Mejibowski räumte die Unterlagen, die er vor sich liegen hatte, in den Safe und machte sich missmutig auf den Heimweg.
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Frankfurt-Sossenheim
Igor hatte in einem russischen Lebensmittelgeschäft eine Flasche schweren grusinischen Rotweins aufgetrieben und hielt sie seiner Schwester hin, als diese ihm die Tür öffnete. Sie umarmten sich innig noch vor der Tür (für Russen brachte es Unglück, dies auf der Türschwelle zu tun), und sie bat ihn herein.
Igor war niedergeschlagen, und er hatte Angst. Aber er würde Katja nicht den Abend verderben, indem er sie mit dem Brief beunruhigte, den er von ihrem vor ein paar Tagen verstorbenen Großvater erhalten hatte. Dass sie den Mann verloren hatten, der sie jahrelang fast alleine großgezogen hatte, war schlimm genug, und er wollte seiner Schwester keinen weiteren Kummer bereiten.
Er kannte sich mit den praktischen Seiten der Atomtechnik nicht sonderlich gut aus und war damit nicht allein unter den Theoretischen Physikern. Aber er wusste, dass eine solche Menge stark strahlenden Materials - mit einem guten konventionellen Sprengstoff zur Explosion gebracht - dazu ausreichen konnte, Teile Frankfurts für längere Zeit so zu verseuchen, dass sie unbewohnbar waren, bis sie gründlich dekontaminiert worden waren. Und das war eine unglaubliche Perspektive.
Er ahnte den Zusammenhang zwischen den Informationen, die er bekommen hatte, dem Tod des Großvaters und seinen unheimlichen Begegnungen der letzten beiden Tage.
Katja hatte ukrainischen Borschtsch gemacht, den ihr Bruder so mochte. Dazu gab es frisches Baguette und den Wein, den er mitgebracht hatte. Sie redeten wenig während des Essens und gerade, als sie den Tisch abräumen wollten, klingelte das Telefon.
Katja erschrak und errötete von einer Sekunde auf die andere. Sie stand hastig auf, nahm das schnurlose Telefon aus seiner Ladestation und ging damit ins Schlafzimmer. Igor hörte nur noch, wie Katja sagte, dass es heute unmöglich sei und dass der Anrufer sich morgen wieder melden solle. Dann hatte sie die Tür hinter sich zugezogen und er hörte nicht mehr, was besprochen wurde. Ihm fiel ein, dass er dies schon zwei- oder dreimal erlebt hatte, wenn er hier war. Es war merkwürdig.
Hatte seine Schwester einen Freund oder Geliebten? Die Vorstellung, dass dieser sich mächtig ärgern musste, weil Igor immer gerade dann bei ihr war, wenn er turteln wollte, amüsierte ihn ein wenig.
Er entschied sich trotz aller Neugier dagegen, sie direkt zu fragen; wenn sie ihm etwas zu sagen hatte, würde sie das tun. Und außerdem, war er nicht seit langem der Meinung, dass Katja mit ihren beinahe achtundzwanzig Jahren langsam an eine eigene Familie denken sollte?
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam und das Telefon zurück an seinen Platz stellte, war Igor in Gedanken wieder bei dem Brief, den er bekommen hatte. Sein Großvater hatte nie zur Panikmache geneigt. Er war ein ruhiger, ausgeglichener Mann, der dazu neigte, Aufgaben oder Probleme zuerst von allen Seiten gründlich zu beleuchten, bevor er handelte.
Diesmal musste es anders sein; auf dem Blatt Papier, welches die SD-Karte begleitet hatte, war nur eine winzige, fast unleserlich gekritzelte Nachricht gewesen. „Was hältst du davon? Wollt ihr nicht lieber nach Hause kommen? In Liebe, dein Opa. PS.: Liebste Grüße an Katja!“
Kein Vergleich zu den Briefen, die er sonst alle zwei oder drei Monate geschickt hatte und in denen er ausführlich erzählte, was er selbst so trieb (was in letzter Zeit leider nicht mehr allzu viel gewesen war) und sich ausführlich nach den Fortschritten von Igors Studium erkundigte. Kein Wort davon in dieser Notiz.
Sie räumten den Tisch ab, brachten die schmutzigen Teller in die Küche, und er trocknete das Geschirr ab, als Katja es gespült hatte. Bei solchen Gelegenheiten fühlte er sich ihr immer besonders nah. Dann war es fast wie früher zuhause in Russland.
„Wie viel brauchst du?“
Er schluckte: „Ach, Schwester, es wird mir immer peinlicher.“
„Raus damit, wie viel?“
„Hm, mit fünfhundert wäre mir sehr geholfen.“
„Oh Mann! Es ist doch gerade erst Monatsanfang. Wie machst du das bloß immer?“ Sie seufzte und ging nochmals ins Schlafzimmer.
„Eines Tages kriegst du das alles zurück.“
„Eines Tages fließt die Wolga rückwärts, mein Lieber. Hier, und komm mir vor April nicht mehr mit weiteren Notlagen. Es reicht.“
„Versprochen.“ Er starrte auf den Fünfhundert-Euro-Schein, den sie ihm hinhielt.
„Hast du’s nicht kleiner?“ Igor schaute sie misstrauisch an. Sie schüttelte den Kopf.
„Man könnte meinen, dass die bei dir auf den Bäumen wachsen.“ Aber er steckte das Geld in die Innentasche seiner zerschlissenen Lederjacke.
„Ich sollte jetzt besser verschwinden, ich muss heute Abend noch ein bisschen für die Uni arbeiten. Tschüss, Schwester, und danke, mal wieder.“ Schneller als sie etwas sagen konnte, küsste er sie auf beide Wangen und war verschwunden. So war Igor, und so würde Igor bleiben.
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Im ICE von Bonn nach Frankfurt am Main
Die vier Russen, die erst seit gestern im Land waren, fluchten herzhaft, weil sie im Speisewagen des Zuges nicht rauchen durften. Nun ja, sagte ihr Chef, dann mussten sie eben abwechselnd die Zugtoilette aufsuchen, um zu qualmen. Er war mürrisch und besorgt, denn sie waren in einer heiklen Mission unterwegs, vielleicht in einer der heikelsten überhaupt seit der Kubakrise, wie der Grünschnäbel unter ihnen orakelt hatte, aber das war natürlich übertrieben. Ihr Auftrag war schwierig, und um ihn leise und effizient ausführen zu können, hätte er anderes, besseres Personal gebraucht. Und was taten die Bürokraten in Moskau? Sie gaben ihm einen Assistenten mit, der zu dämlich war, um mit einer Fackel in der Hand seinen eigenen Hintern zu finden, und dazu zwei Killer mit Babyface und Akne, die kaum erwachsen genug waren, um ohne Mama und Papa verreisen zu dürfen.
Der Auftrag konnte eindeutiger kaum sein: Schnappt den Jungen, quetscht ihn aus und beseitigt ihn danach.
Es würde wahrscheinlich keine Mitwisser geben, denn der junge Student hatte bei seinem Erpressungsversuch gestern Morgen immer nur in der Ich- und nie in der Wir-Form gesprochen. Die Spezialisten in der Heimat meinten deshalb, er arbeite allein und auf eigene Rechnung. Klugscheißer!
Hoffentlich blieb es bei dem einen, von dem sie wussten, dachte der erfahrene Außendienstmann. Er hatte im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern nicht das Bedürfnis, im Blut seiner Opfer zu waten. Dieser Lebensphase war er entwachsen, und physische Gewalt wandte er nur noch an, wenn andere Mittel versagt hatten.
Sie hatten Zimmer im Hotel „Ibis Frankfurt Messe West“ gebucht, einer billigen Absteige zwar, die aber den Vorteil bot, dass sie nur einen Steinwurf entfernt von dem Studentenwohnheim lag, in dem der Junge hauste.
Sie würden ihn einen Tag lang beobachten, bevor sie sich ihm näherten, und dabei vielleicht herausfinden, ob er wirklich allein handelte. Er hatte eine um vier Jahre ältere Schwester, die in einem anderen Teil der Stadt wohnte. Das hatten sie vor ihrer Abreise herausgefunden, und vielleicht konnte es noch von Nutzen sein, wenn man dem Bengel nicht anders beikam. Familienbande unter Russen im Ausland waren stark, und hier hatte man Bruder und Schwester, die sich laut ihren Informationen sehr nahe standen.
Sie hatten Limburg passiert, in einer guten halben Stunde würden sie am Flughafen-Bahnhof aussteigen und eine S-Bahn in die Frankfurter Stadtmitte nehmen. Ihre Spesen waren so mickrig bemessen wie ihr Gehalt eigentlich eine Frechheit war für das, was sie fürs Vaterland taten. Sie konnten sich kaum ein Taxi leisten.
Er bestellte eine weitere