Ein kurzer Händedruck, und Werner stand wieder auf dem Flur. Puh, dieses Gespräch musste er erst einmal verdauen! Seine Kabine fand er ohne Probleme. Gespannt öffnete er die Tür, trat ein und knipste das Licht an. Der fensterlose Raum war, nun ja, recht überschaubar. Luxus fand wirklich nur oben auf den Passagierdecks statt. Aber viel Zeit würde er hier ohnehin nicht verbringen.
***
„Achttausendeinhundertvierzehn. Hier ist es.“
Petra führte die Bordkarte in den Schlitz der Kabinentür ein, und mit einem verheißungsvollen Klacken entriegelte sich das Schloss. Sie drückte die Klinke hinunter und ging hinein.
Gerlinde folgte gespannt. Aber nach einem kurzen Rundblick zog sie enttäuscht die Nase kraus. Der Raum war zwar hell und freundlich, aber ziemlich klein.
„Hier schlafe ich“, verkündete Petra und warf alles, was sie in den Armen hatte, auf eines der Betten.
Gerlinde setzte sich auf das andere Bett, es war ihr egal, auf welcher Seite sie schlief. Plötzlich bemerkte sie, dass die Sonne hereinschien, die Außenwand war komplett verglast. Und dahinter – sie konnte es nicht fassen, da gab es einen Balkon.
„Aber…“, stammelte sie völlig überrascht.
„Tataaa! Überraschung!“ Petra grinste sie an. „Ich hab uns eine Balkonkabine gebucht. Wenn du schon mal auf Kreuzfahrt gehst, dann soll es auch vom Feinsten sein. Wir reisen schließlich mit Stil.“
Gerlinde war völlig überrumpelt. „Aber das hat doch sicher sehr viel mehr gekostet“, brachte sie schließlich heraus.
Petra zuckte lässig mit den Schultern. „Geld ist dazu da, dass man es ausgibt.“ Sie öffnete die Schiebetür zum Balkon und trat hinaus. „Schau mal, ist das nicht toll?“
Gerlinde stellte sich neben sie an das Geländer und betrachtete entzückt die Wellen tief unter ihnen, in denen sich das Licht brach. Es sah einfach traumhaft aus. Zwei Stühle und ein kleines Tischchen luden zum Sitzen ein. Sie wusste sofort, dass das ihr Lieblingsplatz werden würde. „Aber das geht doch nicht“, protestierte sie noch einmal halbherzig, aber die Freundin wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg.
„Ich find’s schön, dass wir zusammen unterwegs sind. Und als Gegenleistung bist du jetzt meine persönliche Reiseleiterin. So viel, wie du gelesen hast, machst du das mit links.“
Gerlinde musste lachen. Aber es stimmte, sie hatte sich durch einen ganzen Berg Reiseführer gekämpft, um sich auf den Urlaub vorzubereiten. „Na gut, wenn du meinst, dann machen wir das so“, stimmte sie zu.
Während Petra sich eine Zigarette ansteckte, ging Gerlinde zurück in die Kabine und schaute sich erst einmal in Ruhe um. An der Wand gegenüber den Betten hing ein Fernseher. In einer Ecke gab es ein Regal, und zu jedem Schlafplatz gehörte ein Nachttisch. Über dem kleinen Schreibtisch, auf dem es einige Informationsblätter und eine Glaskaraffe mit zwei Gläsern gab, hing ein großer Spiegel. Die Kleiderschränke waren in dem kleinen Flur gegenüber dem Badezimmer untergebracht. Das schaute sie sich als nächstes an und staunte. Auf kleinstem Raum war alles untergebracht, was man brauchte. Die Dusche war sogar größer als bei ihr zu Hause, und durch eine Glastür vom restlichen Bad abgetrennt. Bewundernd stellte Gerlinde fest, dass die Kabine zwar klein, aber sehr gut aufgeteilt war. Jedes Eckchen war optimal ausgenutzt. Irgendwie würden sie ihre Siebensachen schon unterbringen.
Es klopfte an der Kabinentür, und Gerlinde öffnete. Ein Asiate strahlte sie an und schob ihren Koffer herein. „Bitteschön, Madam“, sagte er liebenswürdig.
Gerlinde war überfordert. Sollte sie ihm ein Trinkgeld geben? Hektisch wühlte sie in ihrer Handtasche, aber als sie ihre Geldbörse endlich gefunden hatte, war der Mann schon wieder verschwunden.
Petra streckte ihren Kopf vom Balkon herein. „Super, dein Koffer ist schon da. Fang gleich mit Auspacken an. Dann kommen wir uns nicht ins Gehege.“ Dann kam sie aber doch herein und öffnete die Kleiderschränke, um sich die Aufteilung anzusehen.
„Hier gibt’s ja sogar einen Safe“, staunte Gerlinde.
„Natürlich! Was dachtest du denn? Die haben schließlich Stil.“
Petra verschwand wieder nach draußen, während Gerlinde den Koffer auf ihr Bett hievte und mit dem Auspacken begann. Es war mehr Platz vorhanden, als sie anfangs gedacht hatte. Jedenfalls hatte sie im Nullkommanichts ihre Sachen untergebracht. Den leeren Koffer schob sie unter das Bett.
Wie aufs Stichwort klopfte es wieder, und ein Mann brachte Petras Koffer. Dieses Mal hatte Gerlinde ihr Portemonnaie parat. Sie war nicht sicher, ob es derselbe Mann war wie vorhin. Diese asiatischen Gesichter waren schwer zu unterscheiden.
Nun lief Petra geschäftig hin und her und verstaute ihre Sachen.
Gerlinde hatte in der Zwischenzeit eine der beiden Schwimmwesten herausgeholt, die sie im Schrank gefunden hatte. Das grell orangefarbene Ding mit langen schwarzen Strippen war widerspenstig, und sie brauchte eine Weile, bis sie es angezogen hatte. Bewegen konnte sie sich jetzt allerdings nicht mehr richtig, die Schwimmhilfe fühlte sich fest und steif an. Aber wenn so etwas nötig war, um sie über Wasser zu halten, sollte es ihr recht sein.
Petra entdeckte das Tagesprogramm auf dem Schreibtisch und studierte es ausführlich. Dann schaute sie auf ihre Uhr. „Die Seenotrettungsübung ist in einer Stunde“, verkündete sie. „Ablegen dann um Sechs, Abendessen ab halb Sieben. Dann gibt’s noch eine Farewell-Party auf dem Sonnendeck. Und anschließend natürlich das Abendprogramm.“
Sie sah schon wieder ungeheuer unternehmungslustig aus.
Gerlinde riss erschreckt die Augen auf. Na, da stand ihr ja noch einiges bevor. Schon jetzt fühlte sie sich völlig kaputt und wollte eigentlich nur noch etwas essen und dann in ihr neues Bett krabbeln. Aber das konnte sie wohl vergessen. Gegen Petras Unternehmungslust würde sie schwerlich ankommen. Plötzlich wurde ihr bewusst, was Petra da gerade gesagt hatte, und sie wurde blass. „Senioren-Rettungsübung?“, fragte sie zaghaft.
Petra lachte schallend. „Seenot, nicht Senioren, du Dummerle. Das ist Pflicht, da müssen alle teilnehmen.“
Gerlinde ließ sich auf ihr Bett fallen und schloss die Augen. Urlaub war schön, aber auch anstrengend. Geruhsam oder gar langweilig würden die nächsten zwei Wochen bestimmt nicht werden, so viel stand jetzt schon fest.
***
Werner war enttäuscht. Unter einer Offiziersmesse hatte er sich etwas Schickeres vorgestellt als diesen Raum. Hier sah es aus wie in einer zweitklassigen Kantine. Fenster fehlten völlig, logisch, da dieses Deck sich unter der Wasserlinie befinden musste. Die einzelnen Tischreihen wurden durch ein paar halbhohe Kästen mit Plastikblumen voneinander abgetrennt. Wenigstens war die Beleuchtung etwas angenehmer als in den Fluren. Einige Strahler waren auf die Fotos der ‚Mare Azul‘ gerichtet, die als einziger Schmuck an den Wänden hingen.
Er schaute sich um. Der Raum war fast leer. Hinter dem Tresen, auf dem warme und kalte Speisen bereitstanden, werkelten drei Angestellte herum. Ganz hinten am letzten Tisch entdeckte er zwei Männer, die sich gegenübersaßen. Das waren vermutlich seine Kollegen. Werner versuchte vergeblich, sich an ihre Namen zu erinnern, während er auf die beiden zuging. „Entschuldigung, sind Sie die Gentleman Hosts?“
Die beiden schauten hoch. Allmählich gewöhnte er sich an diese abschätzenden Blicke, wenn er sich jemandem vorstellte. Aber auch er musterte seine beiden zukünftigen Kollegen genau.
„Sie sind wohl der Neue“, mutmaßte der eine Mann. Er war mittelgroß, dunkelhaarig und tendierte genau wie der Staff Captain ein wenig zur Fülle. Seinen lebhaften Augen entging kein Detail. Er stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Karl Trautmann. Hier an Bord duzt man sich. Also, ich bin der Kalli.“
„Werner Velten, freut mich, dich kennen zu lernen.“