Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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erzählen …!“, lachte Ichabod.

      „Etwas anderes geht mir nicht aus dem Kopf“, sagte Jaco nach einer Weile nachdenklich. „Wie kann die Hellseherin meine Mutter beschreiben, als ob sie sie gekannt hätte? Findest du das nicht merkwürdig?“

      „Deine Mutter? Das ist doch Blödsinn! Sie wird es irgendwie herausgekriegt haben. Oder sie hat einfach geraten.“

      „Wie denn? … Ich gleiche meiner Mutter nicht im Geringsten. Und niemand kannte sie, nur du und meine Oma, und die ist tot. Die Beschreibung entsprach ganz dem Bild auf dem Medaillon, das sie mir hinterlassen hat.“

      „Vielleicht hat sie es gesehen, was weiß ich. Manchmal merkst du gar nicht, dass es auf deiner Brust hängt.“

      „Das Medaillon? Im Sommer vielleicht, aber sicher nicht jetzt. Kann sie vielleicht durch mein Hemd sehen? Außerdem trug ich meine Jacke.“

      „Dummes Zeug! Man darf diesen Leuten nicht alles glauben“, sagte Ichabod heiser und wischte mit dem Ärmel über die Stirn.

      Jaco atmete erleichtert auf, als er in die Gaststube zurückkehrte und den Platz der beiden Zirkusleute leer fand. Aber eigentlich musste er sich eingestehen, dass er trotz allem gerne gewusst hätte, was der Grund für das Verhalten der Hellseherin gewesen war. War es jeweils tatsächlich nur ein ausgeklügelter Teil der Vorstellung, in jeder beliebigen Stadt wiederholbar? Oder doch nicht? Etwas in seinem Inneren war stutzig geworden, drängte nach Antworten, während ein anderer Teil voller Misstrauen war.

      „Wie lange dauert es in dieser Spelunke eigentlich, bis man bedient wird?“

      Jaco fuhr verdutzt herum. „Tiburon!“

      Der breitschultrige Mann am anderen Ende der Theke grinste von einem Ohr zum anderen. Obwohl bereits an der Schwelle zum Alter, wie er jeweils kokettierend zu sagen pflegte, war sein dunkelblondes Haar nur mit einigen wenigen grauen Strähnen durchsetzt. Er trug es ein bisschen zu lang, und immer wieder zuckten seine Hände an die Schläfen, um widerspenstige Büschel nach hinten zu streichen. Seine Augen waren so voller Leben, dass es schwerfiel, sein wirkliches Alter zu schätzen. „Na, mein Freund, wie geht‘s?“

      „Das Haus ist voll, die Teller schmutzig. Viel Arbeit.“

      „Du Armer! Du verdienst unser Mitleid. Ein schweres Los! Vielleicht solltest du gelegentlich eine Pause machen“, lachte er. „Oder erlaubt dir es der Wirt nicht?“

      Ichabod war nähergetreten und tätschelte seine Schulter. „Tiburon! Lange nicht gesehen! Du scheinst die Gesellschaft anderer Leute zu scheuen.“

      „Ha, schau dich selbst an! Ein lebender Kadaver! Dauernd stehst du in deiner Ecke und blinzelst. Man weiß nie so genau, ob du überhaupt noch unter uns weilst.“

      Sie lachten dröhnend.

      „Ich habe mich eben mit deinem Sklaven unterhalten“, sagte Tiburon grinsend. „Die Arbeit scheint ihn schwer zu belasten.“

      „Was?“, rief Jaco. „Sowas habe ich nie behauptet.“

      „Was machen deine Erfindungen?“, fragte Ichabod, ohne auf Jacos empörte Worte einzugehen. „Nichts Neues? Dir gehen wohl langsam die Ideen aus? Ich kann mich gut an deine letzte erinnern. War das nicht irgendeine Vorrichtung gegen Blitze? Wie nanntest du das Ding? Blitzableiter? Dein rußgeschwärztes Gesicht wird mir in ewiger Erinnerung bleiben.“

      „Lach nur, mein Freund, aber diesmal wirst du dich wundern, wart's nur ab! Aber es ist noch zu früh, darüber zu sprechen ... Und du, zufrieden mit dem Geschäft?“

      „Das Geschäft läuft gut, aber die Gäste könnten angenehmer sein ... Apropos Gäste, unser besonderer Freund, der Bürgermeister, ist auch da. Er beobachtet dich schon eine ganze Weile. Also halt dich zurück, ich möchte keinen Ärger!”

      Jaco hob bestürzt den Kopf. Tatsächlich. In einer Nische an der hinteren Wand saß eine gedrungene Gestalt und warf ihm böse Blicke zu. Der Tisch war vollbesetzt, grobes Gelächter brandete alle paar Augenblicke auf. Der Bürgermeister! Er hatte ihn nicht kommen sehen. Seine Miene verhieß nichts Gutes. Bestimmt hatte ihn sein Sohn längst über die Schlägerei informiert.

      Auch Tiburon schaute sich um. „Tatsächlich, Bürgermeister Grimm!“, knurrte er verächtlich. „Und sein Saubannerzug.“

      „Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich den Kerl sehe!“, murmelte Ichabod. „Jedes Mal, wenn er auftaucht, gibt’s Probleme. Am liebsten gäbe ich ihm und seiner Bande Hausverbot, aber was kann man gegen die oberste Behörde tun? Er ist nun mal der Bürgermeister.“

      Tiburon hatte Jacos argwöhnische Blicke bemerkt. „Was ist los? Hast du was ausgefressen?“

      „Ich hatte eine Schlägerei mit seinem Sohn.“

      „Mit Olin? Diesem nichtsnutzigen Bengel? Ich hoffe, du hast es ihm ordentlich gegeben.“

      „Ich habe ihm die Nase gebrochen.“

      „Tatsächlich?“, lachte Tiburon. „Gut gemacht … Aber sieh dich vor! Der Bürgermeister lässt sich sowas nicht gefallen. Er scheint was im Schilde zu führen.“

      „Ich weiß … Heute ist kein guter Tag.“

      „Hast du sonst noch was angestellt?“

      „Ich … ich war heute Mittag bei der Zirkusvorstellung“, antwortete Jaco nach einigem Zögern. „Und dabei, na ja, dabei ist etwas Komisches passiert. Beim Auftritt der Hellseherin.“

      Tiburon blinzelte verwirrt. „Eine Hellseherin? Was redest du da?“

      „Ich wurde nach vorne gerufen, und dabei –“

      „Ach so, ich verstehe. Du hast dich überreden lassen? … Hat sie dir eine goldene Zukunft versprochen? Reichtum, Gesundheit, ein tolles Weib?“

      „Du machst dich lustig über mich.“

      „Ich kann dir genau sagen, was sie dir erzählt hat. Ich kenne das.“

      „Lass mich doch mal ausreden!“

      „Kein tolles Weib? Das ist aber enttäuschend.“

      „Idiot!“ Jaco verzog sich wieder an sein Spülbecken.

      Tiburon grinste, dann winkte er dem Wirt. „Noch ein Bier!” Er brütete eine Weile vor sich hin und starrte auf den leise knisternden Schaum. Dann blickte er auf. Jaco stand wieder am Spülbecken, die Augen blickten ernst und konzentriert.

      Ein schemenhaftes Bild tauchte auf, eine Gestalt, klein und schmal, genauso ernst und konzentriert über ein Heft gebeugt. Gott, wie lange ist das her, dachte Tiburon, eine Ewigkeit, ein halbes Leben? Er lächelte, während sich sein Blick unerwartet in die Vergangenheit richtete.

      Ein klarer Tag im Sommer, kochende Hitze steigt aus der Ebene in den Himmel. Tiburon steht auf dem Turm, ein breitkrempiger Hut auf dem Kopf, der ihm etwas Schatten verspricht, ein Fernglas in der Hand. Sein Blick schweift über die Einöde. Keine Bewegung, kaum ein Schatten, eine unerbittliche Welt, erstarrt in Hitze und Stille.

      Er setzt das Fernglas ans Auge, sein Blick gleitet, vielfach verstärkt, über die Ebene. Nichts. Plötzlich stutzt er. Weit draußen, von bloßem Auge kaum erkennbar, nimmt er einen dunklen Punkt wahr. Mehrmals setzt er das Glas ab, reibt sich verwundert die Augen und schüttelt den Kopf. Einige Minuten vergehen. Dann rennt er die Stufen hinunter und läuft mit langen Schritten hinaus. Der Punkt entpuppt sich als ein Junge von vielleicht zehn Jahren, der ungeachtet der brütenden Hitze auf einem Stein sitzt, ein Heft auf den Knien. Er lächelt freundlich. Tiburon lächelt zurück.

      „Was machst du da?"

      „Ich zeichne", antwortet der Junge.

      „Du zeichnest? Was denn?"

      „Alles, was ich sehe."

      „Und was siehst du?"

      „Den Himmel, die Ebene, Steine, Gebüsch."

      „Was