Kalli zog den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor. „Setz dich. Endlich kommt Verstärkung, das wurde aber auch Zeit.“
„Kaffee?“, fragte Lothar, und als Werner bejahte, winkte er ihm mitzukommen. „Hier ist Selbstbedienung“, erklärte er, während sie am Kaffeeautomaten standen.
Kalli nickte dankend, als Werner auch ihm eine Tasse hinstellte. „Nun erzähl mal, wo kommste her, was biste für einer? Und wie hat es dich hierher verschlagen?“
Werner war irritiert von so vielen Fragen. „Wo soll ich anfangen, direkt bei meiner Geburt oder schon vorher?“
Die neuen Kollegen lachten.
„Mensch, du bist richtig. Nicht auf den Mund gefallen, das ist gut. Das kannste hier brauchen.“ Kalli klopfte ihm begeistert auf den Rücken. „Willkommen im Club.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Vielleicht fange ich erst mal mit mir an. Also, ich mach dieses Theater jetzt schon seit einem Jahr. Bin von Anfang an dabei, seit sie auf die Idee kamen, die Damen zu bespaßen. Das war kurz nachdem ich in Rente gegangen bin. Zu Hause ist mir ganz schnell die Decke auf den Kopf gefallen, wenn du verstehst, was ich meine. Meine Frau, also, eigentlich ist sie ja eine Nette. Aber so den ganzen Tag unter Aufsicht, immerzu, das hab ich nicht lange ausgehalten. Ein Mann braucht doch schließlich seinen Freiraum. Wir sind Jäger und Sammler, schon immer gewesen seit den Neandertalern.“ Er grinste Werner an. „Stimmt’s?“
Der konnte nicht so ganz folgen. Was meinte Kalli damit? Er hatte noch genau die Verhaltensmaßregeln seines neuen Chefs im Ohr. „Jäger?“, fragte er verwirrt zurück.
Kalli lachte. „Ich sehe schon, du hast die Gehirnwäsche vom Steiff-Tier hinter dir. Kein privater Kontakt und so.“
Was war denn jetzt wieder dieses Steiff-Tier? Es dauerte einen Moment, bis bei Werner der Groschen fiel. Dieses Behagliche, Plüschige war ihm ja auch gleich aufgefallen. Natürlich war der Staff Captain gemeint. Das war kein schlechter Spitzname für ihren Vorgesetzten.
Kalli zwinkerte Werner vertraulich zu. „Das erklär ich meiner Frau auch immer. Jedes Mal, wenn ich wegfahre und wenn ich wieder heimkomme.“ Er nickte zu Lothar hinüber. „Stimmt’s?“
Lothar verzog das Gesicht. „Die ewige Leier. Wir können’s schon auswendig herbeten. Angucken, rumschwenken, aber den Zuckerpüppchen ja nicht zu nahe treten. Dass ich nicht lache!“ Sein verdrießliches Gesicht legte sich in traurige Falten. Hektisch rührte er seinen Kaffee um, obwohl sich der Zucker schon längst aufgelöst haben musste. Überhaupt kam er Werner ziemlich fahrig und nervös vor. Aber ihm blieb keine Zeit, den Kollegen genauer zu studieren.
„Also nun aber. Erzähl mal“, insistierte Kalli.
„Tja, was soll ich groß sagen? Ich bin Single. Seit kurzem in Rente, also so ähnlich wie bei dir. Da ist mir diese Anzeige in die Finger gefallen, und ich dachte, das wäre eine gute Idee. Man sieht was von der Welt und bekommt das auch noch bezahlt.“
Die neuen Kollegen schauten sich an und zogen vielsagend die Augenbrauen hoch.
„Falsch?“, fragte Werner verunsichert.
Kalli legte ihm eine Hand auf den Arm. „Also das mit der Welt sehen, das kannst du dir gleich abschminken. Wenn sie dich nicht für einen Landausflug einteilen, besteht deine ganze Welt ab jetzt nur noch aus diesem Schiff. Denn wenn du nicht gerade schläfst, und glaub mir, du wirst jede freie Minute dafür nutzen, dann bist du im Dienst. Also sieh zu, dass du die richtige Einstellung zu deiner Arbeit hast. Nimm mit, was du kriegen kannst. Das ist kein Zuckerschlecken.“
Lothar schaute hoch. „Na, du kannst dich doch wirklich nicht beschweren! Für dich fällt doch immer mal was ab“, wandte er ein. Plötzlich begann er, in seiner Hosentasche herum zu suchen und förderte eine Pillendose zutage. „Fast hätte ich‘s vergessen…“ Er stand auf und ging zum Tresen.
Werners Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
„Den darfst du nicht so ernst nehmen“, raunte Kalli ihm zu. „Der ist ein bisschen neben der Spur. Nichts Schlimmes, Lothar ist ein echt guter Kumpel. Nur manchmal halt etwas verpeilt, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Er hat einen an der Klatsche.“
Werner schaute ihn entgeistert an. „Was…?“
Aber da kam Lothar mit einem Glas Wasser zurück. Er öffnete die Pillendose und entnahm ihr zwei verschiedenfarbige Tabletten, die er mit einem Ruck seines Kopfes in die Kehle beförderte und dann nachspülte. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schaute seinen Kollegen anklagend an. „Jetzt geht es wieder los.“ Seine Stimme hatte plötzlich etwas Weinerliches.
Kalli verdrehte die Augen. „Oh Mann, nicht schon wieder! Jedes Mal, wenn eine neue Tour beginnt, das braucht wirklich keiner.“ Er langte über den Tisch und packte Lothar an den schmächtigen Schultern. „Es ist alles gut. Du kennst das doch schon.“ Er schüttelte ihn richtig durch, so dass man meinte, seine Zähne klappern zu hören.
Energisch wand sich Lothar aus dem Griff heraus und zupfte sein Jackett wieder in Form. „Wir sind doch nur Preishengste, das ist alles, was wir sind. Und das weißt du genau. Ausgenutzt werden wir von den Weibern, ganz gnadenlos. Erst machen sie dich an, und dann lassen sie dich eiskalt abblitzen.“ Er sackte in sich zusammen und starrte vor sich auf den Tisch.
Werner verschlug es die Sprache, und auch Kalli blieb einen Moment stumm. „Das ist doch alles Quatsch“, versuchte er, seinen Kumpel zu beruhigen. „Reiß dich gefälligst zusammen! Die meisten sind schon ganz in Ordnung.“
Lothar reagierte nicht.
Werner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine neuen Kollegen benahmen sich ja äußerst seltsam. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Peinlich berührt stand er auf. „Ich muss jetzt erst mal meine Sachen auspacken“, murmelte er, nahm seine leere Kaffeetasse und ging zum Tresen, wo er einen Korb für gebrauchtes Geschirr gesehen hatte. Er war so durcheinander, dass er fast mit einem jungen Offizier in weißer Uniform zusammengestoßen wäre.
„Entschuldigung.“
Der maß ihn mit einem skeptischen Blick. „Neu hier?“
„Ja. Mein Name ist Werner Velten. Ich bin Gentleman Host.“
Der junge Mann verzog geringschätzig die Mundwinkel. „Ja, das habe ich mir schon gedacht.“
***
Daniel hopste fröhlich voraus durch den Gang. Schwer bepackt mit ihrer großen Handtasche und dem Rucksack ihres Enkels wankte Ursel Wagner hinterher. Was hatte dieser Junge bloß alles mitgenommen! Das Ding wog so viel, als habe Daniel sein halbes Kinderzimmer dabei. Sie hörte Felix keuchen. Zum wiederholten Mal knallte der große Trolley, den er hinter sich her zog, gegen eine Wand. Mit der anderen Hand balancierte er einen ganzen Berg Jacken und Anoraks, was sein Gesichtsfeld erheblich einschränkte. „Ist es noch weit?“, stieß er hervor.
„Opa, hier! Acht-Null-Drei-Vier.“ Der Junge, der als einziger nichts zu tragen hatte, war ein Stück weiter vor einer Tür stehen geblieben.
„Na Gott sein Dank. Diese langen Gänge sind ja schrecklich.“ Felix war die Erleichterung deutlich anzumerken.
Daniel drückte die Klinke herunter, aber es tat sich nichts. Die Bordkarte fiel ihm ein. Er fand den Schlitz zum Einstecken, fummelte mit dem Plastikkärtchen daran herum, und als sich die Tür immer noch nicht öffnen ließ, trat er ungeduldig dagegen. Dumpfe Schläge waren zu hören, aber die Tür bewegte sich nicht.
„Hey, hey!“, mahnte Felix.
Ursel war auch endlich angekommen und ließ Tasche und Rucksack auf den Boden sinken. „Gib mal her“, forderte sie. „Das muss man langsam machen, mit Gefühl.“ Sie steckte die Bordkarte ein und drückte die Klinke herunter. Die Tür war schwer, und Ursel musste sich ordentlich dagegen stemmen, um sie zu