In der zweiten Reihe. Kathrin Thiemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kathrin Thiemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754137383
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hatte mir gesagt, dass er eines davon seiner Mutter als Neujahrsgruß schicken wollte. Vielleicht war es deshalb besser, nicht zu heiter zu gucken? Ich kannte sie schließlich nur als eine sehr ernsthafte Frau. Anderseits schaute ich auch so, weil der Fotograf ein großes Theater um mich machte. So etwas verunsicherte mich eher. Wilhelm freute sich jedenfalls sehr darüber.

      An dem Nachmittag seiner Abreise hatte ich frei bekommen und begleitete ihn zum Bahnhof. Es war für mich eine traurige, aber auch feierliche Stunde, die wir noch miteinander hatten. Zum Glück war ich nie zimperlich. Wann immer er gehen musste, war ich stark. Keine Träne rollte mir aus den Augen. Diesmal war es eine lange Zeit der Trennung. Es war Anfang Dezember und vor Mai sollte er nicht wiederkommen, die Reise wäre einfach zu teuer geworden. Eineinhalb Millionen Mark für eine Strecke, das war für ihn und auch für mich nicht möglich.

      Mal wieder war es gut, dass ich so gerne Briefe schrieb. Noch viel besser war, dass die Währungsreform endlich diese furchtbare Inflation gestoppt hatte. Zuletzt musste ich mir gut überlegen, ob ich Wilhelm überhaupt noch einen Brief schreiben konnte. Ein Jahr vorher, im Oktober 1922 kostete das Porto von Paderborn nach Tübingen immerhin schon sechs Mark. Dann stieg es allmählich immer höher. Anfang November dieses Jahres sogar binnen einer Woche von 100 Millionen auf eine Milliarde, für einen einzigen Brief. Dann kam der Schnitt. Heute kostete das Briefporto nur noch zehn Pfennige.

      Dadurch schrieb ich noch viel lieber. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit, von Vater und Martha, von den Veränderungen nach der Inflation und dem Wetter. Auch er meldete sich in Briefen häufig und ausführlich. Manchmal kam eine kleine Postkarte zwischendurch, wie neulich. Auf der Rückseite stand einfach nur: »Kann i auch nicht immer bei dir sein, hab i doch mei Freud an dir.« So war er.

      Immer wieder schrieb er auch über unsere Liebe. Er konnte so kunstvolle Worte schreiben, sie waren oft viel schöner als die gesprochenen. Allerdings hatten sie manchmal eine Klarheit, dass ich beim Lesen nach Luft schnappte. Es waren viele ernste Worte und ich merkte, wie viele Gedanken er sich um uns und sich in Bezug auf mich machte. Ein wenig jagten sie mir Angst ein. Mein Leben kam mir neben dem seinen dann so klein vor. Anderseits war ich mit meinem Leben, mit den Menschen um mich herum und unserm Zusammensein, dem Lachen und Singen beim Stopfen und meiner Büroarbeit meistens ganz zufrieden. Überhaupt fand ich Zufriedenheit eine gute Sache. Das Gute zu finden ist ein hilfreicher Weg zur Zufriedenheit. Wilhelm dagegen war oft getrieben, ein Suchender. Könnte das der Sinn meines Lebens sein? Ihm Halt zu geben? Damit wäre klar, dass ich ein ganz klassisches Frauenleben führen würde, das einer Pfarrfrau. Das heißt bekanntermaßen überwiegend Dienen.

      »Wir sind zwei sehr verschiedene Menschen, wenn wir auch im Innersten unseres Lebens den Glauben an die Gnade gemeinsam haben. Doch in unserm Wesen sind wir völlig unterschiedlich. Unser beider Leben wird von zwei Polen aus bestimmt, vom leidenschaftlichen Ich und dem Du sollst der Pflicht. Bei mir wird das Erste vom Zweiten in Schranken gehalten. Bei Dir sollte das Du sollst ein wenig mehr von der wallenden Leidenschaft bewegt werden. Bei mir überwiegt das Impulsive, der starke Trieb, die Wucht des Ich. Bei Dir die stille alltägliche Art, das selbstverständliche Tun, die Nüchternheit. Damit ist uns die Hauptaufgabe für unser gemeinsames Leben gegeben. Du schreibst nie: ,Wie ich so lieb, so lieb Dich hab.‘ Statt dessen: ,Ich bin nicht verliebt in Dich.‘ Kalt, ohne Teilnahme erzählst Du, was Du so erlebt hast, kein Wort von der Freude auf das Wiedersehen, keine Spur von Sehnsucht, so scheint es. Aber ich müsste Dich schlecht kennen, wenn ich Dich danach beurteilen wollte. Ich mit meiner brennenden Leidenschaft, die ich im täglichen Kampfe bremsen muss, mein starkes Verlangen zur Zweiheit.

      Ob Ernst deshalb von Dir ging? Ich bleibe bei Dir, liebe Helene. Ein Narr wäre ich und ein Verbrecher, wollte ich Dich von mir schicken. Gott hat uns einander als Aufgabe gegeben. Liebe haben wir beide viel. Ich habe die vom Sturm gepeitschten Wellen, Du hast die tiefe, ruhige See. Uns beiden fehlt etwas, mir die Tiefe, Dir die Leidenschaft. Was ist schwerer zu erwerben? Die völlige Verbindung wird Dir rasch geben, was Dir fehlt. Mein Erwerben muss lange, heiße Arbeit an mir sein.«

      Zum Glück waren nicht alle Briefe so. Ich glaube, das hätte mich überfordert. Lieber erfuhr ich, was er machte und worüber er sich freuen konnte. Ab und zu fand ich in einem Brief tatsächlich ein bisschen Humor. Diese waren mir am liebsten, denn so erfuhr ich, dass es ihm gut ging. Humor machte das Leben eindeutig leichter. So berichtete er einmal von einer Zugfahrt nach Wien. Ihm gegenüber saß ein Paar. Er hatte ein wenig im Halbschlaf vor sich hin gedöst und wurde auf ein leises Tuscheln aufmerksam. Durch die Augenlider blinzelnd beobachtete er, wie das Paar seine Beine in den Kniebundhosen betrachtete. Auf eine Zeitung notierte der Mann etwas und schob sie hinüber zu seiner Frau, die daraufhin leise lachte. Nach einer Weile erwachte er demonstrativ, schaute ein wenig aus dem Fenster und tat gelangweilt. Schließlich fragte er sehr freundlich, als hätte er gerade den Einfall gehabt:

      »Darf ich mir Ihre Zeitung einmal ausleihen?«

      Da konnten sie natürlich nicht nein sagen. Gründlich arbeitete er sich Seite für Seite hindurch und fand schließlich die geschriebene Notiz: »Hat der Mensch Waden!«

       1924

       Zweiter Versuch

      Es wurde Frühling. Von Wien aus fuhr Wilhelm direkt nach Soest ins Predigerseminar. Das war zum Glück nicht weit entfernt von Paderborn, allerdings wurde er dort sehr stark eingespannt. Sonntags konnte er erst am Mittag zu mir kommen und musste Montag in der Frühe schon wieder zurück. Aber immerhin, wir sahen uns fast jeden Sonntag, was für ein Unterschied zu Dänemark und Wien.

      Wir beschlossen mit dem Kauf unserer Ringe, unsere Verlobung bekannt zu geben. Die Verwandtschaft wartete schon darauf und kam auf unsere Einladung gerne zusammen. Den 25. Mai 1924 hatten wir als Verlobungstag festgelegt. Vor lauter Vorbereitungen fanden wir erst am späten Abend endlich einen Moment der Stille. Wir legten unsere Hände ineinander und steckten uns die Ringe an.

      Am nächsten Tag feierten wir mit der Verwandtschaft. Natürlich hatte ich dafür eine Menge zu tun. Wilhelm beschwerte sich, dass er an diesem Wochenende so wenig von mir hatte. Aber der Kuchen musste ja gebacken, der Tisch gedeckt und der Kaffee gekocht werden. Johanna, unsere langjährige gute Seele, half mir dabei und Martha auch. Vater und Erich rückten die Möbel. Tante Elschen, Mutters Schwester, Onkel Hugo und Tante Jutta kamen aus Rheda und Onkel Robert und Tante Gerda aus Bethel. Von Wilhelms Seite kam seine ganze Familie, seine Eltern Fritz und Bertha, sein Bruder Alfred mit seiner neuen Braut Anne und seinem kleinen Töchterchen Rita aus erster Ehe, Wilhelms Patenkind. Martha, seine erste Frau starb kurz nach ihrer Geburt. Friedrich mit seiner Braut Emmy, Roland und Heinrich und die Schwestern Erna und Lore. Es wurde ein fröhliches Fest mit einem großen Gedränge in unserm Wohnzimmer.

      Wir mussten allerdings noch eine ganze Weile warten, bis wir endlich heiraten konnten. Denn wir hatten fast nichts. Vater wollte uns einen Anschub geben und kaufte uns ein Schlafzimmer und ein Esszimmer mit Schreibtisch. Das war schon mal ein gutes Stück unseres künftigen Zuhauses.

      Jetzt gehörte ich mit zur Familie Simon. Meine Schwiegermutter feierte im September ihren 50. Geburtstag und ich fuhr ganz selbstverständlich mit nach Barmen. Wilhelm kam am Abend vorher nach Paderborn, um mich abzuholen. Wir hatten am Abend ein gemütliches und sehr sinnliches Stündchen miteinander. Wieder musste ich als die tiefe, ruhige See, wie er mich genannt hatte, alleine die Verantwortung tragen und ihm als vom Sturm gepeitschter Welle die Grenze aufzeigen. Er war solch ein leidenschaftlicher Mann, dass es mir schwerfiel. Es gefiel ihm nicht, aber anders ging es nicht. Hier wurde ich sehr klar, denn unsere Hochzeit war noch nicht in Sicht. Als er sich wieder besinnen konnte, dankte er mir dafür.

      »Danke, dass du mich warten lässt. Auch darin liegt ein Segen. Denn sich sehnen bringt Leben, ist Leben. Haben ohne Sehnsucht ist Tod.«

      Meist kam Wilhelm zu uns nach Paderborn, doch ich habe ihn auch einmal im Predigerseminar besuchen dürfen. Es war in einem alten Kloster und natürlich durfte ich nur tagsüber in sein Zimmer. Er hatte sich große Mühe gegeben und es extra für mich zurechtgemacht. Alle Spuren der Arbeit beseitigte er, soweit es ging. Einen neuen Lampenschirm hatte er angeschafft und saubere Decken besorgt. Damit wollte er es mir gemütlich machen.

      »Verlobt