Dann gab es einen Schrei und alles war still. Was war da los?
2.
„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“ Leo Schwartz rannte seiner Verlobten Sabine Kofler hinterher. Sie war sauer und ließ sich nicht aufhalten. Wütend stieg die temperamentvolle Journalistin in ihren Wagen, schlug die Fahrertür zu und fuhr davon. Leo konnte ihr nur noch hinterhersehen, denn hinterher laufen war nicht drin, er hatte keine Schuhe an. Er fluchte.
„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“ Tante Gerda saß an diesem milden Frühsommermorgen mit dem Hofhund Felix auf der Bank vor dem umgebauten Bauernhaus. Leos Vermieterin und Ersatzmutter streichelte Felix und fütterte ihn mit kleingeschnittenen Leberwurstbrot-Stückchen.
„Wie kommst du darauf, dass ich etwas gemacht habe?“
„Weil ich dich kenne. Setz dich. Ich bringe dir einen Kaffee und dann erzählst du mir alles ausführlich.“
Leo setzte sich, auch wenn er keine Lust auf ein Gespräch mit Tante Gerda hatte, die im vorliegenden Fall voreingenommen schien. Wie kam sie nur darauf, dass er Schuld an dem Streit hatte? Gedankenverloren aß er von dem Leberwurstbrot, was Felix mit leichtem Knurren quittierte. Tante Gerda kam mit Kaffee und einem Stück Kuchen zurück. Sie setzte sich Leo gegenüber, zog den Teller mit den letzten Leberwurstbrot-Stückchen zur Seite und fütterte Felix weiter.
„Hör auf, den Hund zu mästen!“, maulte Leo.
„Willst du jetzt auch noch Streit mit mir?“ Tante Gerda zog die Augenbraue nach oben, was kein gutes Zeichen war. „Was ist nun mit Sabine? Was hast du gemacht?“
„Natürlich nichts! Ich hatte ihr lediglich vorgeschlagen, zu mir zu ziehen, damit dieser Hickhack endlich ein Ende hat. Sie lebt in München und ich in Altötting, das ist doch kein Dauerzustand!“
„Wie soll das gehen? Sabine hat einen Job, den sie von München aus sehr viel effektiver ausüben kann.“
„Dasselbe hat sie auch gesagt, nur mit anderen Worten. Sie war weniger diplomatisch. Sie warf mir vor dickköpfig zu sein, was nun wirklich nicht zu mir passt. Dabei will ich doch nur…“
Tante Gerda musste lachen.
„Du bist der Dickkopf in Person, mein lieber Leo. Du musst doch verstehen…“
In dem Moment klingelte Leos Handy. Als kommissarischer Leiter der Mordkommission musste er sofort rangehen. Er mochte diesen Job nicht und hatte sich nur bereiterklärt, diesen zu übernehmen, da Hans sich strikt weigerte. Diana war zu jung dafür und Annette war nur ein Ersatz. Sie war aus Regensburg ausgeliehen worden, um das Team zu komplettieren. Insgeheim hoffte er, dass sie bleiben würde, denn er kam sehr gut mit ihr zurecht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte er sich rasch an sie gewöhnt – und das sollte auch so bleiben.
„Wir haben einen Toten“, sagte er nur und ging, was ihm nicht unangenehm war. Tante Gerda war auf Sabines Seite, da erübrigte sich jedes weitere Wort. Er befand sich im Recht. Was hatte er denn getan? Nichts!
Leo traf zuerst in Tüßling ein. Eine aufgebrachte Gruppe versammelte sich um ihn, als er sich auswies und es schnell die Runde machte, dass er Polizist war. Es war sehr laut und Leo verstand kein Wort.
„Jetzt beruhigen wir uns erst mal alle“, schrie er sehr laut. Da keiner eine Maske trug, zog er seine demonstrativ auf. Da der Chef etwas gegen seine lustige Affenmaske hatte, wählte er ein neutrales und damit langweiliges Exemplar, das er nur während der Arbeitszeit aufzog. Erst jetzt traten alle zurück und setzten ihre Masken auf – verdammtes Corona! Die Zahlen waren seit Wochen zwar gesunken, trotzdem bestand immer noch Maskenpflicht. „Wo ist die Leiche?“, wandte er sich an eine Frau, die völlig aufgelöst war.
„Dort drüben, kommen Sie mit!“ Nadine Olschewski war sehr aufgeregt. Alle anderen zwar auch, aber sie noch sehr viel mehr, denn schließlich ging es um ihr Grundstück. Sie hatte geerbt und das alte Haus günstig erwerben können. Sie hatte schon als kleines Mädchen von einem Eigenheim geträumt, das in ihren Vorstellungen allerdings mehr einem Palast glich. Das alte, renovierungsbedürftige Haus sah zwar ganz anders aus, aber es gehörte nur ihr – zumindest der Teil, der nicht der Bank gehörte. Und jetzt lag auf ihrem Grundstück eine Leiche! In ihren Gedanken malte sie sich die wildesten Geschichten aus, in denen es um Mord und Totschlag ging.
Josef Hiermaier stand starr am Zaun der Nachbarn. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
Auch Sabine Thomas hatte sich dazugesellt und beobachtete, was hier ablief. Sie hatte Leo Schwartz sofort erkannt. Ob sie ihm zuwinken sollte? Nein, das war dann doch zu viel des Guten.
Leo sah in die Grube und erschrak. Das Skelett war tatsächlich das eines Menschen, ohne jeden Zweifel. Der Schädel schien zu grinsen, was er aber für sich behielt. Er drängte die Menschenmenge zurück und hoffte darauf, dass Fuchs mit den Kollegen der Spurensicherung endlich anrückte und diesmal ganz besonders weiträumig absperrte.
Die Kollegen fuhren vor und Friedrich Fuchs übernahm sofort das Kommando.
„Sparen Sie nicht mit Ihrer Absperrung, Fuchs, es kommen auch immer mehr Kinder dazu“, wies Leo den Kollegen an.
„Sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu machen habe!“ Fuchs hatte heute schlechte Laune. Es war Vollmond und dabei schlief er miserabel. Außerdem war er nicht wirklich ausgelastet, denn seit Wochen gab es keinen interessanten Fall mehr, was sich jetzt hoffentlich änderte. Noch war er skeptisch. Er nahm die Leiter und stieg in die Grube, nachdem er einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen hatte.
Der neunundfünfzigjährige Hans Hiebler war eingetroffen und stand neben Leo an der Baugrube, auch wenn Fuchs das nicht gerne sah. Er hasste es, wenn sich jemand zu nahe an den Tatort begab, wenn er ihn noch nicht freigegeben hatte.
„Erinnert dich das an etwas?“, fragte Hans, der heute wieder viel zu viel Parfum aufgelegt hatte. Außerdem sah er aus, als wäre er in Rimini an der Strandpromenade: Weiße Hose, hellblaues Leinenhemd, Lederslipper und eine moderne Sonnenbrille, die fast das ganze Gesicht bedeckte.
„An die Baugrube in Mühldorf“, nickte Leo.
Die beiden unterhielten sich über den damaligen Fall, in dem eine Leiche nach über dreißig Jahren gefunden wurde. Fuchs verstand jedes Wort und fühlte sich gestört.
„Können Sie sich nicht woanders unterhalten?“, maulte er.
„Das könnten wir, aber wir wollen nicht“, gab Leo zurück. „Was schätzen Sie? Wie lange liegt die Leiche schon dort? Ich tippe auf fünfzig Jahre, Hans meint länger.“
„Das ist ein Tatort und kein Wettbüro!“ Fuchs schüttelte den Kopf und bat einen Kollegen zu sich in die Grube. Während die beiden arbeiteten, hörten die Kollegen Schwartz und Hiebler nicht auf mit ihrem Geschwätz, was Fuchs mehr und mehr zur Weißglut brachte.
„Können Sie nicht endlich den Rand halten?“, herrschte er die beiden schließlich an.
„Nicht in dem Ton, Fuchs!“, maulte Leo zurück. Es war augenscheinlich, dass Fuchs schlechte Laune hatte, aber die hatte er auch.
Fuchs hielt sich zurück. Er kannte den Kollegen Schwartz schon lange und spürte, dass er es heute auf einen Streit ankommen ließ – und darauf wollte er sich nicht einlassen.
Unter den Schaulustigen, die nicht alle Anwohner der Rosenstraße waren, hatte sich auch ein Mann eingefunden, der nicht fassen konnte, was hier gerade geschah: Karl Braun. Sein Haus befand sich in der Parallelstraße, nur der Garten grenzte an die Rosenstraße – und er war nicht scharf auf das Großaufgebot an Polizei. Nicht mehr lange, und die Presse war vor Ort – das konnte