Die Polonaise ging hinaus aufs Deck. Wenigstens war hier frische Luft, Gerlinde atmete tief durch. Die Temperatur war immer noch angenehm, obwohl die Sonne fast untergegangen war. Sie riskierte einen Blick auf den Hafen. Der Kai, auf dem es vor kurzem nur so gewimmelt hatte von Passagieren und Ladearbeitern, lag verlassen da. Dahinter bereitete sich La Palma auf den Abend vor. Die Straßenbeleuchtung brannte schon, und sie stellte sich vor, wie die Menschen dort beim Abendessen saßen.
Autsch! Der Strohhut war ihr in die Hacken getreten. Empört drehte sie sich um.
„Sie sind zu langsam, wir verlieren den Anschluss“, kam es knurrig statt einer Entschuldigung.
Endlich war der Sammelplatz erreicht. Gerlinde starrte auf ein Rettungsboot, das hoch über ihnen festgemacht war. Sie mochte sich nicht vorstellen, neben diesem unfreundlichen Kerl auf engstem Raum festzusitzen und womöglich tagelang durch die aufgewühlte See zu treiben. Starr schaute sie geradeaus. Jetzt, da sie eng nebeneinander standen, war ihr der Ausblick auf die Stadt versperrt.
Die nächste Durchsage kam nacheinander auf Deutsch und Englisch. Unruhig wechselte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, die Übung zog sich hin.
Nun wurden die einzelnen Kabinennummern aufgerufen. „Einundachtzigvierzehn?“ Fast hätte sie ihren Einsatz verpasst. Ihr „Hier“ klang leise, während sie gleichzeitig versuchte mitzukriegen, woher Petras Stimme kam. Die Freundin musste irgendwo hinter ihr stehen, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, sich umzudrehen. Die Menschen standen so eng zusammen wie Sardinen in einer Büchse.
„Das ist eine Zumutung, uns hier so lange stehen zu lassen“, beschwerte sich der Mann mit dem Strohhut. „Auf anderen Schiffen dauert so was höchstens zehn Minuten.“
Gerlinde fand die Prozedur auch etwas langatmig, andererseits hieß das aber auch, dass auf diesem Schiff die Sache ernst genommen wurde. Und das wiederum war ein durchaus beruhigender Gedanke.
***
Der junge Offizier war zur Überwachung des vorderen Treppenhauses eingeteilt. Er nahm seine Aufgabe ernst und beobachtete Personal und Passagiere mit Argusaugen. Die Türen zu den Außendecks standen auf, und ein steter Menschenstrom schob sich nach draußen. Nach einer Weile wurde der Andrang kleiner, bis nur noch wenigen Nachzüglern von der bereitstehenden Besatzung der Weg zu den Sammelplätzen gewiesen werden musste. Der Mann schaute auf die Uhr. Sie waren gut in der Zeit, der Kapitän würde zufrieden sein mit ihrer Leistung.
Er warf einen kurzen Blick auf die Checkliste in seiner Hand. Als nächstes musste die Meldung kommen, dass die Kabinen überprüft worden waren, und dass sich keine Passagiere mehr in diesem Bereich befanden. Sein Blick wanderte zu dem jetzt menschenleeren Gang. Da kam bereits die Frau, der diese Aufgabe zugeteilt worden war. Es war eine junge Philippinin, die zügig auf ihn zu schritt. Selbst unter der voluminösen Schwimmweste, die sie wie alle anderen auch tragen musste, konnte man ihre grazile Figur erkennen. Ihr junges, hübsches Gesicht wurde von langen, schwarzen Haaren eingerahmt. Sie wirkte konzentriert und ernst. „Kabinen auf Deck Sieben überprüft. Alles in Ordnung“, meldete sie ihm.
Seine strenge Miene entspannte sich, und er zwinkerte ihr zu. „Gut gemacht, Matrose!“
Sein Lob wurde mit einem strahlenden Lächeln quittiert.
Für einen Moment leuchtete es in seinen Augen auf. Er beugte sich zu ihr hinunter. „Nach dem Essen wie immer?“, flüsterte er.
Sie nickte kaum wahrnehmbar, trat schnell einen Schritt zurück und nahm wieder Haltung an.
Verstohlen schaute er sich um, aber der kleine Dialog war von niemandem bemerkt worden. Er zog ein Funkgerät aus der Tasche seines Hemdes. „Deck Seven clear“, meldete er knapp der Brücke.
„Okay, Roger“, kam prompt die Antwort, überlagert von leisen Störgeräuschen. „Gute Arbeit, Thorsten“, kam es noch hinterher. „Sieht so aus, als habt ihr mal wieder die schnellste Zeit.“ Er lächelte zufrieden und schob das Funkgerät zurück in seine Brusttasche.
***
„Wo hast du bloß so lange gesteckt? Wir müssen sofort los“, empfing Petra Gerlinde in der Kabine.
Die zerrte an der sperrigen Schwimmweste. Endlich bekam sie den Gurt auf und fing an, die Weste ordentlich zusammenzulegen.
„Lass! Das können wir später machen“, fuhr Petra sie an.
Gehorsam legte Gerlinde die Weste aufs Bett und wollte ins Bad gehen, um noch kurz ihre Haare zu kämmen. Aber die Freundin hatte schon die Kabinentür geöffnet und war in den Flur getreten. „Jetzt komm endlich“, kommandierte sie.
Seufzend folgte Gerlinde. Im Moment war es ihr auch egal, ob sie ordentlich frisiert war. Sie hatte Hunger und Durst und freute sich schon auf die erste Mahlzeit an Bord. Sie stiegen in den Aufzug, dann ging es weiter durch einen Gang.
„Fotoshop“, las Gerlinde. „Schau mal, hier gibt’s die Fotos, die sie vorhin gemacht haben.“
Petra zuckte nur mit den Schultern und hastete weiter. Gerlinde nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit die Stelle auf dem kleinen Faltplan zu markieren, damit sie den Bordfotografen wiederfand. Eine Art Galerie folgte, moderne Gemälde in leuchtenden Farben. Dann gingen sie durch eine Bar, die sehr modern und ganz in Weiß eingerichtet war. Vielleicht ein bisschen kühl für ihren Geschmack, aber es gab bestimmt noch andere Orte, wo man sich gemütlich hinsetzen konnte.
Als sie einen Blick durch die großen Fenster warf, sah sie plötzlich die Kaimauer und blieb wie angewurzelt stehen. „Wir fahren ja schon!“, rief sie verzweifelt. „Das Schiff hat abgelegt, und ich habe es gar nicht mitgekriegt.“ Das Gesicht ganz nahe an der Scheibe versuchte sie, nach unten aufs Wasser zu schauen. Aber die Wölbung des Glases ließ das nicht zu.
Petra war auch stehengeblieben und warf einen flüchtigen Blick nach draußen. „Das wirst du noch öfter sehen“, meinte sie gleichgültig, aber Gerlinde fand, dass das allererste Ablegen in ihrem allerersten Hafen schon etwas Besonderes war.
„Kommt man hier irgendwo raus aufs Deck?“ Sie schaute sich um, konnte aber nirgends eine Tür entdecken, die ins Freie führte.
Seufzend zog Petra den kleinen Plan heraus. „Deck Elf, das Pooldeck. Aber wir sind jetzt auf Sechs, da müssten wir wieder hoch. Das dauert zu lange, bis dahin sind die besten Tische weg.“ Sie stopfte den Plan wieder in das schwarze Abendtäschchen, das an einer Goldkette von ihrer Schulter baumelte. „Wenn du jetzt nicht mitkommst, gehe ich allein. Ich hab keine Lust, nur noch einen Katzentisch zu bekommen.“
Gerlindes Blick wanderte zwischen der sich langsam entfernenden Kaimauer und der Freundin hin und her. Vermutlich hatte Petra Recht, es war höchste Zeit für das Restaurant. Und bis sie auf diesem verwirrend großen Schiff eine Tür nach draußen gefunden hatte, waren sie bestimmt schon meilenweit weg vom Hafen. „Das ist aber auch schlecht organisiert“, fand sie. „Es blieb ja kaum Zeit, die Schwimmwesten loszuwerden. Wann hätte man denn noch das Ablegen beobachten sollen?“ Ob sie sich hier jemals zurechtfinden würde? Und ohne Petra losmarschieren konnte, ganz gemütlich und ohne Hetze?
„Du hast Hunger, das ist alles. Wenn du was Gescheites gegessen hast, geht es dir gleich besser.“
Petras Diagnose hatte etwas für sich, mit leerem Magen konnte man schlecht auf Erkundungstour gehen. Wenn sie sich richtig erinnerte, war morgen Seetag. Sie würde sich schon früh auf den Weg machen und nach und nach alle Decks durchwandern. Bedauernd warf sie dem Kai, gegen den jetzt schmutziggraue Wellen klatschten, einen letzten Blick zu. „Ich komm ja schon.“
Wie von Petra vorausgesagt hatte sich bereits eine Traube von Menschen vor den noch geschlossenen Türen des Restaurants versammelt. Gerlindes gemurmeltes „Guten Abend“ fand keine Beachtung. Man übte sich in der Kunst zu drängeln,