Manchmal wurde ich gefragt, ob mir diese Arbeit gefiel. Auf jeden Fall fand ich sie besser als das Haushaltsjahr. Immerhin entsprach sie meiner Sorgfalt und meinem Ordnungssinn im Kleinen.
Wilhelm sagte später über mich: »Die Mutter ist in den kleinen Dingen ganz groß und in den großen Dingen ganz klein.« Dazu schwieg ich dann.
Leises Anklopfen
Eine Postkarte von Wilhelm kam vom Bodensee. Er studierte inzwischen in Tübingen und war zu Beginn der Semesterferien ein paar Tage auf Schusters Rappen unterwegs. Er dachte an mich, freundlich war die Postkarte. Ich fragte mich, ob Ernst ihm von der Auflösung unserer Verlobung berichtet hatte. Standen die beiden noch in Kontakt, waren sie noch Freunde?
Kurz darauf kam ein ausführlicher Brief. Hier schrieb er über sein bevorstehendes Examen und dass er auf der Suche nach einem Platz für ein letztes, ein besonderes Semester war. Utrecht stand zur Debatte. Er würde überall in Europa hingehen, am liebsten bliebe er allerdings in Deutschland. Und dann kam sein noch immer aktuelles Thema. Er schrieb mir ganz offen, wie es seine Art war, über die Einsamkeit. Er berichtete von seiner Unfähigkeit, ein Mädchen in Liebe an sich binden zu können, im Gegenteil, sie mit seiner Leidenschaft eher zu erschrecken. Dass er ausgerechnet mich zu diesem Thema als Ziel seiner Gedanken auswählte, überraschte mich.
Gleich setzte ich mich an den Sekretär und griff zu Papier und Feder.
»Lieber Wilhelm.
Ich würde mir an Deiner Stelle nicht so viel den Kopf darüber zerbrechen, wer einmal Deine Weggenossin sein wird. Lege alles in Gottes Hand. Wenn er Dich glücklich machen will, dann wird er Dir schon zur Zeit die Augen öffnen und Dir die Richtige in den Weg schicken. Binde Dich nur nicht eher, als bis Du die frohe Gewissheit hast: ,Sie ist die mir von Gott bestimmte‘, und als bis Du die Kraft in Dir fühlst, auch für sie die Verantwortung übernehmen zu können. Helene.«
Er ging mir immer wieder durch den Kopf. Auch die Worte von Elisabeth Dauner, dass er das ganze Leben mit mir gehen wollte. Damals ahnte ich nicht, wie kurz mein Weg mit Ernst werden würde. Der hatte mich verzaubert mit seinem Strahlen, seinem Charme. Nun verzauberte er eine andere.
In Wilhelms Antwortbrief las ich, dass er demnächst auf dem Weg nach Bielefeld sei. Er wollte sich Bethel ansehen, den Stadtteil, in dem die Anstalten lagen und mich gerne auf dem Weg dorthin besuchen. Ob mir das recht sei? Das war es natürlich. Ich freute mich auf den Besuch, denn ich hatte ihn lange nicht gesehen, gewiss eineinhalb Jahre. Zuletzt im Mai 1921, als Ernst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und er uns zum Bahnhof brachte.
Er strahlte, als er aus dem Zug stieg. Er sah gut aus, zufrieden und stattlich. Vater gestattete es, ihn bei uns einzuquartieren. Ich zeigte ihm meine Bücher und wir saßen stundenlang zusammen und blätterten darin herum. Dann ließ er sich von mir durch die Stadt führen, wir gingen zusammen spazieren und holten Vater vom Büro ab.
Beide umschifften wir das Thema Ernst, bis Wilhelm irgendwann tief Luft holte:
»Ernst hat mir deinen Abschiedsbrief gezeigt.«
Also wusste er jetzt Bescheid. Jahre später erzählte er mir, dass Ernst ihm auch gesagt hatte:
»Jetzt kannst du gehen, der Weg ist frei.«
Wie gut, dass er jetzt schwieg.
Doch neugierig war ich auch.
»Wie geht es Fräulein Ottsen?«
»Das weiß ich nicht, ich habe sie seit dem Winter nicht mehr gesehen.«
Also hatte ich mich damals geirrt, als ich dachte, mit ihnen beiden könnte es etwas werden.
Jetzt schwieg Wilhelm wieder und ich fragte nicht weiter. Er hatte es also in dem Brief wirklich ernst gemeint, als er von seiner Einsamkeit sprach.
Vorwärts geschaut!
Mein Bruder fand Wilhelm einen beeindruckenden Mann und bat ihn, in sein Album zu schreiben. Das tat er gerne. Erich zeigte es mir später.
»Paderborn, 24.10.1922
Ein treuer Freund kann Dir sein, wer Deine Sehnsucht teilt und ein Bruder, der den gleichen Weg mit Dir gehen will. Aber der beste Freund und der liebste Bruder kann keinen Schritt für Dich gehen. Darum bist Du am Ende immer allein – mit Deinem Gott.
Zum Anfang unser Freundschaft
Wilhelm«
Ich ließ es mir nicht nehmen und bat darum, in sein Tagebuch schreiben zu dürfen, was er mir freudig gestattete. Nach allem, was er mir erzählte, war er ein Zweifler vor allem an sich selbst. Ich wollte ihm Mut und Gelassenheit geben.
»Willst Du ein Ziel erreichen,
ein schweres ohnegleichen,
darfst Du nicht ängstlich schwanken,
nach rechts, nach links nicht wanken:
Nein, vorwärts geschaut!
Auf Gott vertraut!
Dann wird’s gelingen,
Du wirst’s erringen!
(E.Schütze)
Dir, lieber Wilhelm, und Deiner Arbeit wünscht Gottes Segen
Helene«
Zum Abschied schenkte ich ihm mein Hebräisch-Wörterbuch. Er konnte es gut brauchen und bei mir stand es bloß auf dem Bücherbrett herum.
»Auf ein recht baldiges Wiedersehen«, verabschiedete Vater ihn, als er am nächsten Morgen weiter nach Bethel fuhr. Ich horchte auf. Mochten die beiden Männer sich?
Schon zwei Wochen später kam Wilhelm wieder. Diesmal hatte er einen anderen Vorwand. Wir hatten beim letzten Besuch über ein Muster für Stickereien gesprochen und über Bänder und Spitzen. Sogleich hatte er bei seinem Vater nachgefragt und kam mit einem kleinen Beutel voll an. Er musste gleich am nächsten Tag wieder zurück, aber auch diesmal hatten wir schöne Stunden miteinander. Er erschien mir nicht mehr so redselig und leidenschaftlich wie früher. Mein Gefühl sagte mir, er hatte sich ein wenig ausgetobt und ruhte mehr in sich.
Ich wusste selbst nicht so recht, was ich wollte. Es zog mich zu ihm. Meine Sorge war jedoch groß, dass ich wieder enttäuscht würde. Diesmal wollte ich mich gründlich prüfen, nicht wieder voreilig ja sagen. Immerhin hatte er schon für so manches Mädchen geschwärmt. Ich musste sicher sein, dass es ihm wirklich um mich ging und nicht darum, nicht mehr einsam zu sein.
Der nächste Brief kam aus Bethel. Tatsächlich hatte sich Wilhelm dort an der Theologischen Schule für sein vorletztes Semester eingeschrieben. Weil in Bethel eine meiner Tanten wohnte, nutze ich einen Besuch bei ihr als Anlass, mich mit ihm zu treffen.
Er hatte sich sehr gefreut, als ich mich ankündigte, allerdings war an diesem Wochenende auch seine Mutter da.
Bertha Simon, ich hatte sie schon kennengelernt, damals, als ich mit ihm und Ernst nach Hause in die Weihnachtsferien fuhr. In Barmen hatte sie uns ein blitzschnelles Frühstück gezaubert. Vielleicht wäre es gut, auch sie einmal wieder zu sehen. Vielleicht würde ein Treffen etwas mehr Klarheit bringen in meine Gedanken? Eine Mutter ist ja ein wesentlicher Mensch für einen Mann.
So saßen wir zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer des Studentenwohnheimes und Wilhelm ließ uns Kakao bringen. Es war November und kalt, da tat das heiße Getränk gut. Nur Ernst fehlte in dieser Runde. Diesen Gedanken scheuchte ich schnell beiseite. Er hatte sich selbst ausgeschlossen.
Als ich aufbrach, wollte Wilhelm mich unbedingt die kurze Strecke durch den Wald begleiten und ließ dafür sogar seine Mutter eine halbe Stunde alleine.