Und dann kam das Wasser. Dagmar Isabell Schmidbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Isabell Schmidbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745015102
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Raum hinein. Immer wieder erhellte das grelle Licht der kleinen Kamera für einen Moment den schaurigen Tatort, bevor er erneut in einer diffusen Dämmerung verschwamm. Akustisch wurde die Szene von dem technischen Sirren der Kamera, wenn sich der Blitz wieder auflud, und dem unheimlichen Knirschen des Glases beherrscht. Unermüdlich wechselte die Kommissarin die Perspektive, um auch alle anderen Teile des Raumes festzuhalten.

      Während sie sich Schritt für Schritt voran arbeitete, orientierte sie sich an dem massiven Tresen, als könnte er ihr, wie ein Fels in der Brandung, Halt geben. Ohne auf die warnenden Stimmen der Feuerwehrmänner und die aufgeregten und besorgten Rufe von Hannes zu hören, machte sie weiter, bis es in einem ohrenbetäubenden Knall die Schaufensterscheiben und die Glaseinsätze der Ladentür zerriss.

      Braune Wassermassen schossen herein und füllten den Raum in Sekunden aus. Alles, was sich ihnen entgegenstellte, wurde einfach umgeschmissen und dann mitgerissen, bis sich die nächste stabile Wand den Wassermassen entgegenstellte. So erging es auch Franziska. Unfähig, sich nach dem lauten Knall noch in Sicherheit zu bringen, wurde sie vom eiskalten Wasser erfasst, herumgewirbelt und schließlich gegen den Tresen geschleudert, der ihr jedoch keinen Halt bot. Ohne wirkliche Orientierung versuchte sie die Wasseroberfläche zu erreichen, und als es ihr tatsächlich gelang, wurde ihr klar, dass sie sich knapp unterhalb der Decke befand.

      Ist das Wasser schon so hoch gestiegen?, dachte sie, und dann schnappte sie hastig nach Luft, denn schon wurde sie erneut hinunter in die kalte braune Donau gezogen. Ihre Kleidung hinderte sie an sinnvollen Schwimmbewegungen, und die Muskeln waren von der Kälte des Wassers innerhalb von Sekunden träge und beinahe nutzlos geworden.

      Nachdem die Donau den Raum erst einmal eingenommen hatte, stieg das Wasser zunächst höher und höher, bis es sich dem Niveau draußen vor der Tür angepasst hatte und schließlich zur Ruhe kam. Für Franziska dauerte dieser Vorgang eine Ewigkeit. Bei ihrem zweiten Versuch, Luft zu schnappen, hatte sie einige Schluck Donauwasser erwischt und trieb jetzt würgend und hustend und erneut Wasser schluckend in der Brühe, die sie gefangen hielt, ohne sie wirklich festzuhalten. Immer wieder wurde sie von herumschwimmenden Gegenständen gestreift, und bei ihrem Versuch, sich an irgendetwas zu klammern, daran erinnert, wie glitschig Wasser war.

      Längst hatte sie die Orientierung verloren und begann gerade, mit ihrem Leben abzuschließen, als sie in der Ferne ein ganz schwaches Licht ausmachte. Kurz dachte sie an Walter und Hannes und sogar an Obermüller und daran, ob sie sie vermissen würden. Seltsame Bilder kamen in ihr hoch. Sie glaubte sich in einem Tunnel, der sie immer tiefer in sich hinein sog, bis am Ende … War das das Ende? Sah sie gleich ihren Lebensfilm rückwärts ablaufen, und wenn sie wieder Kind war, dann war alles vorbei?

      Mit letzter Kraft begann Franziska mit den Armen zu rudern und mit den Beinen wild ins Wasser zu treten, bis sie tatsächlich etwas berührte, von dem sie sich abstoßen konnte. Und dann wurde das Licht heller, und sie hörte eine Stimme, Hannes‘ Stimme, die nach ihr rief: „Franziska!“

      Sie spürte eine Hand, die nach ihr griff, sie aber nicht fassen konnte. Mein Gott, Hannes war da, Hannes wollte sie retten. Mit aufgerissenen Augen versuchte sie die Stelle zu erreichen, von der das Licht und weitere Stimmen kamen, und als sie es endlich schaffte, erneut eine Hand spürte, die nach ihr griff und an ihr zog, als sie sich schon gerettet wähnte, bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf und versank erneut in gnädiger Dunkelheit.

      Wie ein geprügelter Hund stand Kriminalhauptkommissar Josef Schneidlinger auf dem Holzsteg unterhalb des Einstiegsfensters und machte sich selbst die schwersten Vorwürfe.

      Natürlich war die Kollegin Steinbacher erfahren, und der junge Hollermann war ja auch mit reingegangen, aber wie sich jetzt gezeigt hatte, war die junge Kommissarin vielleicht doch noch nicht so weit – zumindest, wenn es um die Einschätzung des Risikos ging.

      Der Hauptkommissar beugte sich über das Fensterbrett und versuchte einen Blick auf das Geschehen im Haus zu werfen. Als er vor wenigen Minuten am Tatort eingetroffen war, hatte man ihn mit der Aussage konfrontiert, dass sie jetzt vermutlich eine zweite Wasserleiche hätten. Nun, das kommt vor, dachte der Hauptkommissar im ersten Moment, schließlich war die Sachlage insgesamt etwas undurchsichtig. Als die Kameraden von der Feuerwehr jedoch hinzufügten, der Kommissarin wäre ja auch nicht zu helfen gewesen, wurde ihm schlagartig flau im Magen. Sie habe die Warnung selbst dann noch ignoriert, als es schon nicht mehr zu überhören war, dass das Glas im nächsten Moment zerreißen würde, berichtete ein Mann, und der Rest, na ja, der sei dann einfach Pech gewesen. Ihr Kollege hätte sie ja schon fast gehabt, als die Stützkonstruktion der Decke umkippte und der Balken der lebensmüden Kommissarin direkt auf den Kopf donnerte.

      Nachdem er die Haustür ins Schloss gezogen hatte, war er noch froh darüber gewesen, dass er der aufgeladenen Stimmung, die an diesem Wochenende in seinem Elternhaus herrschte, den Rücken kehren konnte. Ausgestattet mit Gummistiefeln und einer regenfesten Jacke war er in seinen Porsche Boxster gestiegen, in weiser Voraussicht, dass er zwar nicht auf dem Weg zu einer echten Alternative für einen anständigen Sonntagabend war, aber immerhin weg kam. Er hatte die Autobahn genommen, war in Passau-Süd abgefahren, weiter über die B12 und dann runter auf die Regensburger Straße bis zum Schanzl. An der Ludwigstraße war er in die Fußgängerzone eingebogen und folgte ihr, bis er über den Heuwinkel zum Rindermarkt kam. Über die Messergasse und den Steinweg hatte er schließlich den Residenzplatz erreicht, wo man ihn dann nichtmehrweiterfahren ließ. Hier parkten auch der Bus der KTU und der Wagen von Franziska Steinbacher. Die gesamte Fahrt war Schneidlinger endlos und beschwerlich erschienen. Starker Regen prasselte auf das Verdeck seines Wagens, wie ein unermüdliches Stakkato, oder, wie er jetzt wusste, wie der Countdown zu dem Moment, in dem er hier stehen musste, um sich einem wahren Albtraum zu stellen.

      Seit einem guten Jahr war er der Leiter der Passauer Mordkommission, und inzwischen kannte er nicht nur alle schönen Winkel dieser Stadt, sondern auch die weniger beschaulichen Ecken. Gleichzeitig waren ihm die neuen Kollegen ans Herz gewachsen, jeder auf seine ganz eigene Art. Vor allem die engagierte Oberkommissarin Steinbacher, die so erfrischend ehrlich, aber, wie er sehr wohl beobachtet hatte, auch verletzlich war, mochte er sehr. Und jetzt? Kurz war Schneidlinger versucht gewesen selbst hineinzusteigen, um bei der Bergung zu helfen. Andererseits waren da drin schon genug Fachleute im Einsatz, und so blieb ihm nur das lange und zermürbende Warten.

      Für einen Moment ließ der Hauptkommissar das Fenster außer Acht und sah sich um. Neben ihm auf dem Steg standen die Kollegen von der Kriminaltechnik, die gehofft hatten, den Tatort inspizieren zu können, bevor das Wasser alle Beweise vernichtete. Sie alle blickten bekümmert zu dem kleinen Fenster hin, durch das Franziska mit Hannes und den Männern von der Feuerwehr in das Ladenlokal gestiegen war. Niemand schien Schneidlinger und seine Sorgen zu beachten, bis er spürte, wie sich ihm ein Blick in dem Rücken bohrte. Neugierig wandte er den Kopf und stierte in die Dunkelheit, um den zu finden, der ihn so interessiert musterte, als er erschrocken zusammenfuhr, weil ihm jemand mit lauter Stimme zurief: „Weg da! Wir haben sie!“

      Der Hauptkommissar reckte sich, um endlich zu sehen, was mit der Kollegin passiert war, doch statt Franziska erschien ein großer und kräftiger Feuerwehrmann im Fenster und kletterte heraus.

      „Ist sie …?“ Schneidlinger traute sich nicht, seinen Satz zu beenden. Mit verzweifelter Miene sah er den Feuerwehrmann an.

      „Unkraut vergeht nicht“, versicherte der Mann grob, überließ Schneidlinger die weitere Deutung und stapfte davon.

      „Chef?“

      Der Hauptkommissar wandte den Kopf, und sofort huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Franziska …äh, Frau Steinbacher! Bin ich froh, Sie zu sehen.“

      Schnell sprang er zwei Schritte auf den Fensterausschnitt zu, um ihr beim Heraussteigen behilflich zu sein. Haare und Kleidung klebten an ihrem Körper, und ihr Gesicht sah mitgenommen aus. Trotzdem gelang ihr ein kleines Lächeln, als Schneidlinger sie vorsichtig vom Fensterbrett hob.

      „Wir bringen sie zum Krankenwagen“, mischte sich die herbeieilende Mona von der Kriminaltechnik ein, bevor die Stimmung zu rührselig