„Das glaube ich dir sofort. Trotzdem muss ich dein Angebot leider ablehnen, das ist viel zu gefährlich.“
„Ich fürchte mich nicht.“
Leo musste lachen, er mochte den kleinen Kerl.
„Schon vergessen, dass ich bei der Polizei bin? Wir haben da ganz andere Möglichkeiten.“
„Kannst du mir die zeigen?“
„Nein, das ist streng geheim. Vielen Dank, du hast mir sehr geholfen.“
„Soll ich mich für Sie umsehen? Ich falle weniger auf als Sie.“ Der Junge stand Leo genau gegenüber und die Größenunterschiede waren kaum zu übersehen. Während Leo mit 1,90 Meter fast alle überragte, schien der Wachstumsschub bei dem Jungen noch auf sich warten zu lassen, denn er war nur knapp 1,30 Meter.
„Nein, mach das lieber nicht, das könnte gefährlich werden. Überlass die Arbeit den Profis und mach das, was Jungs in deinem Alter so machen.“
„Darf ich mal die Pistole sehen? Nur ganz schnell!“
Leo zögerte, er konnte das Interesse des Kleinen aber gut verstehen. Er sah sich um und zog die Pistole aus dem Holster.
„Nicht anfassen!“
„Wow! Ist die geladen?“
„Selbstverständlich!“
Leo hörte ein Geräusch und steckte die Waffe wieder ein. Vor dem Zimmer erschien ein hochgewachsener junger Mann.
„Das ist nur mein blöder Bruder Luca-Luis!“
„Halt die Klappe, du Schwachkopf! Wer sind Sie?“
„Schwartz, Kripo Mühldorf“, stellte Leo sich vor. „Ist dir etwas aufgefallen?“
„Wozu und was soll mir aufgefallen sein?“, maulte Luca-Luis.
„Stell dich doch nicht so dumm! Du weißt genau, dass die Polizei wegen der Leiche im Pool hier ist“, raunzte Leo-Max seinen Bruder an.
„Ein Pool, der völlig sinnfrei ist! Hätte man auf mich gehört, wäre dort nie gegraben worden und alles wäre in bester Ordnung. Aber nein, Mama und du habt wieder euren Willen durchgesetzt, wie immer! Und was haben wir jetzt davon? Die Polizei ist im Haus! Und wäre das nicht schon genug, stehen wir mal wieder im Fokus aller Nachbarn. Ein toller Einstand! Wollten wir nicht aufs Land, damit wir hier in Ruhe und Frieden leben können? Das habt ihr richtig gut gemacht!“ Luca-Luis verschwand wieder in seinem Zimmer.
„Der ist ja richtig gut gelaunt“, sagte Leo und musste lachen.
„Luca ist immer so, das geht nicht gegen Sie.“
Hans langweilte sich, denn er musste sich nicht nur Erziehungstipps, sondern auch alte Kindergeschichten anhören. Entsprechend sauer war er auf Leo, da der ihn alleingelassen hatte.
„Endlich!“, maulte Hans, als Leo mit dem Jungen zurückkam.
„Was sollte das vorhin? Warum bist du mit dem Jungen gegangen und hast mich mit den Eltern allein gelassen?“
„Mir war danach.“
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“
„Ich bin mir nicht sicher. Der ältere Sohn ist aufgetaucht.“
„Hat der etwas fallrelevantes aussagen können?“
„Nein. Er ist mürrisch und ein Klugscheißer, ein richtiger Teenager eben.“
„Was war mit dem Nachbarn?“
„Nichts.“ Leo wusste, dass er sich über den alleinstehenden Nachbarn Josef Hiermaier informieren würde.
„Lass das sein!“ Hans kannte Leo und wusste dessen Gesichtsausdruck richtig zu deuten.
„Was?“
„Gegen den Nachbarn liegt nichts vor, warum lässt du ihn nicht einfach in Ruhe?“
Leo wusste, dass er gegen Hans nicht ankam, und musste sich geschlagen geben.
„Das mache ich nur, um die Ermittlungen abzurunden.“
„Erzähl mir doch keinen Blödsinn! Du magst den kleinen Kerl und hast dich von ihm einlullen lassen! Ich würde vorschlagen, dass...“
Leo hörte nicht mehr zu. Für ihn stand sein Vorhaben fest und er würde sich auch von Hans nicht davon abbringen lassen. Während Hans sprach, sagte er nichts und nickte nur.
„Lass uns ins Büro gehen und die Aussagen auswerten. Fuchs dürfte in München eingetroffen sein. Mit seinen dortigen Beziehungen kommt er sicher wieder schnell an die Reihe. Mal sehen, mit wem wir es bei der Leiche zu tun haben.“
„Was ist los mit dir, Annette? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“ Die neunundzwanzigjährige Diana Nußbaumer hatte mit der Kollegin Annette Godau weitere Befragungen vorgenommen. Sie hatte nicht nur diejenigen berücksichtigt, die hier standen, sondern vor allem auch die wenigen, die zuhause geblieben waren. Während beide die Befragungen anfangs rasch abwickeln konnten, gestalteten sich einige selbst ernannte Zeugen als sehr schwierig. Es schien, als wären sie froh, sich endlich wieder mit jemanden unterhalten und sich mit anderen Dingen als dieser Pandemie beschäftigen zu können. Dann sah Annette ein Gesicht, das sie völlig aus der Bahn warf. Sie unterhielt sich gerade mit einem älteren Herrn mit einem fürchterlich bayerischen Akzent, den sie kaum verstand. Er bemühte sich redlich, aber das änderte nichts an der Unverständlichkeit. Annette sah das Gesicht in der Menge und hörte nicht mehr zu. Sie blieb wie angewurzelt stehen und suchte nach dem Mann, was wieder die schrecklichen Erinnerungen der Vergangenheit hervorholte. Nach dem ersten Schrecken hielt sie nur noch Ausschau nach diesem Gesicht. Dass sie wie der leibhaftige Tod aussah und jegliche Farbe aus ihrem Gesicht verschwunden war, bemerkte sie nicht. Und wenn, dann wäre es ihr egal.
„Annette? Was ist mit dir?“, drängte Diana, die sich ernsthaft Sorgen um die Kollegin machte.
Erst langsam kam Annette wieder zu sich.
„Alles in Ordnung“, murmelte sie und sah sich nach einem ruhigen Platz um, den es hier aber nicht gab. Jetzt, da die Leiche abtransportiert war, waren alle Augen auf die Kriminalbeamten gerichtet. Während sich Diana einer Frau zuwandte, die vermeintlich etwas zu Sagen hatte, versuchte Annette, sich zu beruhigen. Hatte sie einen Geist gesehen? Das konnte nicht Michael gewesen sein, das war einfach nicht möglich! Sie hatte mit ihm schon lange abgeschlossen und er konnte nicht wissen, wo sie jetzt arbeitete. Oder doch? Sie wischte den Gedanken beiseite und versuchte, an etwas anderes zu denken. Langsam wurde ihre Atmung flacher und sie konnte wieder klarer denken. Das war sicher nicht Michael, den sie gesehen hatte, das war einfach nicht möglich! Als Diana sich ihr zuwandte, brachte sie sogar schon ein Lächeln hervor.
„Nur der Kreislauf“, sagte Annette und Diana schien zufrieden.
„Kann ich verstehen, das Wetter spielt momentan verrückt.“ Im Wagen reichte ihr Diana ein Wasser, das sie dankend annahm. Schweigend fuhren sie ins Präsidium. Dass Diana ihr kein Wort glaubte, ahnte sie nicht.
3.
Während Friedrich Fuchs von seiner Freundin Lore Pfeiffer in der Münchner Pathologie erwartet wurde und nahtlos zu Doktor Schnabel durchgewunken wurde, traf Grünberger in Mühldorf ein. Er rief Braun an, der bereits ungeduldig wartete.
„Wo sind Sie?“, pflaumte Braun.
„In Mühldorf.“
„Fahren Sie zum KZ-Friedhof. Sie wissen, wo der ist?“
„Nein.“
„Dann finden Sie es raus. Ich warte dort.“
Grünberger war sauer. Was sollte der Mist? Er suchte im Navi nach dem KZ-Friedhof und fand ihn in der Ahamer Straße.