„Stehen Sie da nicht dumm herum! Gehen Sie in den Friedhof!“
„Was soll das? Wie...“ Weiter kam Grünberger nicht, die Verbindung wurde unterbrochen. Er musste der Anweisung folgen und öffnete das Eisentor dieses unwirklichen Ortes. Grünberger mochte keine Friedhöfe und machte sonst einen großen Bogen um sie. Im Vorbeigehen las er einen der Gedenksteine und hasste Braun regelrecht dafür, dass er sich das hier antun musste. Mühldorf war Grünberger nicht unbekannt, schließlich stammte seine Mutter von hier. Während den Ferien wurde er oft gezwungen, mindestens zwei Wochen bei Tante Irmi zu verbringen, die ihm immer unheimlich war. Das dustere, kleine Haus in der Probststraße war für ihn wie eine Höhle, aus der es kaum ein Entrinnen gab. Tante Irmi war zeitlebens eine Esoterikerin gewesen. Viele fragwürdige Gegenstände verstopften das Haus. Die Frau, die immer freundlich, aber distanziert zu ihm war, verstarb kurz nach seiner Mutter, weshalb er das hässliche Haus erbte. Er machte es schnell zu barer Münze, was sich als sehr schwierig erwies, denn niemand wollte den alten Kasten haben. Nachdem er mit dem Preis immer weiter nach unten ging, fand er endlich einen Käufer.
„Wo bleiben Sie denn! Hierher!“, unterbrach eine tiefe Stimme seine Gedanken. Erschrocken fuhr Grünberger zusammen und erkannte Braun, der in den zwei Jahren ziemlich dick geworden war.
„Was soll der Mist? Weshalb treffen wir uns hier?“
„Weil ich es so will!“ Braun war immer noch stinksauer. „Warum hilft man mir nicht? Sie haben mir versprochen...“
„Ja, das weiß ich doch! Aber auch ich bin weisungsgebunden, das Ganze ist schließlich nicht auf meinem Mist gewachsen. Verstehen Sie das denn nicht? Ich bin ein kleines Rädchen, das nicht viel zu Sagen hat!“
Braun sah Grünberger erschrocken an.
„Was machen Sie dann hier? Warum schickt man mir nicht jemanden, der mir helfen kann?“
„Sie haben mich missverstanden. Natürlich werde ich Ihnen helfen und deshalb bin ich hier. Auf der Fahrt hierher habe ich recherchiert. Die Leiche müsste in der Münchner Pathologie sein. Wie lange ist sie schon dort? Was schätzen Sie?“
„Als ich abgehauen bin, war sie noch in Tüßling. Sie kann nicht länger als zwei Stunden in München sein, eher weniger.“
„Dann haben wir noch nicht zu viel Zeit verloren, das ist gut. Ich kenne das Gedränge in der Pathologie, das kann dauern.“ Grünberger lächelte und rief die Nummer eines Kollegen an, der eng mit der Pathologie zusammenarbeitete. „Kannst du das für mich rausfinden? Das wäre super! Ich brauche nicht betonen, dass die Sache unter uns bleibt? – Natürlich hast du dafür etwas gut bei mir! – Melde dich, sobald du etwas für mich hast, ja?“
Braun hörte dem anschließenden Geplänkel nicht mehr zu. Er war einige Schritte gegangen und las die Inschriften einiger Grabsteine, die auf Hebräisch waren und die er nicht verstand. Dann war Grünberger endlich fertig.
„Mein Bekannter meldet sich“, freute der sich. Was sollte er sonst sagen? Er hatte keine Ahnung, was er hier eigentlich wollte, denn wirklich helfen konnte er dem Mann nicht. Dafür war er auch nicht der Richtige, dafür war Valentin Schober zuständig. Wiederholt versuchte Braun, den Mann zu erreichen. Wieder nur die Mailbox! Verdammter Mist!
Braun und Grünberger warteten ungeduldig. Beide gingen auf dem KZ-Friedhof ihre eigenen Wege, denn keiner ertrug die Nähe des anderen. Sie misstrauten sich, was unter den gegebenen Umständen verständlich war.
Eine Frau beobachtete die beiden. Sie wollte Blumen am Grab ihres Ahnen Nathan Gielczinski niederlegen, auch wenn ihr klar war, dass der Mann dort vermutlich nicht lag. Nach Kriegsende wurde das Massengrab am KZ des Mühldorfer Harts ausgehoben und die Leichen auf diesen und andere Friedhöfe verteilt. Wann und unter welchen Umständen Urgroßonkel Nathan ums Leben kam, war bis heute nicht wirklich geklärt worden, was die Familie lange Jahre sehr belastete. Sonja Wagner kannte nur die Geschichten rund um den Onkel, da sie damals noch nicht geboren war. Selbst ihre Mutter war zu der Zeit ein kleines Kind gewesen. Je älter Sonja wurde, desto ausgeschmückter und heroischer wurden die Erinnerungen rund um den Mann, der nicht nur Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, sondern danach auch Polizist gewesen war, bevor die Nazis an die Macht kamen und damit sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde. Er konnte, wie sie selbst auch, seinen Mund nur schwer im Zaum halten und wurde 1934 verhaftet. Er war einer der Ersten, der nach Dachau deportiert wurde. Onkel Nathan war gesund und kräftig, weshalb er gerne für Arbeitseinsätze eingeteilt wurde. Deshalb verschlug es ihn in verschiedene KZs und schließlich nach Mühldorf. Dort fand er den Tod.
Auch wenn fast sicher war, dass Onkel Nathan nicht auf diesem Friedhof und in diesem Grab bestattet war, sah sie sich verpflichtet, zu dieser Stelle zu gehen und dort seiner zu gedenken. Wo sollte sie sonst um ihn trauern? Sie hatte ihrer Mutter zu Lebzeiten mehrfach versprechen müssen, die Erinnerung an deren geliebten Urgroßonkel so lange wie möglich am Leben zu erhalten – und diesem Versprechen kam sie gerne und regelmäßig nach, zumal sie das Schicksal vor über dreißig Jahren nach Mühldorf verschlug und sie jetzt hier, fernab ihrer Heimat Dresden, lebte. Damals war sie beruflich versetzt worden. Wie groß die Überraschung war, dass sie der Weg zu Urgroßonkel Nathan führte, war für sie kaum zu begreifen. Vor allem ihre Mutter, die damals noch lebte, sah das als großes Glück an.
Die fremden Männer gefielen der mittlerweile zweiundsiebzigjährigen Sonja Wagner nicht. In all den Jahren hatte sie viele Trauernde kennengelernt, die beiden Männer gehörten ganz sicher nicht dazu. Sie benahmen sich anders als diejenigen, die sonst hierher kamen, was sie misstrauisch werden ließ. Die betagte Dame nahm ihr Handy, machte einige Fotos und rief die Polizei.
„Handelt es sich um Grabschändungen?“ Der Polizist stöhnte – nicht schon wieder! In den letzten Jahren häuften sich Schmierereien mit braunem Gedankengut, gegen die die Polizei nach Anweisung von ganz oben sofort und mit aller Härte nachzugehen hatte.
„Das weiß ich nicht, aber das könnte gut möglich sein. Kommen Sie schnell, ich warte!“ Sonja Wagner versteckte sich, behielt die Fremden aber im Auge. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Polizei kam. Sonja ging winkend auf den Wagen zu.
Erschrocken bemerkte Grünberger das Polizeifahrzeug.
„Was für eine Scheiße! Weg hier!“, flüsterte er Braun zu, der jedoch die Panik des Mannes nicht verstand.
„Was ist los?“
„Polizei!“
Braun sah sich erschrocken um. Er beobachtete, wie ein Uniformierter mit einer alten Frau sprach, dessen Kollege stand nur wenige Schritte entfernt und sah sich um.
„Verdammter Mist!“
„Mein Wagen steht direkt neben den Polizisten. Wo ist Ihr Auto?“
„Auf dem Krankenhaus-Parkplatz.“
„Gehen wir.“
Die beiden Männer verließen den Friedhof durch einen Seiteneingang. Die Polizisten reagierten zu spät, was Sonja Wagner wütend machte.
„Die hauen ab!“, rief sie den Uniformierten hinterher – aber die reagierten nicht. Anstatt den Ausgang zu nehmen und den beiden Fremden den Weg abzuschneiden, liefen die Polizisten über den Friedhof. Da sie Gräbern und Bänken ausweichen mussten, kostete das zu viel Zeit. Sonja Wagner spürte, dass hier etwas ablief, das nicht normal war. Warum liefen die Fremden davon? Was hatten sie zu verbergen? Sie war früher eine sehr mutige Frau, aber das war lange her. Sie lebte ihr beschauliches Leben in Mühldorf, das ohne irgendwelche Höhepunkte oder gar Gefahren verlief. Jetzt, hier auf dem KZ-Friedhof, fühlte sie, wie sie eine Energie umklammerte, die sie lange nicht gespürt hatte. Nach einem kurzen Blick auf ihre Blumen drehte sie sich um und folgte den Männern – mit dem Blumenschmuck. Ihr Herz klopfte, denn so etwas hatte sie noch nie gewagt. War sie von allen guten Geistern verlassen? Obwohl ihr klar war, dass das hier Wahnsinn war, ließ sie nicht von ihrem Vorhaben ab.
Die beiden Männer gingen eilig über die vielbefahrene Straße, wobei einer der