In der zweiten Reihe. Kathrin Thiemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kathrin Thiemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754137383
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stand schon am Fenster und hielt Ausschau.

      »Du brauchst keine Angst haben, Tante Gerda, ich bin unter männlichem Schutz gekommen.«

      »Jaja, ich hab es mir doch beinahe gedacht.«, erwiderte sie. Wir verabredeten noch, dass Wilhelm und seine Mutter uns beide am nächsten Tag zum Spaziergang abholten. Es wurde zwar ein recht kalter und nebeliger Spaziergang, aber so haben wir uns doch wenigstens noch einmal sehen können. Wenn auch ein Spaziergang zu viert etwas ganz anderes war als einer zu zweit.

       1923

       Wie weiter?

      Ernst hatte sich wieder verlobt, hörte ich. Das machte mir mehr aus, als mir lieb war. Er war immerhin meine erste Liebe gewesen. Doch weg mit dem Gedanken. Ob aus Wilhelm und mir etwas wurde, bezweifelte ich. Immer wieder kamen mir seine hohen Ansprüche in den Sinn und ich glaubte kaum, dass ich die Richtige dafür war. Und nur um unter die Haube zu kommen, ging ich bestimmt nicht noch einmal eine Verlobung ein. Es gab gewiss etliche, die durch Leid gute Menschen wurden. Ich glaubte nicht, dass ich dazu gehörte. Ich fürchtete, Leid und Sorgen hätten mich eher schlechter gemacht. Ich fand mich manchmal ungeduldig mit meinen Kolleginnen im Büro meines Vaters und auch mit meinen Geschwistern. Entgegen meinem Naturell hatte ich in diesen Tagen eine eher missmutige Stimmung. Im neuen Jahr 1923, das gerade begann, sah ich für mich keinen Lichtblick. Die Arbeit forderte mich nicht heraus, um mich herum geschah eine Verlobung nach der anderen und ich saß als alte Jungfer dazwischen. Was hatte ich schon vorzuweisen? Ein abgebrochenes Studium und eine abgebrochene Verlobung. In den Zeitungen konnte ich davon lesen, was Frauen jetzt alles leisteten. Sie wurden Pilotinnen und Ärztinnen, wir konnten wählen gehen und uns die Haare kurz schneiden. Wir durften Hosen tragen und ohne Ehemann leben. Für mich schien das alles nicht zu gelten.

      Zum Glück hatte ich genügend Dinge, an denen ich mich erfreute. Ich las schon immer gerne oder ich setze mich ab und zu an unser Klavier. Viel konnte ich nicht, aber einige Lieder spielte ich immer wieder. Oder ich nahm die Gitarre, um die Volkslieder aus dem Zupfgeigenhansel zu singen. Dieses Liederbuch der Wandervogelbewegung kannte ich schon seit ein paar Jahren, im Laufe der Zeit wollte ich das gesamte Buch auswendig lernen. So könnte ich jederzeit und überall singen.

      Auch meine Briefmarkensammlung, mit der ich mich schon seit meiner frühen Jugend beschäftigte, machte mich zufrieden. Ich hielt regelmäßigen Kontakt zu anderen Briefmarkenfreunden, zu Schulfreundinnen und Verwandten, denen ich fast täglich Briefe schrieb.

      Mein reger Briefwechsel mit Wilhelm tat mir gut. Er schrieb so viel über sein Studium, ich konnte mich in seine Überlegungen, seinen Glauben und auch seine Zweifel gut hineinfühlen. Manches Mal versuchte ich auch mein Wissen mit einzuflechten, das schien er anzuerkennen. Dieser Austausch war vor allem für meinen Verstand eine Wohltat.

      Anlässlich meines nächsten Besuches bei Tante Gerda ließ ich es darauf ankommen und ging auf dem Weg von der Bahn auf gut Glück bei ihm vorbei. Einen ganz anderen Wilhelm fand ich so vor. Ich entdeckte ihn auf dem Schulhof beim Turnen, bei seinen Freiübungen, in Hemd und Hose. Das war ihm ein bisschen unangenehm, doch was ich sah, gefiel mir. Ein durchtrainierter, stattlicher Mann, dem die Bewegung sichtlich Freude machte. Ich konnte nicht lange bleiben, es wurde nur ein kurzer Gruß, den ich ihm geben konnte.

      Wenig später kam er wieder nach Paderborn. Vater hatte nichts dagegen und so wurden es einige Besuche, oft sogar zwei im Monat.

      Erst nach einer Weile begriff ich es. Vater hatte nichts gegen eine Verbindung zwischen uns und hoffte sogar, dass ich so endlich unter die Haube käme. Dass Wilhelm bei ihm sogar schon um meine Hand angehalten hatte, wusste ich allerdings nicht. Beide schwiegen dazu.

       »Die Milch!«

      Über Pfingsten kam er wieder zu Besuch. Zwischen uns war eine immer deutlichere, durchaus angenehme Spannung gewachsen. Entgegen seiner Art schwieg er oft an meiner Seite, wenn wir uns nicht gemeinsam mit einem Bild oder Buch beschäftigten. Ob er sich nicht stürmisch zu meinen Füßen werfen wollte, sich lieber zusammen riss? Ob er Sorge hatte, frühere Fehler zu wiederholen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder.

      An den Feiertagen hatten wir viel Zeit und wenig Arbeit. Obwohl er mitten in seiner Examensarbeit steckte, hatte er gut vorgearbeitet, damit er diese Tage freihalten konnte. Wir saßen am Nachmittag in der guten Stube auf dem Sofa und lasen in alten Briefen meiner Brieffreundinnen. Ich war in der Küche gewesen und hatte Milch für einen Kakao aufgesetzt. Walters rechter Arm lag wie zufällig hinter mir auf der Sofalehne und wir saßen recht dicht beieinander. Da fand ich die Postkarte von Ernst und ihm, die sie mir zum ersten gemeinsamen Neujahrstag geschrieben hatten. Dort stand zum ersten Mal dieser Satz Glück auf den Weg!

      »Kennst du die noch?« fragte ich ihn und sah ihn an.

      »Aber natürlich«, antwortete er und blickte mir tief in die Augen.

      »Hast du denn damals mit einem Gruß von uns gerechnet?«

      »Ich hatte schon Weihnachten darauf gewartet«, erwiderte ich. Es klang wie ein Bekenntnis.

      Da spürte ich seine Hand an meinem rechten Arm und wie er meine linke Hand mit seiner linken nahm.

      »Ach du, jetzt kommt es also heraus.«

      Eine Weile saßen wir so ganz still, ohne ein einziges Wort. Mir wurde eng um die Brust. Plötzlich sprang ich auf.

      »Die Milch!« rief ich und lief hinaus in die Küche.

      Zum Glück kochte sie noch nicht über, ich kam im allerletzten Moment, um sie vom Feuer zu ziehen. Damit war auch der Zauber vorbei. Es war noch einmal gut gegangen. Blitzschnell flogen die Gedanken durch meinen Kopf. Die Verlobung mit Ernst war schief gegangen. Bitte nicht nochmal diese Schmach. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt in der Lage war, richtig zu lieben. Wilhelm war so unglaublich romantisch. Würde ich ihm geben können, was er haben wollte, vielleicht sogar brauchte? Wenn ich es wagte, wenn ich mich ihm hingab, wurde vielleicht auch klarer, was aus mir werden sollte, nämlich doch eine Pfarrfrau.

      Ich musste schon viel zu früh selbstständig sein, jetzt würde ich die Verantwortung für mein Leben teilen können. Mit diesem klugen Mann an meiner Seite, der schon viel erlebt hatte und über das Leben Bescheid wusste, bliebe ich auch dicht an der Theologie. Das alles sprach für ihn. Wie oft hatten wir über biblische Texte gesprochen und uns gegenseitig inspiriert. Wilhelm schien mir zwar ein schwärmerischer, aber auch ein ernsthafter Partner auf Augenhöhe zu sein.

      Am nächsten Spätnachmittag fanden wir uns erneut auf dem Sofa wieder. Zog es uns so stark dorthin? Diesmal zeigte ich ihm einen kleinen selbst gefalteten Papierball. Draußen regnete es ununterbrochen und warm war es auch nicht. Er nahm meine linke Hand, um sie zu wärmen, und ich hielt mich spielend an dem kleinen Papierball fest. Als er mir wieder seinen rechten Arm umlegte, hatte ich nur den einen Gedanken. Soll ich oder soll ich nicht? Lange saßen wir ganz still. Da fasste sich Wilhelm ein Herz: »Helene«, sagte er, »dass wir nun hier so sitzen, was hat das zu bedeuten? Ich wage nicht, dich zu fragen ...«

      Weiter kam er nicht. Ich gab mir den letzten Ruck und ließ mich in seine Arme sinken.

      »Wenn du mich nehmen willst, wie ich bin, wenn du noch Geduld mit mir haben willst?«

      »Natürlich«, flüsterte er.

      In der nun folgenden Ruhe, Herz an Herz und Wange an Wange, verschwand die Zeit. Bis wir die Augen hoben und Walter mich bat:

      »Helene, gib mir den Brautkuss.«

      Unsere Lippen fanden sich. Er küsste anders als Ernst, seine Lippen waren viel weicher, aber auch fordernd.

      Anschließend saßen wir lange schweigend umschlungen und hörten den Glocken der Franziskanerkirche zu, die unsere Zeugen wurden.

      Marthas Gesicht hellte sich auf, als sie hereinkam und uns so sitzend fand. Auch Erich tat ganz überrascht, als er abends kam und uns Hand in Hand sah.

      »Na endlich«, brummelte er.

      Am nächsten Morgen gingen wir gemeinsam