In der zweiten Reihe. Kathrin Thiemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kathrin Thiemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754137383
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      »Das, was Sie sehen, Ihnen sagen«, meinte ich.

      Vater hob seinen Blick und musterte uns. Seine Augen blieben an unseren Händen haften.

      »Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich dachte schon, was ihr wohl Besonderes habt.«

      So war er, aus allem machte er einen Scherz oder stellte sich so dumm, dass es ein Scherz werden musste.

      Nun setzten wir uns hin und schrieben auch einen gemeinsamen Brief an Wilhelms Eltern nach Barmen. Auch für sie war es vermutlich keine Überraschung, meinte er.

       Die feurige Mor

      Nun kam er offiziell jeden zweiten Samstag am Nachmittag nach Paderborn und fuhr am frühen Montagmorgen wieder zurück. Er brauchte die restliche Zeit dringend für sein Examen. Deshalb war ich überrascht und auch erschrocken, als er eines Morgens schon früh um sieben Uhr in meinem Büro auftauchte. Was war passiert?

      »Wilhelm!« entfuhr mir und die Kolleginnen sahen auf.

      Er zog mich kurz hinaus und erklärte mir, warum er gekommen war. Er hätte die Chance bekommen, noch ein Semester in Dänemark anzuschließen, und müsste sich dazu schnell entscheiden. Aber ohne eine Zusage von mir würde er diese Möglichkeit ausschlagen. Für das Examen könnte und müsste er natürlich auch dort lernen.

      »So viel Schönes darfst du doch nicht ausschlagen. Nein, fahr bloß hin. Ich freue mich für dich!«

      Mit einem Kuss und einer Umarmung bedankte sich der frohe Student und sprang winkend vor Freude um die Ecke auf den Weg zum Bahnhof. Ich ging zurück an meine Listen und merkte erst jetzt, was das für mich bedeutete. Kaum hatten wir uns gefunden, sollte er schon wieder weg. Schade. Ich hatte es dennoch ernst gemeint, was ich ihm sagte, denn seine Freude über die Chance blitzte ihm aus den Augen.

      Bevor er fuhr, war mir wichtig, ihn meiner Familie vorzustellen, auch Mutters Verwandtschaft in Rheda. Wir zeigten ihm ihr Grab. Auch von hier musste er bald wieder zurück an den Schreibtisch.

      Dann war er weg.

      Er schickte mir regelmäßige Briefe und erzählte von seinen Erlebnissen und Gedanken. Wie gut, dass ich auch selbst so gerne Briefe schrieb, so blieben wir in Verbindung. Er war in einer Pfarrfamilie untergebracht und nannte den Pastor und seine Frau Mor und Far, wie in Dänemark Kinder ihre Eltern nannten. Er tat es deren kleinen Kindern nach und fühlte sich schnell heimisch. Zwischen kleinen Aufgaben für die Gemeinde von Pastor Severinsen musste er auch dort natürlich fleißig lernen. Das Examen wartete nicht. Von Mor bekam er viel Mutterliebe, schrieb er, bei Pastor Severinsen erlernte er auch das Buchbinden mit großem Eifer. Für seine eigene Zukunft als Pastor fand er eine Menge Anregungen.

      »Ich spreche mit Mor viel über dich, liebe Helene«, las ich. »Ich freue mich, wenn wir uns wieder durch’s Haar fahren können, deine Arme mich festhalten und ich ruhig werden kann. Du bist mein Hafen.«

      Wilhelm wirkte unruhig in seinen Briefen, häufig erwähnte er Mor. Einmal traf mich fast der Schlag, als er schrieb, sie habe ihn geküsst. Ich kenne doch ihn und seine schwelende Leidenschaft, was war da passiert? Seine Beteuerungen glaubte ich ihm durchaus, es habe nichts mit mir zu tun, die um ein paar Jahre ältere Mor habe eben so ein feuriges Wesen. Auf jeden Fall hatte er heftige Sehnsucht nach mir, schrieb er – oder überhaupt nach einer Frau? Ich hatte zwar das Gefühl, ihm und seiner unruhigen Natur gutzutun. Doch zu oft tauchte der Gedanke in mir auf, ob ich dieser Aufgabe gewachsen sein konnte. Manchmal wollte er mehr, als ich zu geben in der Lage war. Bei seiner starken Leidenschaft fiel ich immer wieder wie in mich zusammen und wurde ganz passiv. Ja, ich gab mich ihm hin, soweit ich es durfte, solange wir noch nicht verheiratet waren. Hätte ich mich ihm ebenso stürmisch an den Hals geworfen, wäre es um uns geschehen. Hier trug ich die Verantwortung, weil nur ich diejenige war, die uns bremsen konnte.

      Ende September kam er endlich aus Dänemark zurück. Ich hatte mich sehr beeilt, um pünktlich aus dem Büro auf dem Bahnsteig stehen zu können. Ich hielt Ausschau und reckte den Hals. Ganz hinten stieg er aus, ließ sein Gepäck fallen und flog auf mich zu. Ich musterte ihn so unauffällig wie möglich. Hatte sein Erlebnis mit Mor ihn verändert? Er war mir gegenüber ausgesprochen herzlich und freute sich so sehr, mich zu sehen, dass ich beschloss, diese Episode zu vergessen. Das Gute im Menschen zu sehen, das kann ich.

      Drei Tage konnte er bleiben. Er lernte, während ich im Büro war, und wir genossen heimliche Abendstunden unter dem Sternenhimmel, bei einer Kutschfahrt oder Spaziergängen. Viel zu schnell waren die gemeinsamen Tage auch schon wieder vorbei. Wilhelm fuhr zu zwei letzten Paukwochen, wie er sie nannte, zu seinen Eltern nach Barmen und ich versuchte, so gut es ging weiter zu sparen für meine Aussteuer.

       Wie gewonnen, so zerronnen

      Inzwischen war die Inflation im vollen Gange. Bei Wilhelms Reisebeginn hatte eine dänische Krone bereits 30.000 Mark gekostet und bei seiner Rückreise ein Vierteljahr später schon 18 Millionen. Ein Dollar kostete 7.194.000.000 Mark. Wo sollte das alles hinführen? Mein selbstverdientes Geld stellte mich zwar zufrieden, jedoch die Entwertung machte mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Von dem Lohn, den ich mittags ausbezahlt bekam, konnte ich am nächsten Morgen höchstens noch ein Brot kaufen. Wie sollte ich denn so weiter für meine Aussteuer sparen?

      Eines Tages überlegte ich zusammen mit meiner dreizehnjährigen Schwester, was wir mit den Mengen an Papiergeld bloß machen sollten. Martha war schon immer pfiffig, natürlich hatte sie einen Einfall. Am nächsten Sonntag gingen wir zusammen in den Gottesdienst. Zum Glück schienen wir die Einzigen zu sein, die diese Idee hatten, als der Klingelbeutel vorbei gereicht wurde. Wir entleerten meine Handtasche und alle vier Manteltaschen auf Marthas Schoß. Ich hielt den Klingelbeutel gut fest und sie stopfte, so fest sie konnte, die Milliarden hinein.

      Inzwischen war Wilhelm zu seinem ersten Staatsexamen in Bonn gewesen. Ich nahm mir ein paar freie Tage und fuhr nach Barmen. Dort wollte ich ihn willkommen heißen, wenn er nach Hause kam. Seine Mutter hatte mich eingeladen, um ihm eine Freude zu machen. Bei Simons kam mir in den Sinn, dass auch ich jetzt diejenige hätte sein können, die von der Prüfung kam. Diese Gedanken kamen und ließen sich zum Glück wieder beiseiteschieben. Was nutzte das Hadern? Warum sollte ich mir Gedanken über etwas machen, das nicht sein konnte? Es würde nur Kummer daraus wachsen. Ich hatte mir fest vorgenommen, meinen Frieden damit zu haben, dass mein Leben nun doch ein frauliches sein würde. Ich wollte mich für Wilhelm freuen, und das gelang mir auch.

      Da kam er in die Stube, entdeckte mich, hob mich hoch und drehte sich mit mir im Kreis.

      »Dich hält ein angehender Vikar in den Armen!« rief er und strahlte vor Stolz.

       Theorien aus Österreich

      Wie sollte es nun mit uns weiter gehen? Während ich weiter im Heeresunterkunftsamt arbeitete, suchte er eine Arbeit. Bis das Vikariat begann, musste er von etwas leben, denn seine Eltern konnten ihn nicht mit durchfüttern. Erst wollte er wieder in der Bank arbeiten, die ihn in den Semesterferien immer genommen hatte, doch er bekam das Angebot, ein paar Monate in St. Pölten bei Wien in einer Gemeinde als Assistent zu arbeiten. Das war wirklich weit weg. Er war doch gerade erst wieder aus Dänemark zurück.

      Ich hatte mich auf die gemeinsame Zeit gefreut und musste tief durchatmen. Diesem reiselustigen Mann, dem seine Begeisterung für das nächste Abenteuer anzusehen war, konnte ich diese Möglichkeit nicht abschlagen. Er fragte mich zwar wie damals vor der Dänemarkreise nach meiner Meinung, aber die Frage erschien mir eher rhetorischer Art. Er fuhr natürlich lieber mit meinem Segen als gegen meinen Willen. Welche Möglichkeiten hatte ich denn? Wollte ich seinem Glück im Wege stehen? Wäre ich kleinlich, wenn ich ihn für mich haben wollte? Schon in der nächsten Woche hatte er seinen Koffer gepackt und war wieder weg, und ich wartete brav auf seine Wiederkehr.

      Vor seiner Abreise hatte er mich gebeten, ein schönes Foto von mir machen zu lassen. Ich hatte ein neues Kleid in gerader Linie und ohne Gürtel bekommen. Die Taille war ganz modern bis auf die Hüfte gerutscht. Es war dunkelblau und hatte einen V-Ausschnitt mit Revers aus Satin. Natürlich zog ich