Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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erwartet, inmitten des Getümmels mit Leichtigkeit ein Versteck zu finden, einen Marktstand oder einen Vorhang, hinter dem er sich verkriechen konnte, doch mit Ausnahme eines Stapels Kisten sprang ihm nichts ins Auge. Mit einem kräftigen Sprung hüpfte er dahinter, die Rufe seiner Verfolger bedrohlich nah, und zog den Kopf ein. Für einen bangen Augenblick glaubte er, ihre Schatten auf dem Versteck zu spüren, doch es waren nur zwei Männer, die sich über einen dritten lustig machten und mit meckerndem Lachen von dannen zogen.

      Nach ein paar Minuten, als er sich endlich sicher fühlte, wagte er aufzuatmen. Und nun spürte er auch die pochenden Schmerzen an seiner Stirn und die Beule, die sich darauf abzeichnete. Vielleicht war der Kopfstoß, den er Olin versetzt hatte, doch nicht die beste Idee gewesen. Doch bei der tröstlichen Erinnerung an das Knacken von Olins brechender Nase wurde ihm warm ums Herz.

      „Was machst du da?“, fragte eine helle Stimme.

      Jaco schaute verdattert auf. Ein junges Mädchen betrachtete ihn vorwurfsvoll. Auf ihrer Schulter saß ein buntgefiederter Vogel, der unruhig um sich blickte. „Es gibt nichts zu stehlen bei uns.“

      „Was?“

      „Hörst du schlecht? Ich sagte, dass es nichts zu stehlen gibt.“

      Jaco schnappte nach Luft. „Zu stehlen? Was fällt –“

      Sie unterbrach ihn mit einer herrischen Handbewegung. „Du solltest dich schämen!“

      Jaco merkte, wie das Blut in seine Wangen schoss. „Das ist doch die Höhe! Ich habe mich hier bloß –“

      „Sei still! Du machst alles nur noch schlimmer.“

      Bevor er zu einer scharfen Entgegnung ansetzen konnte, ertönte ein Krächzen. Gauner! Der Vogel starrte ihn aus seinen kleinen listigen Augen an. Das Gefieder zuckte. Spitzbube! krächzte er, Vagabund! Dieb!

      Das war zuviel. Das Mädchen trat einen Schritt zurück und verschränkte spöttisch die Arme vor der Brust. Erst jetzt bemerkte er, dass ihr Gesicht weiß eingestäubt und die Lippen in einem schwachen Himbeerrot nachgezogen waren.

      „Nur weil ich mich hier versteckt habe, bin ich noch lange kein Gauner.“

      „Bist du doch!“

      „Bin ich nicht!“

      „Wieso musst du dich verstecken? Hast du was ausgefressen?“

      Jaco beschloss, die unverschämte Göre zu ignorieren, klopfte sich den Staub von der Hose und wandte sich zum Gehen.

      „Nicht so schnell!“, befahl sie und griff nach seinem Arm.

      „Jetzt ist’s aber genug! Lass mich sofort los, sonst werde ich wirklich –“

      Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter und zog ihn herum. Vor ihm stand ein ungewöhnlich aussehender, wettergegerbter Mann. Sein Körperbau verriet nicht nur geballte Kraft, er schien aus Granit zu sein. Trotz seiner durchschnittlichen Körpergröße wirkte er riesig, mit quadratischen Schultern und mächtigen Oberarmen.

      „Gorgon!“, sagte das Mädchen. „Du kommst gerade recht. Ich glaube, dieser Bursche wollte uns bestehlen.“

      „Das stimmt nicht!“, rief Jaco. „Ich wollte mich bloß verstecken. Lassen Sie mich in Ruhe!“ Er starrte noch einen Augenblick in das narbenübersäte Gesicht des Mannes, dann duckte er sich und wollte sich mit einem Sprung aus dem Staub machen. Er hatte keine Chance. Bevor er es sich versah, baumelte er in der Faust des Mannes, der ihn wie einen Sack Mehl hochhielt.

      „Geschieht dir recht“, lachte das Mädchen. „Jetzt hast du den Salat!“

      Gauner! Vagabund! Dieb!

      „Lassen Sie mich los! Ich habe nichts getan“, keuchte Jaco und versuchte mit aller Kraft, sich aus dem stählernen Griff zu befreien, doch vergeblich. Je mehr er sich bemühte, desto breiter wurde das Grinsen des Mannes.

      „Falls du es noch nicht bemerkt hast – das ist unser Kraftmensch“, sagte das Mädchen stolz. „Er kann sogar ein Pferd hochheben.“

      „Was ist denn hier los?“, fragte jemand, der sich unbemerkt genähert hatte. Jaco hörte auf zu strampeln und blickte in die schwärzesten Augen, die er je gesehen hatte. Der Mann war großgewachsen, zumindest auf den ersten Blick, denn seine hagere Gestalt und seine Kleider ließen ihn größer aussehen, als er tatsächlich war. Er trug ausgebeulte schwarze Hosen, die bis über die Knöchel seiner Stiefel reichten, einen dunkelblauen Kittel und auf dem Kopf einen hohen, spitzkegligen Hut.

      „Ich habe ihn erwischt“, sagte das Mädchen stolz. „Ein Dieb! Sicher einer dieser Dorflümmel.“

      „So, so“, sagte der Mann, ein spöttisches Lächeln um seinen Mund. „Ein Dorflümmel also. Bist du das wirklich? Oder übertreibt die gute Serafina wieder mal?“ Er sprach langsam und gedehnt, als müsste er jedes Wort sorgfältig abwägen. „Der Junge sieht nicht besonders gefährlich aus. Lass ihn runter!“

      Gorgon, der Jaco immer noch in seinem ausgestreckten Arm hielt, als wäre er ein räudiger Kater, öffnete die Faust und verschwand leise lachend um die Ecke. Jaco stolperte auf die Beine. „Wie heißt du denn, mein Junge?“ Die Stimme des Mannes war wohlklingend, wenn auch dunkel und voll unterdrückter Kraft. „Ich bin Caligari, der Zauberer, und dieses hübsche Mädchen hier ist Serafina. Also, wie heißt du?“

      „Jaco. Und ich bin nicht Ihr Junge!“

      „Na, na, nur keine Aufregung! Was willst du hier?“

      „Das ist doch klar!“, rief das Mädchen. „Er will –“

      Caligaris tadelnder Blick ließ sie schweigen. „Also?“

      „Ich musste mich verstecken. Jemand war hinter mir her.“

      „Jemand?“

      „Ein paar Burschen. Sie wollten mich verprügeln.“

      „Und weswegen?“ Caligari grinste. Die Sache machte ihm offensichtlich großen Spaß.

      Jaco druckste herum, bevor er antwortete. „Sie nennen mich Affengesicht. Oder Zigeuner. Und wenn sie mich sehen, fallen sie über mich her. Aber heute habe ich mich gewehrt“, fügte er stolz hinzu.

      „Zigeuner? Das verstehe ich nicht.“

      „Ist ja auch egal“, knurrte Jaco. Seine Wangen waren rot angelaufen.

      Caligari strich nachdenklich über seinen Schnauzbart. „Ich verstehe. Darf ich dir einen Rat geben? Wenn du sie wirklich loshaben willst, ein für alle Mal, dann musst du ihnen zeigen, dass du keine Angst hast und dass es jedem schlecht ergeht, der sich mit dir einlässt. Wie du das anstellst, überlasse ich deiner Phantasie. Klar? Einmal zuschlagen, aber richtig.“ Er lächelte komplizenhaft und klopfte ihm auf die Schultern. „Und nun erzähle uns mehr von dir! Wo wohnst du? Gehst du zur Schule?“

      Während Jaco die Fragen des Zauberers zögernd beantwortete, trat das Mädchen nahe an ihn heran. Ein kaum wahrnehmbarer Duft von Vanille lag in der Luft. Doch sie hatte anscheinend nicht vor, so schnell aufzugeben. „Er wollte uns bestehlen und erzählt nun irgendeine erfundene Geschichte, also was –“

      „Du musst Serafina entschuldigen, sie übertreibt manchmal“, sagte der Zauberer und sah sie streng an. „Das kommt davon, wenn man die Tochter des Direktors ist. Dabei ist sie eigentlich ein liebes Kind, das kannst du mir glauben ... Du wohnst also allein. Und wovon lebst du?“

      „Ich arbeite in einem Wirtshaus.“

      „Dann brauchst du auch nicht zu stehlen!“, spitzte Serafina zu.

      „Ich habe nicht gestohlen!“, schnaubte Jaco. „Wann begreifst du das endlich?“ Sie verschränkte die Arme. „Was habe ich gestohlen? Los, zeig‘s mir!“

      „Sachte!“, sagte Caligari, „Serafina, dein Sinn für Gerechtigkeit in allen Ehren, aber hier haben wir es offenbar mit einem besonderen Fall zu tun.“

      „Ein besonderer