Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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Kamele, ein Zelt in der Wüste."

      „Donnerwetter. Das siehst du alles?"

      „Ja, wenn ich will."

      „So einfach ist das?”, seufzt Tiburon.

      „So einfach", sagt der Junge.

      „Unser Freund verlässt die gute Stube“, murmelte Ichabod. „Er hat wohl Amtsgeschäfte, die nach ihm rufen.”

      „Amtsgeschäfte? Du machst wohl Witze. Der Kerl hat noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet. Und das alles auf Kosten der Steuerzahler.” Tiburon beobachtete im Spiegel hinter der Theke den Bürgermeister, der sich mit schwerfälligen Schritten näherte.

      „Ach, unser Erfinder!“, warf ihm Grimm höhnisch entgegen. „Wie schön, dich zu sehen. Lange nichts mehr gehört von dir! Ich dachte, du bist tot.“

      „Hättest du wohl gerne, was? Den Gefallen tue ich dir nicht.“ Tiburon wandte sich um und betrachtete den aufgedunsenen schweren Mann von oben bis unten, als sähe er ihn zum ersten Mal. Unter dem ausgebeulten, speckig glänzenden Anzug quoll ein stattlicher Bauch hervor, der im Verlauf der letzten Jahre stetig stattlicher geworden war. Von der rechten Schulter baumelte anstelle des Arms ein leerer Ärmel, eine Kriegsverletzung, wie er gerne behauptete, doch man munkelte, dass er im Suff unter eine Kutsche geraten war. Sein verkniffener Mund, wenn er ihn denn mal öffnete, zeigte eine Ansammlung schlechter Zähne, seine dichten schwarzen Brauen, meistens missmutig hochgezogen, verliehen ihm einen Ausdruck kaum kontrollierter Streitsucht.

      Grimm schmiss eine Handvoll Münzen auf den Tresen. Als Jaco nach dem Geld griff, schoss seine Hand nach vorne. „Habe ich dich, Bürschchen!“ Jaco, überrascht durch den unerwarteten Überfall, versuchte verzweifelt, seinen Arm aus der Umklammerung zu lösen, doch er wand sich vergeblich. Die Leute drehten sich auf ihren Bänken um und starrten neugierig auf die Szene. „Glaubst du im Ernst, dass du meinen Sohn verprügeln darfst, ohne dafür bestraft zu werden?“

      „Er ist selber schuld“, schnaubte Jaco. „Sie kamen zu dritt auf mich los, diese Feiglinge!“

      „Ach was!“, knurrte der Bürgermeister. „Sowas hat Olin nicht nötig. Kommst du freiwillig mit, oder muss ich Gewalt anwenden?“

      „Lassen Sie mich los!“

      „Du hast ihm die Nase gebrochen. Dafür wirst du bezahlen, auf Heller und Pfennig.“

      Jaco war bleich geworden. „Aber –“

      „Moment!“ Tiburon war neben den Bürgermeister getreten. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. „Lass ihn los!“

      Grimm fuhr zusammen. „Halt dich raus, Tiburon, das geht dich nichts an! Dieser Bursche hat meinem Sohn die Nase gebrochen!“

      „Dann hat endlich jemand das getan, was längst überfällig war“, fauchte Tiburon. Das beifällige Gemurmel in der Gaststube war nicht zu überhören. „Jedermann weiß, dass diese Bande, angeführt von deinem Sohn, noch ganz andere Dinge auf dem Kerbholz hat.“

      Der Bürgermeister blickte in die Runde, doch seine Miene wirkte verkrampft. „Unsinn! Das sind bloß harmlose Bubenstreiche.“

      „Ach ja? Sollen wir uns mal umhören? Es gibt sicher einige Betroffene, die uns gerne eine Geschichte erzählen. Dein Sohn spielt darin die Hauptrolle.“

      Grimm verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich. Zwei Männer stellten sich mit geballten Fäusten neben ihn, doch der Bürgermeister winkte ab. „Nur die Ruhe! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben ...“, lächelte er plötzlich, doch Jaco sah hinter dem verkrampften Grinsen eine Wut, die Grimm nur mit Mühe zurückhalten konnte. „Dann auf ein anderes Mal, Junge! Ich hoffe, du bist dir im Klaren, dass dies noch nicht zu Ende ist. Nicht immer wird ein Schutzengel in der Nähe sein.“ Dann wandte er sich abrupt um und ging mit hocherhobenem Kopf zum Ausgang. Die Tür fiel ins Schloss.

      „Das gefällt mir nicht“, sagte Ichabod sorgenvoll.

      „Mir auch nicht“, sagte Tiburon. „Das wird er nicht so schnell vergessen.“

      „Ich weiß“, sagte Jaco leise.

      „Du solltest in nächster Zeit vorsichtig sein … Aber lassen wir uns den Spaß nicht verderben. Vielleicht besuchst du mich wieder mal. Komm doch morgen vorbei, wenn du Zeit hast. Ich muss dir was zeigen.“

      „Eine neue Erfindung ...?“, fragte Jaco gedankenverloren, seine immer noch zitternden Hände betrachtend.

      „Natürlich. Aber es ist mehr als eine Erfindung, es ist – wie soll ich sagen – etwas, was die Menschheit noch nie gesehen hat. Du würdest es niemals erraten. Du musst es mit eigenen Augen sehen.“

      „Komm schon, erzähl was darüber!“

      „Ein echtes Wunder.“

      „Ein Wunder? Übertreibst du nicht?“ Jaco zeigte nach draußen. „Hast du heute Abend den Sonnenuntergang gesehen? Das ist ein Wunder. Welches Wunder lässt sich damit vergleichen?“

      „Fliegen!“, antwortete Tiburon.

      Die Wirtshaustür fiel hinter Jaco ins Schloss. Es war kälter und düsterer als die letzten Tage, und gleichsam als Beweis dafür, dass der Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ, schlug ihm ein eisiger Orkan ins Gesicht. Mit einem Frösteln zog er den Mantelkragen hoch und tauchte in das Labyrinth dunkler Gassen ein. Die Nacht war voller Geräusche. Betrunkene lachten, heisere Stimmen grölten ein schmutziges Lied, der Wind trug den Applaus vom Marktplatz herauf. Nach einigen Minuten verklang der Lärm hinter ihm, und schon bald war er von einer tiefen Stille umgeben.

      Oberhalb der letzten Häuser, wo ein kaum sichtbarer Trampelpfad abbog, wandte er sich um. Der Marktplatz leuchtete inmitten der Häuser wie ein großes flackerndes Licht in der Dunkelheit. Dort saßen immer noch Leute beieinander, lachten und feierten und waren fröhlich. Bei dieser Vorstellung fühlte er sich mit einem Mal einsam.

      Seit dem Tod seiner Oma hatte er sich an das Alleinsein gewöhnt, doch das Haus war kalt geworden. Die Erinnerung an sein altes, behütetes Leben weckte den Schmerz aufs Neue, und obwohl er wusste, dass diese Welt längst nicht mehr existierte, so war sie in seiner Einbildung immer noch lebendig und an vielen Tagen so schmerzhaft, dass ihm die Seele brannte.

      Mit einem Seufzer verscheuchte er die Gedanken, strich sich das nachtfeuchte Haar aus der Stirn und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Metern blieb er überrascht stehen. Ein rötliches Licht schimmerte zwischen den Bäumen. Im ersten Moment dachte er, dass ihm seine Augen einen Streich spielten, doch dann, neugierig geworden, stieg er den Abhang entlang, bis er zwischen mannshohen Gebüschen hindurch freie Sicht hatte.

      Kaum fünfzig Meter unter ihm lag eine flache Wiese, auf der ein niedriges Feuer brannte und ein flackerndes Licht auf eine im Halbkreis angeordnete Wagenburg warf. „Sieh mal einer an“, flüsterte er. „Das Zirkuslager.“ Eine Weile lauschte er mit gespitzten Ohren, doch alles, was er hörte, war das Gurgeln und Plätschern des Baches und manchmal, ganz leise, das Scharren von Hufen. Er wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als ein Klagelaut durch die Stille brach, hohl und fremdartig, und unwillkürlich dachte er an ein wildes Tier, doch dann wurde ihm klar, dass es auch etwas anderes gewesen sein konnte.

      „Allmächtiger“, murmelte er. Nichts regte sich. Der Platz machte einen verlassenen Eindruck. Nur das Feuer knackte, und an einem Fenster glaubte er das Flackern einer Kerze zu sehen, doch vielleicht war es auch nur der Widerschein der Flammen. Er wartete eine Weile, bis er zaghafte Schritte den Abhang hinunter und dann in den Platz hineinwagte. Bei jedem Meter merkte er, wie sein Argwohn größer wurde. Sein Schatten ging ihm voraus, wie ein mutigerer Teil seiner selbst.

      Am Ende des Halbkreises glitt er hastig hinter den ersten Wagen und schaute sich um. Aus der Nähe erkannte er, dass die Wände nicht grau waren, wie es das Mondlicht vorgegaukelt hatte, sondern mit bunten Farben bemalt. Über einer Herde fremdartiger Tiere mit geschecktem Fell und spitzen Hörnern hingen eine Mondsichel und gezackte Sterne. Eine Straße verlor sich am Horizont,