Gerlinde schrak aus einem Dämmerschlaf hoch. Sofort setzte hektisches Treiben ein um sie herum. Die Anspannung krampfte ihr schon wieder den Magen zusammen, es war eine diffuse Mischung aus Vorfreude und ein wenig Angst.
„Wir haben’s fast geschafft.“ Petras Stimme klang erleichtert. „Bald sind wir raus aus dieser Konservendose.“ Mit einem Ruck fuhr ihre Rückenlehne in die geforderte aufrechte Stellung hoch, und ein fülliger Arm mit einem verblüffend spitzen Ellenbogen bohrte sich schmerzhaft in Gerlindes Seite.
„Aua!“
„Entschuldige, das wollte ich nicht. Aber hier kann man sich ja wirklich nicht rühren. Auf diesen kurzen Flügen ist es immer das gleiche, man wird eingepfercht wie Vieh. Überhaupt dieser Charterflug, gar kein Vergleich zur Linie. Da wird man wenigstens noch als Gast behandelt und reist mit Stil.“
Das Nörgeln umspülte Gerlinde, ohne dass sie weiter zuhörte. Bei diesem Schnäppchenpreis für einen fünfstündigen Flug konnte man eben nicht erwarten, viel Platz zur Verfügung zu haben. Das mit der Enge war allerdings wirklich unangenehm. In ihren Waden kribbelte es, höchste Zeit, dass sie sich wieder Bewegung verschaffte. Vergeblich versuchte sie, ihre Beine auszustrecken. Eine spitze Ecke von Petras Lacktasche stach in ihren Knöchel, und sie musste sich einen weiteren Schmerzenslaut verbeißen.
Der Mann neben ihr hatte den Zwischenfall bemerkt. „Manche Leute sind einfach rücksichtslos“, kommentierte er halblaut.
Gerlinde schüttelte beschwichtigend den Kopf. Sie wollte es nicht zu einem Streit mit Petra kommen lassen. Seit deren kühler Abfuhr, und das war bereits vor Stunden gewesen, hatte der Mann seine Nase in ein Buch gesteckt. Bis eben zu dieser Bemerkung. Aber es blieb sowieso keine Zeit mehr, das Gespräch wieder aufzunehmen. Das Flugzeug schwebte bereits über der Insel. Bald würden sie aussteigen, das Gepäck vom Band holen und den Transferbus suchen, der sie zum Hafen bringen würde. Und dann… Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Ein großes, weißes Schiff wartete auf sie. Und das Meer.
Immer schon hatten Henry und sie das Meer geliebt, und im Laufe ihrer Ehe hatten sie viele Urlaube an der Nordsee verbracht. Das Plätschern der Wellen, die im Sand ausliefen, die Spaziergänge an der windumtosten Küste, die blaue Weite, die jeden Tag neu und anders aussah, gemeinsam hatten sie das alles Jahr um Jahr sehr genossen. Nur draußen auf dem Meer waren sie nie gewesen, abgesehen von ein paar Stunden auf Ausflugsbooten, die die Küste entlang geschippert waren. Völlig von Wasser umgeben zu sein und kein Land mehr zu sehen, auf einem Schiff zu schlafen, das war ein Abenteuer, auf das sie sehr gespannt war. Henry hätte das bestimmt auch Spaß gemacht.
Sie warf einen dankbaren Blick auf Petra. Ihren Überredungskünsten verdankte sie diese Reise. Dafür nahm sie gern ein paar blaue Flecken in Kauf. Und auch wenn die Freundin gerne mal in ein Fettnäpfchen trat mit ihrer großen Klappe, hatte sie bestimmt das Herz auf dem rechten Fleck. Gerlinde seufzte, ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde ihr selbst auch nicht schaden. Aber sie gehörte nun einmal eher zur schüchternen Fraktion. Von Stil ganz zu schweigen, ergänzte sie, innerlich lächelnd.
Aufgekratzt zeigte Petra aus dem Fenster. „Da, man sieht schon die Stadt. Wir sind gleich da.“ Sie fummelte an den Seiten ihres Sitzes herum. „Wir müssen uns anschnallen.“
Gerlinde beugte sich hinüber, aber sie konnte nur eine große Wasserfläche sehen. Ein paar Schiffe verteilten sich darauf, bunt und klein wie Spielzeug. Jetzt neigte sich das Flugzeug leicht nach vorn, und es rumpelte, als das Fahrwerk ausgefahren wurde. Sie setzte sich aufrecht hin und starrte auf den Rücksitz vor sich mit dem hochgeklappten Tischchen. Es wird gut gehen, es wird schön werden, wie ein Mantra leierte sie in ihrem Kopf die Worte herunter. Ach, wenn wir doch nur schon unten wären! Krampfhaft hielt sie sich an den Armlehnen fest. Das Flugzeug verlor nun rasch an Höhe. Der Druck auf ihre Ohren nahm zu, so dass sie die Geräusche um sich herum nur noch gedämpft hörte. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Da spürte sie eine leichte Berührung auf ihrem Arm. Der Mann neben ihr! Er hatte bestimmt mitbekommen, dass sie angespannt war und versuchte nun, sie zu beruhigen. Unwillkürlich musste sie lächeln, sie hatte ihn also richtig eingeschätzt als netten Menschen.
„Als erstes trinken wir ein Sektchen. Zur Einstimmung. Und dann machen wir einen Rundgang und schauen uns alles an. Du wirst staunen…“ Petra hatte das Programm bereits festgelegt. „In die Kabine können wir sowieso erst um drei Uhr. Idiotisch, die Gäste stundenlang rumsitzen zu lassen. Das könnten die doch besser organisieren.“
Gerlinde schwieg. Die Kabinen mussten doch für die neuen Passagiere gesäubert und hergerichtet werden, und das war bestimmt nicht in einer halben Stunde zu schaffen. Aber Petra war das völlig schnuppe. Immerhin lenkte sie Gerlinde mit ihrer Schimpftirade erfolgreich von der letzten Phase der Landung ab. Erst als beim Bodenkontakt ein leichter Ruck durch das Flugzeug ging, bekam sie mit, dass sie angekommen waren. Sie atmete erleichtert auf, die erste Etappe dieses Urlaubs hatte sie überstanden.
Die Triebwerke wurden abgestellt. Statt des Dauerbrummens der letzten Stunden hörte Gerlinde nun Stimmengemurmel und das metallische Klicken der Gurte um sich herum. Auch sie löste ihren Sitzgurt.
Petra war bereits aufgestanden. Allerdings hatte sie von ihrem Fensterplatz aus keine Chance, das Ablagefach über ihnen zu erreichen. „Wären Sie mal so nett?“, forderte sie den Mann an Gerlindes Seite auf und deutete nach oben.
Er stand auf und öffnete die Klappe. „Welche von den Sachen gehören Ihnen denn?“
„Schmeißen Sie einfach alles runter, was da ist“, wies Petra ihn an.
Er fing an, einzelne Kleidungsstücke herauszuziehen, die sie ihm sofort aus den Händen riss. Ungeduldig teilte sie die Sachen zwischen sich und Gerlinde auf, die fast unter dem Klamottenberg verschwand. Man musste ein halber Schlangenmensch sein, um sich im Sitzen und bei den beengten Verhältnissen anzuziehen. Irgendwie schaffte sie es und spürte, wie ihr sofort wieder der Schweiß ausbrach. Zusammen mit den Triebwerken war auch die Klimaanlage abgestellt worden, und die Kabine heizte sich zusehends auf.
Ihr Sitznachbar warf ihr einen amüsierten Blick zu. Sicher sah sie völlig idiotisch aus in den ganzen Lagen an Klamotten, die ihr auch noch zu groß waren. Aber taktvoll hielt er den Mund. Neben ihr kämpfte sich auch Petra in ihre Sachen. Schließlich standen sie beide mit gebeugten Knien in dem schmalen Raum zwischen ihrer eigenen und der Vorderreihe, während das Handgepäck, das griffbereit auf den Sitzflächen stand, in ihre Hinterteile drückte.
„Warum geht denn das nicht vorwärts?“ Petra verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, den Grund für den Stau zu erspähen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Bewegung in die Menge. Gerlindes Sitznachbar stellte sich in den Gang und blockte die nachfolgenden Passagiere ab, so dass erst sie und dann Petra sich vor ihn quetschen konnten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Freundin rechts und links in die Sitzreihen griff und alles an Zeitschriften zusammenraffte, was sie erwischen konnte. Gerlinde drehte sich um und wollte fragen, wo Petra die Illustrierten eigentlich noch verstauen wolle. Aber die war genau in diesem Moment komplett abgetaucht. Mit rotem Kopf kam sie wieder hoch und hielt triumphierend ein Bonbon in die Höhe. „Eiserne Reserve!“, verkündete sie.
Schnell drehte sich Gerlinde wieder nach vorn. Jetzt bloß nicht diesen Mann ansehen. Sie beide boten ja ein grandioses Schauspiel. Sie hoffte inbrünstig, dass sie ihn nie, nie mehr wiedersehen würde. Das Schiff war schließlich groß genug. Irgendwie fand sie es aber auch schade, denn er war nett. Aber nun hatte er mit Sicherheit den Eindruck, zwei Irre vor sich zu haben.
Wie eine Wand stand die heiße, schwere Luft im Flughafengebäude. Gerlinde schnappte nach Luft und fürchtete, gleich in Ohnmacht zu fallen. So musste sich ein Fisch fühlen, den es unvermittelt auf eine heiße Herdplatte verschlagen hatte. Sie blieb stehen und versuchte vergeblich, die drei langen Ärmel, die sie übereinander anhatte, hochzustreifen, um wenigstens ein kleines Stückchen Haut freizulegen.