter wieder gesenkt, bemerkte er eine Veränderung an der Frau. Sie schien starr von einem Schrecken, der so groß war, dass sie nicht mehr atmete. Ihr Mund verzog sich zu einem lautlosen Schrei, ihre eingefallene Brust hob und senkte sich.

      Dann riss sie die Augen auf und stieß sie einen markerschütternden Schrei aus.

      Jaco stolperte vor Schreck rückwärts über Tisch und Schemel und schlug heftig auf dem Boden auf. Im gleichen Augenblick, als er wieder zu atmen wagte, sprang die Frau ans Gitter und begann mit aller Kraft, an den Stäben zu rütteln. Ein Gurgeln ertönte zwischen ihren aufgerissenen Lippen, kaum verständlich am Anfang, doch dann wurde es zu einem Wort, einem Namen, er verstand ihn nicht. Er sprang auf die Beine und stürzte mit einem einzigen Satz zur Tür hinaus und die Treppe hinunter und jagte den Hang hinauf, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

      Eine Schlange in der Dunkelheit

      Caligari warf die Decke zur Seite. Etwas hatte ihn geweckt, ein unheimlicher Laut, den er nicht einordnen konnte. Nach einer Minute ließ er sich kopfschüttelnd in die Kissen zurücksinken. Er fühlte sich wie gerädert, denn er hatte lange nicht einschlafen können, und als er endlich in einen unruhigen Schlummer gefallen war, hatte ihn ein verwirrender Traum gequält. Eine Schlange – das Symbol für kommendes Unglück, aber auch für Verworfenheit und Betrug – hatte sich im Bücherschrank versteckt, und als er ihn geöffnet hatte, war sie herausgeglitten, hatte sich um seinen rechten Arm gewunden, bis er blau war und ein heftiger Schmerz durch seinen Körper brandete. Morgens um zwei hatte er in seinen Büchern nachgeforscht und zu seinem Schrecken eine ganz andere Auslegung gefunden.

      Eine Schlange, die aus dem Dunkel auftaucht, bedeutet die Furcht, ein sorgsam gehütetes Geheimnis könnte uns entrissen werden.

      Er griff nach der Kerze, da hörte er das Geräusch erneut. Einen heftigen Fluch unterdrückend, warf er sich den Mantel über und trat vor die Tür. Die Nacht war eiskalt und sternenklar und leise, doch es schien ihm, als hinge eine unsichtbare Drohung in der Stille.

      Vor Moiras Wagen blieb er stehen. Er konnte sie vor sich sehen. Er sah ihr weißes, zerbrochenes Gesicht, ihre Augen, die wie schwarze Löcher brannten, sobald er den Blick auf sie richtete. Das Verlangen, das Geräusch als Phantasie seines übermüdeten Geistes abzutun und schleunigst ins warme Bett zurückzukehren, wurde immer stärker, doch ein komisches Prickeln im Nacken sagte ihm, dass er sich nicht getäuscht hatte. Seufzend stieg er die Stufen hinauf und öffnete die Tür. Im dünnen Licht der Kerze tauchte der Käfig auf, am Gitter die Gestalt seiner Frau in ihrem geblümten Kleid, das sie seit einer Ewigkeit trug. „Moira?“ Sie stand ganz vorne und blickte auf den schwachen Lichtstrahl, der von außen hereindrang. „Was ist los? Kannst du nicht schlafen?“

      Ihr Blick blieb stumpf, doch in ihren Augen glaubte er einen Ausdruck zu erkennen, den er viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Es gab, obwohl kaum fassbar, immer einen Grund für ihr Verhalten, doch auch nach so vielen Jahren waren ihm die Gedankengänge seiner Frau ein vollkommenes Rätsel. Bei ihr wusste man nie, was als nächstes kommen würde.

      „Was ist los? Hat dich was erschreckt?“ Er trat an das Gitter heran und berührte ihre Hand. Sie fühlte sich an wie gefrorenes Fleisch. „Es ist alles in Ordnung. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Leg dich hin und schlaf weiter! Hast du mich verstanden?“ Sie runzelte ein wenig die Stirn, bevor sie die Hände durch die Gitterstäbe schob und an seinem Mantel zog. Mit einem ärgerlichen Schnaufen befreite er sich von ihrem Griff und trat einen Schritt zurück. Wenn sie sich in einer dieser Stimmungen befand, war es ratsam, sie allein zu lassen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, begann sie glucksend zu lachen.

      Nichts wie raus. Vor dem Wagen lehnte er sich an das Geländer, strich mit Daumen und Zeigefinger nachdenklich seinen Schnurrbart glatt. Im Nachhinein bedauerte er, seinen Schlaf für etwas geopfert zu haben, für das es keine Lösung gab. Und wie immer, wenn er Moira in diesem Zustand sah, diesem erbärmlichen Leben hinter Gitterstäben, aus dem es niemals eine Rettung geben würde, spürte er, wie sich sein Innerstes vor Abscheu und Mitleid verkrampfte. Er hatte im Lauf der Jahre gelernt, mit ihren wechselnden Launen umzugehen, den Ausbrüchen von Gewalt und Beschimpfungen, aber auch den Zeiten, da sie jegliche Nahrung verweigerte und mehrere Male am Rande des Verhungerns stand. Doch diesmal verhielt sie sich anders. Etwas Neues hatte sich eingeschlichen, etwas, was ihn – obwohl er den Grund nicht kannte – mehr ängstigte, als er sich eingestehen wollte.

      Er war froh um den scharfen Nachtwind, der ihm half, die düstere Stimmung zu vergessen. Mit einem letzten Blick auf die im Mondlicht schwebenden,