Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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      Die verkrampfte Miene des Zauberers sagte Serafina, dass das lange Schweigen Olgas nicht geplant war. Sie zog den Vorhang noch weiter zur Seite. Shi-Sha kam wieder nach vorne. „Was sagt er? Ich habe nicht alles verstanden.“

      „Er will wissen, wo sein Vater ist.“

      „Vielleicht lebt er weit weg. Was meinst du? … Olga? … Was ist los?“, fragte Caligari und beugte sich über die Hellseherin. „Sollen wir aufhören? Ich kann dir – “ Er verstummte, als sie sich umdrehte und Jaco mit starrem Blick fixierte.

      „Was geht da vor?“, grummelte Agatha. „So habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen.“

      „Ich auch nicht“, flüsterte Serafina.

      „Diese Sache kommt mir reichlich seltsam vor“, brummte Shi-Sha.

      „Ich sagte doch, dass mir Olga nicht gefällt, das sagte ich doch, oder?“, zischte Agatha aufgebracht. „Warum hört man nie auf mich?“

      „Olga?“ Caligari drückte sanft ihren Arm. „Stimmt was nicht? Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“ Während er noch beruhigend auf sie einredete, legte sie die Hände an die Schläfen, erstarrte und blickte ins Leere. Im gleichen Augenblick gingen ohne den geringsten Luftzug sämtliche Kerzen aus, die Vorhänge flatterten. Die Seidendecke fiel zu Boden. Sie sprang auf die Füße, trat zu Jaco und griff nach seinen Händen.

      Dann glitt sie wie ein müder Schatten zu Boden.

      Die Frau im Käfig

      Auf den ersten Blick sah das Gasthaus nicht sehr einladend aus. Eine finstere Gasse führte vom Marktplatz den Hang hinauf und endete unvermittelt vor der Front eines dunklen Gebäudes. Zwischen zwei vergitterten Fenstern war eine Eichentür eingelassen, auf der in kunstvollen, jedoch kaum noch lesbaren Lettern Zum Wilden Mann eingebrannt war.

      An diesem Abend herrschte in der Schankstube ein geschäftiges Kommen und Gehen. Neben dem Holzfeuer, das in der Mitte des Raums loderte, erhellten einige an der Decke hängende Funzeln den langgezogenen Raum. Sämtliche Tische waren besetzt, die Bänke an den Wänden brachen unter der Last der Gäste beinahe zusammen. Junge Burschen eilten zwischen den Tischen hin und her, Gelächter mischte sich mit betrunkenen Rufen, und hin und wieder krachte eine Faust nieder.

      Jaco seufzte, bevor er den nächsten Stapel schmutzigen Geschirrs ins Spülwasser tauchte. Er war müde vom stundenlangen Abwasch. „Dir ist wohl langweilig“, grummelte der Mann, der neben ihm stand. Ichabod, der Wirt, kompakt gebaut und in seiner schläfrigen Aufmerksamkeit an eine Spinne erinnernd, schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln, doch es verschwand sofort, als die Tür in den Angeln knarrte und ein frostiger Hauch aus der Dunkelheit hereinwehte. Die beiden Neuankömmlinge schauten in die Runde und traten nach kurzem Zögern an die Theke. Der größere der beiden, ein vierschrötiger Bursche mit kantigem Kinn und krausem schwarzem Haar, setzte seinen Begleiter, der ihm kaum bis an die Hüfte reichte, mit einem Schwung auf einen freien Hocker.

      Jaco spürte die forschenden Blicke in seinem Rücken, doch er machte keine Anstalten, sich bemerkbar zu machen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Während die nächsten Teller gurgelnd im heißen Wasser versanken, hörte er leises Tuscheln. „Was lachst du?“, fragte eine misstönende Stimme. Als er sich umdrehte, starrten ihn aus dem zerknitterten Gesicht des Zwerges zwei kieselsteinharte Augen an. „Machst du –“

      Eine Lachsalve von einer der hinteren Tischreihen übertönte den Rest seiner Worte. Jaco beugte sich über die Theke. „Wie bitte?“

      „Ich fragte, ob du dich über mich lustig machst?“

      „Nein, warum sollte ich?“

      „Glaubst du, es wäre das erste Mal, dass man über mich lacht? … Ich bin ein Zwerg – oder ein Gnom oder ein Wicht, falls dir das lieber ist –, und ohne die Hilfe meines Freundes hier hätte ich es nicht einmal auf den Hocker geschafft.“ Er schnitt eine Grimasse. „Aber gut, sei’s drum … Wie heißt du, Junge?“

      „Warum wollen Sie das wissen? Und ich bin nicht Ihr Junge!“

      Der Zwerg stieß ein meckerndes Lachen aus. „Ah, der Junge ist empfindlich ...“

      „Sie waren bei der Vorstellung“, schnaubte Jaco. Und nachdem er reichlich Zeit für eine Antwort eingeräumt und außer einem spöttischen Grinsen keine erhalten hatte, sagte er schnippisch: „Sie kennen meinen Namen.“

      Der Zwerg zwang sich ein verkniffenes Lächeln um den schiefen Mund. „In Ordnung, nur keine Aufregung! Ich bin übrigens Shi-Sha, und dieser schweigsame Bursche hier ist Bruno, unser Feuerschlucker, aber er schluckt auch andere gefährliche Stoffe. Er spricht nicht, dafür ist er ein wahrer Kenner harter Getränke. Für ihn also einen Schnaps, wenn’s beliebt. Und für mich ein Bier.“ Während Jaco den Bestellungen nachkam, beugte sich der Zwerg vor. „Ich möchte dich was fragen. Es geht um Olga, unsere Hellseherin. Was zum Teufel geschah bei der Vorstellung?“

      „Wie soll ich das wissen? Das ist doch alles Mumpitz! Es war doch von Anfang an ein abgekartetes Spiel."

      „Oho, da irrst du dich aber gewaltig. Olga braucht keine Tricks."

      „Keine Tricks? Der Zauberer wusste doch schon vor dem Auftritt alles über mich."

      „Hast du irgendwas zu ihr gesagt, was sie erschreckt hat?“ Die Faust des Zwerges schnappte nach vorn und krallte sich um Jacos Arm. „Komm schon! Ich will wissen, was da los war!“

      Jaco riss sich los. „Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie mich gefälligst in Frieden!“

      „Was geht hier vor?“ Der Wirt war nähergetreten. „Belästigen dich die beiden Herren?“

      „Ist schon gut. Der Herr hat sich geirrt.“

      „Keine Dummheiten mehr, klar!“, fauchte Ichabod, bevor er sich wieder ans andere Ende der Theke zurückzog.

      „Tut mir leid“, sagte der Zwerg, „wenn’s um Olga geht, bin ich empfindlich … Aber irgendwas muss sie furchtbar aufgeregt haben. Wir machen uns alle Sorgen. Du hast wirklich keine Ahnung, was es gewesen sein könnte?“

      Jaco zuckte die Schultern. „Nein. Ich kann Ihnen nicht helfen.“

      „Na ja, es ist doch sonderbar, dass sie ausgerechnet bei einer Nummer mit dir ohnmächtig wird.“ Der Feuerschlucker wies mit dem Kinn auf sein leeres Glas. „Die Frage ist also, warum? Kennt sie dich? Bist du ihr früher mal begegnet?“

      „Nein! Wie sollte ich? Ich habe euch heute das erste Mal gesehen, und wenn ich könnte, würde ich es gerne ungeschehen machen. Dass es der Hellseherin schlecht geht, tut mir leid, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was geschehen ist.“ Jaco merkte, dass sein Unbehagen wuchs, doch es war mehr als das. Er fühlte sich für dumm verkauft. Für dumm verkauft vor den Zuschauern, vor den Leuten, von denen er die meisten kannte und die sich nun auf ewige Zeit über ihn lustig machen würden. War es seine Schuld, dass die Hellseherin so reagiert hatte?

      „Hat sie was zu dir gesagt? Es kam mir vor, als hätte sie was in dein Ohr geflüstert“, fragte der Zwerg. Seine Miene ließ darauf schließen, dass er nicht so schnell aufgeben wollte.

      „Tut mir leid, ich habe keine Zeit. Ich muss arbeiten“, sagte Jaco schroff und zog sich in die Küche zurück. Während er Tee schlürfte und seine aufgedunsenen Hände massierte, dachte er über die Vorstellung nach und spürte den Ärger wieder hochspülen. Es gab Zeiten – nicht wenige eigentlich – da wünschte er sich nichts sehnlicher, als weit weg zu sein, irgendwo, wo ihn niemand kannte und seine Herkunft keine Rolle spielte.

      Der Wirt trat durch die Tür. „Was wollte der Kerl von dir?“

      „Es ist nichts“, sagte Jaco, doch auf Drängen Ichabods erzählte er schließlich, was bei der Vorstellung geschehen war. „Na ja, und jetzt sind die Zirkusleute ziemlich aufgebracht, weil die Hellseherin angeblich krank ist. Und sie geben mir die Schuld.“

      Der Wirt grinste mitfühlend. „Ach was, vergiss den Kram, das gehört