Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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gefällt Olga heute nicht“, brummte Agatha. „Und ehrlich gesagt, ich habe diese Nummer noch nie gemocht.“

      „Wie meinst du das?“, fragte Serafina, und auch Shi-Sha meldete sich mit einem interessierten Grunzen.

      „Man weiß nie, was geschehen wird.“

      Serafina musste zugeben, dass Agatha mit ihren Befürchtungen nicht ganz unrecht hatte. Während alles seinen gewohnten Gang lief und wochenlang nichts geschah, das Publikum über die unerhörten Fähigkeiten der kleinen Frau staunte, nahmen manchmal andere Mächte das Zepter in die Hand, so wie vor einigen Monaten, als ein betrunkener Zuschauer unbedingt den Zeitpunkt seines Todes erfahren wollte. Olga hatte sich, wie in solchen Fällen üblich, lange gesträubt, doch da er darauf bestand, hatte sie ihm schließlich die Antwort gegeben. Serafina glaubte heute noch, ihre leisen Worte zu hören: „Nächsten Monat, mein Herr, werden Sie sterben“. Einige Wochen danach hatten sie zufällig von einem Reisenden erfahren, dass der Zuschauer sich beim Sturz vom Pferd den Hals gebrochen hatte.

      „Ich weiß nicht, was du meinst“, brummte Shi-Sha. „Es scheint alles in Ordnung zu sein. Du bist ein Angsthase.“

      Angsthase!

      „Hör auf meine Worte!“, brummte Agatha, „ich spüre es in meinen Eingeweiden. Heute ist kein guter Tag.“

      „In deinen Eingeweiden?“, fragte Shi-Sha und zwinkerte Serafina zu.

      „Blödian!“, zischte Agatha.

      Blödian!

      „Kennt das Biest eigentlich nur Schimpfworte?“ Sie musterte den Vogel mit bösen Blicken. „Irgendwann drehe ich dir den Hals um. Und dann landest du in der Suppe, du Mistvieh!“

      Mistvieh!

      Serafina wandte sich wieder der Aufführung zu. Caligaris Nummer strebte eben ihrem Höhepunkt zu. „Sie sehen, meine Damen und Herren, für Madame Olga existieren keine zeitlichen oder örtlichen Grenzen. Alles ist eins. Dinge, die waren, Dinge, die sind, Dinge, die sein werden!“ Er hielt den rechten Arm in dramatischer Pose zum Himmel gereckt.

      Serafina hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt der schlanken Gestalt, die mit verschränkten Armen in der vordersten Reihe stand und immer wieder nervös über die Schulter blickte. Er sah besser aus, als sie zuerst gedacht hatte. Seine Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen, umrahmten ein junges, ebenmäßiges Gesicht, die Augen, in denen eine sonderbare Mischung aus Sanftheit und Kraft lag, strahlten etwas aus, das ihn älter wirken ließ. Sie vermutete, dass er in ihrem Alter war, vielleicht ein bisschen älter, aber nicht mehr als sechzehn, siebzehn Jahre.

      Der Zauberer fuhr fort. „Nun, meine Damen und Herren, die Vergangenheit ist eine Sache, die Gegenwart ebenso, aber möchten wir nicht alle wissen, was morgen ist, was uns die Zukunft bringt? Belohnt sie uns mit einem Vermögen, mit Gesundheit und nicht zu vergessen … mit der großen Liebe, nach der wir uns alle sehnen?“ Das Lachen im Publikum wurde lauter. „Wer, meine Damen und Herren, möchte sich zur Verfügung stellen? Wessen zukünftiges Schicksal sollen wir gemeinsam aufdecken?“

      Die Leute warfen sich unruhige Blicke zu, doch niemand meldete sich. „Jaja, das kennen wir“, sagte Caligari. „Wir möchten zwar alles wissen über die Zukunft, aber nicht, wenn es jeder hören kann ... Vielleicht sollten wir die Sache anders angehen. Ich schlage vor, dass wir einen Zuschauer nehmen, der das Leben noch vor sich hat. Wenig Vergangenheit und viel Zukunft sozusagen“, witzelte er. „Sag mal“, sein ausgestreckter Arm wies nach vorne, „hättest du vielleicht Lust, ja?“

      Serafina grinste, als sie Jacos erschrecktes Kopfschütteln sah.

      „Na los!“, riefen ein die Zuschauer, die hinter ihm standen, und stießen ihn in den Rücken. „Vorwärts!“

      Lautes rhythmisches Klatschen begleitete ihn, als er sich schließlich mit hochrotem Kopf neben Caligari stellte. Der Zauberer begrüßte ihn und flüsterte ihm ins Ohr. Dann klatschte er in die Hände. „Fangen wir also an. Zunächst sollten wir natürlich festhalten, dass wir uns vor dem heutigen Tag noch nie gesehen haben. Das ist doch so, nicht wahr?“

      Jaco nickte langsam. Noch immer saß Glut in seinen Wangen. Serafina grinste schadenfreudig. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er sich fühlte. Von tausend Augenpaaren angestarrt zu werden, zerrte gewaltig an den Nerven. Wahrscheinlich wünschte er sich, weit weg zu sein.

      „Wieso lachst du?“, fragte der Zwerg. „Kennst du ihn?“

      „Wir sind uns über den Weg gelaufen.“

      „Gut, dann möchten wir wissen, mit wem wir es zu tun haben“, sagte Caligari. „Olga, wie ist sein Name?“

      „Er heißt ... Jaco“, sagte Olga.

      „Und wo wohnt er?“

      „Er lebt in einem ... alten Haus.“

      „Sehr gut, und wie alt ist er?“

      „Fünfzehn … nein, sechzehn.“

      „Mein Gott, diese Bauerntrampel!“, brummte Agatha, die sich neben Serafina gedrängt hatte.

      „Wie meinst du das?“

      „Warum sucht er sich nicht jemanden aus, der mehr zu bieten hat? Der steckt doch noch fast in den Windeln. Ein richtiger Mann wäre viel interessanter, meinst du nicht?“

      „Sei still!“

      „Was ist los?“, flüsterte Shi-Sha. „Lass mich durch!“ Er zwängte sich an Agathas massiven Hüften vorbei, bis er freie Sicht hatte.

      Caligari schaute abwesend in die Ferne, während er seine Fragen stellte. „Wo arbeitet er?“

      „Ich sehe einen großen Raum mit vielen Leuten. Es ist heiß und rauchig. Ein ... Wirtshaus. Er arbeitet in einem Wirtshaus.“

      „Gut, dann versuchen wir etwas anderes. Olga, was weißt du über seine Eltern?“

      Die Hellseherin zögerte, als würde ihr die Antwort schwerfallen. „Ich weiß nicht … ich … ich ... Doch, jetzt sehe ich seine Mutter. Eine schöne Frau, mit schwarz glänzendem Haar ... helle Haut, ein Grübchen am Kinn …“

      Jaco blinzelte. „Aber … das kann nicht sein, meine Mutter ist tot, sie …“

      „Das tut mir leid“, sagte Caligari schnell. „Wenden wir uns doch lieber erfreulicheren Dingen zu ... Olga, kannst du uns sagen, was die Zukunft für diesen attraktiven Jüngling bereithält? Eine hübsche Freundin? Eine große Familie mit vielen Kindern? Oder hat er bereits eine heimliche Liebe?“

      Serafina beugte sich vor. Der Papagei krallte sich schmerzhaft in ihre Schultern. „Psst, Napoleon“, flüsterte sie, „sei ruhig!“

      „Nein“, sagte Olga zögernd, als ob sie nicht ganz bei der Sache wäre.

      „Wie wäre es, wenn wir die Fragen ihm selbst überlassen? Du weißt am besten, was du von Olga erfahren möchtest? Vielleicht über die Liebe?“

      „Liebe!“, knurrte Agatha. „Was weiß der Bengel über die Liebe! Er ist doch noch grün hinter den Ohren!“

      „Sei endlich still!“, wiederholte Serafina ärgerlich.

      „Ich ... ich weiß nicht“, stotterte Jaco.

      „Nur keine Angst, wir werden es nicht weitererzählen. Also, was möchtest du wissen?“, sagte der Zauberer grinsend.

      Jaco zögerte ein paar Sekunden. „Ich ... ich möchte wissen, wo mein Vater ist.“

      Als im Publikum höhnische Zwischenrufe erklangen, merkte Serafina, dass sie sich verkrampft hatte. „Diese Idioten!“, schnaubte sie.

      Agatha pflichtete ihr mit einem Kopfschütteln bei. „Scheint nicht sehr beliebt zu sein, der Kleine.“

      Caligari hob die Hand und wartete, bis Ruhe einkehrte. „Meine Damen und Herren“, sagte er, „ich bitte