Völlig außer Atem erreichten sie das Gepäckrondell, das bereits umlagert war wie eine mittelalterliche Festung. Petra erbeutete einen Kofferwagen, den sie mit entschlossener Miene geradewegs in die Mauer der Wartenden hineinschob. Die empörten Bemerkungen prallten an ihr ab, mit starrem Blick konzentrierte sie sich auf die Koffer und Taschen, die im Zeitlupentempo an ihr vorbeirollten.
Gerlinde hielt sich im Hintergrund und fand endlich ein wenig Zeit, um sich umzusehen. Durch die gläserne Frontseite fielen Sonnenstrahlen in das Gebäude. Der Himmel war blau und wolkenlos. Vom Lärm der startenden und landenden Flugzeuge war nichts zu hören, aber die Geräuschkulisse tausender redender, lachender und schreiender Menschen war ohrenbetäubend. Durch Lautsprecher wurde Wichtiges angekündigt, das sie jedoch nicht verstand. Das schnelle Spanisch klang wie Musik; das gerollte „R“ erinnerte sie an Kastagnetten, und das Stakkato der Sätze an die stampfenden Schritte einer Flamencotänzerin. Plötzlich wurde ihr bewusst, wo sie sich befand: Auf einer nicht sehr großen Insel mitten im Atlantik, die im Wesentlichen aus Sand und Felsen bestand.
„Schlaf nicht ein!“ Petras Stimme riss sie aus ihren Fantasien von Palmen, idyllischen Stränden und erfrischendem Meerwasser. „Meinen Koffer hab‘ ich. Jetzt bist du dran.“ Sie schob Gerlinde in Richtung Gepäckband.
Schulter an Schulter standen die Menschen dort immer noch in mehreren Reihen hinter einander, während das Band unter der Last der Gepäckstücke ächzte und quietschte. Gerlinde bemerkte die Seitenblicke, die einige Leute ihr zuwarfen, und ihr von der Hitze gerötetes Gesicht färbte sich noch ein paar Schattierungen dunkler. Sie hätte wenigstens die dicke Jacke ausziehen und bei Petra auf dem Wagen lassen sollen. Aber dazu war es jetzt zu spät, hinter ihr hatte sich der Kreis der Wartenden bereits wieder geschlossen. Aber sie hatte Glück. Schon bald erspähte sie ihren Koffer. Jemand half ihr sogar, ihn vom Gepäckband zu heben. Sie zog den Griff heraus und zwängte sich zu Petra durch. Die war clever gewesen und hatte in der Zwischenzeit alles ausgezogen, was entbehrlich war. Das Ablagefach des Rollwagens war gestopft voll. Gemeinsam hievten sie nun Gerlindes Koffer auf den Wagen.
Suchend schauten sie sich um. „Dort drüben!“ Petra hatte das Schild mit dem Logo der Reederei entdeckt.
Wieder blieb Gerlinde keine Zeit, etwas auszuziehen. Zielstrebig marschierte die Freundin auf den Ausgang zu, an dem sich eine ganze Armada junger, bunt gekleideter Leute zusammengerottet hatte, um die Kreuzfahrer in Empfang zu nehmen. Sie staunte, wie schnell und reibungslos alles ging. In Nullkommanichts waren sie ihre Koffer los. Sie würde sie vor ihrer Kabinentür wiederfinden, versicherte man ihnen und informierte sie, dass sie Transferbus Nummer Sechs nehmen sollten.
Nach der stickigen Flughafenhalle war die frische Brise, die sie draußen empfing, eine Erlösung. „Ist es nicht toll hier?“ fragte Petra begeistert und zeigte auf eine Reihe von Palmen, deren große Wedel leicht im Wind schwankten.
Auch Gerlinde war entzückt. Hier gab es wunderschöne Blumen und Büsche, ganze Rabatten, die in satten Farben leuchteten. Die Erde hatte eine rötliche Tönung, ganz anders als zu Hause. Fremd und exotisch war das alles. Gerne hätte sie sich die Blüten näher angesehen. Aber der Bus wartete, und nach der ganzen Aufregung des Fluges freute sie sich, bald beim Schiff anzukommen. Dort würde sie endlich verschnaufen können.
„Ihr Transfergutschein?“ An der Bustür erwartete sie eine strahlende junge Frau, der die Urlaubsfreude förmlich aus allen Poren kroch. Wohin man schaute, wurde man von jungen Leuten begrüßt. Mit dem dreißigsten Geburtstag wurden die Angestellten vermutlich in den Innendienst versetzt. Aber die fröhlichen Gesichter hatten etwas Ansteckendes. Unwillkürlich lächelte sie zurück.
Petra hatte sich in den Windschatten des Busses verzogen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Endlich brannte der Glimmstängel, und sie sog gierig daran. „Das ist immer das Schlimmste an den Flügen: Rauchverbot.“ In aller Ruhe füllte sie ihren Nikotinspiegel wieder auf.
Gerlinde schaute ihr eine Weile geduldig zu. Aber schließlich wurde sie unruhig, denn der Transferbus Sechs füllte sich zusehends. „Wir müssen rein, sonst bekommen wir keinen Platz mehr“, wagte sie einen Vorstoß.
Petra verzog genervt das Gesicht, aber sie sah wohl ein, dass da etwas dran war. Sie schnippte die Zigarette auf den Boden. „Ich komm‘ ja schon“, knurrte sie ungnädig.
Tatsächlich waren nur noch einzelne Plätze frei, so dass sie getrennt sitzen mussten. Gerlinde nahm ihre Tasche auf den Schoß und schaute sich neugierig um. Ihre Mitreisenden waren bunt zusammengewürfelt, wenn auch viele die Fünfzig bereits überschritten hatten. Aber es gab auch ein paar junge Familien und ältere Leute, die mit kleinen Kindern unterwegs waren. Gerlinde vermutete, dass es sich um Großeltern handelte, die mit ihren Enkeln auf Reisen gingen.
Der Bus war angefüllt mit lautem Reden. Alle waren aufgekratzt, erwartungsvoll und bester Laune. Auch Gerlindes Erschöpfung war wie weggeblasen und einer großen Spannung gewichen. Sie hoffte, unterwegs etwas von der Insel zu sehen. Da sie nur noch einen Gangplatz erwischt hatte, schaute sie nach vorne durch die Windschutzscheibe.
Der Fahrer ließ den Motor an, und sofort machte sich erwartungsvolle Stille breit. Aber bevor es losging, lieferte die junge Frau von der Bustür aus noch ein paar Informationen. „Die Fahrt wird ungefähr eine halbe Stunde dauern. Wir wünschen Ihnen einen wunderschönen Urlaub an Bord der ‚Mare Azul‘.“ Sie kletterte aus dem Bus, und nun begann die Fahrt tatsächlich.
Es ging auf einer breiten Autobahn die Küste entlang. Entzückt betrachtete Gerlinde das Meer. Wellen brachen sich in weißen Schaumkronen an dunklen, zerklüfteten Felsen. Kakteen und niedrige Büsche ragten aus der kargen Erde. An anderen Stellen bedeckten große Flächen niedriger Pflanzen den Boden, deren pastellfarbene Blüten sich weit geöffnet der Sonne entgegenstreckten. Diese Pracht! Gerlinde war ganz verzaubert.
Eine Ortschaft huschte am Fenster vorbei. Die weiß getünchten Häuser klebten an den Felsen wie Schwalbennester. Kleine Gärten und von Steinmäuerchen eingefasste Felder schoben sich gefährlich nahe an den Abgrund. Man musste wohl schwindelfrei sein, um dort arbeiten zu können. Ein paar kleine Läden, eine Bar mit Tischen davor, an denen dunkel gekleidete Männer saßen, das war schon alles, was der Ort zu bieten hatte.
Bald kam eine Anzeigetafel in Sicht. Las Palmas 5 km, sie hatten die Inselhauptstadt fast erreicht. Da, von der erhöhten Straßentrasse aus konnte man einen ersten Blick auf die Bucht und den Hafen werfen. Und dort lag das Schiff, das sie bald über das Meer tragen würde. Ein Raunen ging durch den Bus, Kameras und Handys klickten und surrten eifrig. Jeder schaute und staunte, nun ungeduldig, endlich anzukommen.
Schon waren die ersten Straßen der Großstadt in Sicht, der Verkehr nahm rasch zu. Souverän lenkte der Fahrer den Bus durch Kreisel, bog in eine schmale Straße ein, die zum Hafen führte, und hielt schließlich an. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür, und eilends kletterten die ersten Passagiere hinaus.
Endlich war Gerlinde an der Reihe. Sie stieg aus dem Bus und schaute sich um. Bunt und lebhaft ging es hier zu. Die Menschen liefen mit Gepäckstücken herum, bildeten Trauben vor einem Stand mit Erfrischungsgetränken und verschwanden schließlich hinter den Glastüren des Hafengebäudes.
Und dann verschlug es ihr den Atem: direkt vor ihr lag das Schiff. Weiß, mit blauer Bemalung und so gewaltig, wie sie es sich nie vorgestellt hätte, ragte es weit über das Dach des Kreuzfahrtterminals hinaus. Sie konnte diese Größe gar nicht richtig erfassen. Man musste den Kopf in den Nacken legen, um das oberste Deck zu sehen, über dem bunte Wimpel an einer Leine im Wind flatterten. Der Schornstein spuckte kleine Wölkchen aus, die sich im Blau des Himmels verloren.
„Nun machen Sie mal hinne, Sie blockieren ja alles!“
Ein unsanfter Stoß in den Rücken löste Gerlinde aus ihrer Erstarrung. „Entschuldigung“, murmelte sie und ging ein paar Schritte weiter. Bald würde sie auf einem Deck da oben stehen. Aber so richtig glauben konnte sie es immer noch nicht.
Petra! Suchend schaute sie sich nach ihrer Reisegefährtin um. Der Bus spie die letzten Insassen aus und fuhr wieder an, um Platz für