Und dann kam das Wasser. Dagmar Isabell Schmidbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Isabell Schmidbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745015102
Скачать книгу
Punkt war, der bei Hochwasser in den Fluten versank. Zumindest sah das in diesem Moment so aus. In Wirklichkeit stieg das Wasser über die gesamte Breite von Inn und Donau an, genauso, wie es in der Legende der biblischen Sintflut geschehen war.

      Der Mann, der am Ende der Bräugasse stand und mit aufkeimender Verzweiflung versuchte, seine Zigarette zum Glühen zu bringen, dachte oft an diese und ähnliche Geschichten aus der Heiligen Schrift. Er liebte sie alle, weil sie schon seine Kindheit bevölkert hatten. Nach dem frühen Tod der Mutter konnte er sich mithilfe der christlichen Verse an ihre Stimme erinnern. Seine Mutter vermisste er sehr, auch wenn er wusste, dass sie inzwischen an einem besseren Ort war.

      „Aber es gibt doch keinen besseren Ort als diesen“, flüsterte er dem Regen zu und sah sich vorsichtig um. Man durfte ihn weder hören noch sehen, sonst …

      Er wusste nicht, was sonst geschehen würde, nur, dass ihn niemand sehen durfte. Seine Mutter hatte das immer gesagt. Und seine Mutter hatte nie gelogen. Basta. Das hatte zumindest immer seine Mutter gesagt, wenn sie keinen Widerspruch duldete.

      Als er die Zigarette endlich angezündet hatte, beschattete er die Glut mit seiner freien Hand. Niemand durfte wissen, dass er hier war. Keiner ahnte, was er alles wusste, auch wenn es ihm manchmal herausrutschte. Seine Mutter hatte dann immer gesagt: Sei nicht so vorlaut! Nie hatte sie seinen Geschichten geglaubt. Hör auf mit den Lügen! Basta! Dabei musste man sich die verrücktesten Geschichten doch gar nicht ausdenken, das tat das Leben schon von ganz allein.

      Als er sich sicher war, dass niemand ihn beobachtete, schlich er sich über die provisorischen Hochwasserstege, an der Nepomuk-Statue vorbei bis auf die Terrasse des griechischen Lokals und verbarg sich anschließend in dem kleinen höher gelegenen Gang, der hinter der ersten Häuserzeile verborgen lag. Er musste vorsichtig sein, denn seit das Wasser da war, nahmen die Bewohner diesen Weg, wenn sie die Häuser verlassen wollten.

      Die Donau stand hier schon mehr als einen Meter hoch zwischen den Häusern und machte das Passieren unmöglich. Keiner wusste, wie lange es dauern würde, bis die Pegel wieder sanken, und jeder hoffte, dass es nicht höher stieg, als die Decken der Keller reichten.

      Seit über vierzig Jahren lebte er im „Örtl“, wie die Menschen, die schon immer hier gewohnt hatten, ihre Gemeinde gern nannten. Er war auch einer von den Örtlern und wusste immer, wann das Wasser kam. Er hatte es im Gefühl. Er behielt die Flüsse, wie alles andere auch, im Auge. Angst aber hatte er nicht vor dem Wasser.

      Er nahm einen letzten Zug, und weil er schon fast am Filter war, schnippte er die Kippe gleich darauf in den dunklen Gang hinein, wo sie augenblicklich in einer Pfütze verglühte. Dann wandte er die Aufmerksamkeit den beiden Männern zu, die, in wuchtige Stiefeln und dicke Jacken gekleidet, die Fenster und davor angebrachten Abdeckungen kontrollierten. Sie kamen vom Schloss Ort und mussten auf den Stegen direkt an ihm vorbei, sahen ihn aber nicht. Er war wie immer ein unsichtbarer Schatten. Wie das Gewissen vom Örtl.

      Schließlich entdeckte einer der beiden Männer das offene Fenster, das zum alten Laden führte. Erst zögerte er noch, doch dann stieg er über den Steg hinein, schaltete seinen Strahler an und wartete, bis sein Kollege ihm gefolgt war.

      Endlich, dachte er und lauschte auf ihre Unterhaltung. Er hatte seinen Platz verlassen und kauerte jetzt vor dem Fenster.

      Der Laden stand seit einiger Zeit leer. Ein Grund dafür, warum er ihm immer wieder einen Besuch abstattete. Heute jedoch würde er nicht hineingehen, denn er hatte gehört, wie das Glas zu singen begann. Er wusste, was das hieß. Die Leute glaubten, er wäre dumm, aber da täuschten sie sich gewaltig.

      Gerade spekulierten die Männer darüber, ob es in diesem Verschlag überhaupt etwas gab, was man retten sollte, und ob nicht einfach jemand vergessen hatte, das Fenster zu schließen. Das Patschen ihrer Schuhe zeigte, dass bereits Grundwasser eingedrungen war. Noch hielt der Sandsackverbau vor der Tür den steigenden Fluten stand, aber wenn der Druck auf die alten Fensterscheiben zu groß wurde, dann konnten sie leicht brechen, und dann …

      Die Stimmen entfernten sich, drangen tiefer in das verlassene Haus ein, und er musste sich schon ein bisschen nach vorn beugen, um noch zuhören zu können. Doch auf einmal wusste er, dass sie am Ziel waren. Seine Finger kribbelten. Es war schön, wenn die Leute taten, wofür er sie vorgesehen hatte. Ohne das offene Fenster hätten sie nie nachgesehen, wären sie nie hineingegangen. Und hätten nie …

      „O mein Gott!“, drang es urplötzlich aus den Tiefen des Hauses, und dieser Schrei kam dann doch so überraschend, dass er fast vom Steg gefallen wäre.

      Unschlüssig stand Franziska im Bikini vor dem Kleiderschrank und fischte Sommerkleidchen, Shorts und Trägertops heraus, die dank des derzeitigen Passauer Schmuddelwetters und Temperaturen, die eher zum Winter passten, noch nicht zum Einsatz gekommen waren. Glücklich drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her und sah förmlich, in welchem Ausnahmezustand sich ihr Körper befand, angeheizt von zu vielen Hormonen und der Vorfreude auf den Plan, den sie schon in den nächsten Tagen in die Tat umsetzen würde.

      Irgendwann in der vergangenen Nacht, nachdem nicht nur König Marke, sondern auch Tristan und vor allem Isolde alles bekommen hatten, wonach sie verlangten, waren die beiden Laiendarsteller ins Schlafzimmer umgezogen, wo sie am Morgen gemeinsam erwacht waren. Das passierte nicht häufig, denn jeder der beiden hatte seinen Beruf und seine eigene Wohnung, und vor allem Walter liebte diese Freiheit sehr.

      Franziska dagegen hatte sich in den vergangenen Monaten oft gewünscht, Walter würde zu ihr ziehen und immer da sein, wenn sie sich nach ihm sehnte. Auch wenn sie wusste, dass so eine Beziehung Walters Sache nicht war. „Liebe braucht Freiheit!“, hatte er behauptet, als sie ihn eines Tages schüchtern in ihre Überlegungen einbezog, und ihr erklärt, dass sie als Paar nur so wachsen und gedeihen und für alle Zeit aufregend füreinander bleiben würden. Und Franziska hatte genickt. Was hätte sie auch darauf antworten sollen.

      An diesem Morgen hatte Walter ihr erzählt, dass er vor ein paar Tagen ein kurzfristiges Engagement in Palermo angenommen hatte. Eine tolle Chance für ihn, wie er mit breitem Lächeln zugegeben hatte.

      Sie war ein wenig eingeschnappt, weil er ihr nicht früher Bescheid gegeben hatte, hütete sich aber wie immer davor, ihre Besitzansprüche, die sie an ihn stellte, laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie: „Wann geht’s denn los?“

      „Heute noch“, antwortete Walter, und er klang sehr zufrieden dabei, wie Franziska mit flauem Gefühl im Bauch bemerkte. „Was um alles in der Welt zieht dich nach Sizilien?“, bohrte sie weiter und schmiegte sich an seine Brust, als könnte sie ihn damit umstimmen. Walter lachte, küsste sie auf den Scheitel wie ein kleines Mädchen und fragte sie dann, ob sie bei diesem Wetter nicht auch lieber in der sizilianischen Sonne als im Passauer Dauerregen hocken würde.

      „Du meinst, ich soll mitkommen?“

      „Warum nicht? Zumindest besuchen könntest du mich.“

      Wenn sie ehrlich zu sich war, klang es nicht unbedingt wie eine Einladung, aber Franziska war entschlossen, das zu ignorieren. Sie würde tun, was Walter ihr vorgeschlagen hatte – selbst wenn es nicht unbedingt ernst gemeint war. Urlaub nehmen, Koffer packen und ab nach Sizilien.

      Später, als sie noch immer in seinen Armen lag und ihre Finger über seinen Bauch streichelten, flüsterte sie ihm voller Sehnsucht ins Ohr: „Was meinst du? Wollen wir dann die Geschichte von Tristan und Isolde noch ein bisschen vertiefen?“

      „Du weißt schon, dass es für die beiden am Ende schlecht ausging?“

      „Wir könnten ja die Geschichte umschreiben“, entgegnete sie nachdenklich, aber Walter hatte nur den Kopf geschüttelt.

      „Ohne Gefahr wird Liebe schnell langweilig“, hatte er verkündet und sie an sich gezogen, um mit seinen Lippen ihren Mund zu verschließen.

      „Komm ein bisschen mit nach Italien“, sang sie nun den alten Schlager und trällerte so falsch, dass sie selbst darüber lachen musste. „Komm ein bisschen mit ans blaue Meer!“