Das Schweigen, das sich ausbreitet, hat etwas Unangenehmes. Es gibt zwei Kategorien von Schweigen. Mit Izzy kann ich schweigen und es fühlt sich kein bisschen komisch an, wir genießen es manchmal, nebeneinander zu sitzen und einfach nichts zu sagen. Ganz anders ist das mit meinen Eltern. Bei ihnen fühlt sich Schweigen immer schlecht an, wie eine stumme Anklage. Ma nippt verdrießlich an ihrem Earl Grey, Da betrachtet begehrlich die Cookies, traut sich aber nicht, davon zu nehmen, aus Angst, dass seine Cholesterin- und Blutzuckerwerte darunter leiden könnten, die bereits seit 20 Jahren von schwankender Qualität sind. Sein Arzt hat ihm zwar versichert, dass das kein Grund zur Besorgnis sei, aber Da glaubt nicht wirklich daran. Was ich sehr gut nachvollziehen kann.
„Es ist schön, dass ihr mich besucht“, bringe ich schließlich vor, auch wenn ich es nicht so meine. Die drückende Stimmung, die mit ihrer Ankunft hier eingezogen ist, muss ich danach irgendwie wieder loswerden. Izzy wird sicher irgendeinen Zauber kennen, mit dem man die Atmosphäre reinigt, sie glaubt an kosmische Schwingungen, Karma und ähnliches. Als wir noch zusammen in diesem Haus gewohnt haben, hat sie nach Partys immer Unmengen an Räucherstäbchen abgebrannt, um das Haus wieder zu ‚entgiften‘. Vielleicht habe ich ja noch ein paar von diesen Dingern von ihren früheren Duftorgien.
„Tatsächlich?“, fragt Ma spitz und dreht ihre Teetasse versonnen in den Händen hin und her. Sie fixiert irgendeinen Punkt im Raum, um mich nicht ansehen zu müssen. „Liz hat uns gestern besucht. Sie freut sich, wenn sie uns sieht.“
„Ach…“ Mehr fällt mir dazu nicht ein.
„Du erinnerst dich an deine Cousine Liz?“
„Natürlich erinnere ich mich, Ma. Liz war früher oft bei uns auf Besuch, weil du immer wolltest, dass wir uns anfreunden.“
„Was du nie getan hast.“ Mas Blick schwenkt zu mir, aber nur, um mich anklagend anzusehen.
„Sie ist fünf Jahre älter als ich, wir hatten nicht besonders viel gemeinsam.“
Ich erinnere mich an Liz sehr gut. Sie sieht aus wie eine Kopie meiner Ma und ich kam mir neben ihr immer ziemlich unscheinbar vor, was zu einem guten Verhältnis zwischen uns sicherlich nicht beigetragen hat.
„Ich mochte Liz immer ausgesprochen gerne“, betont Ma unnötigerweise. Das weiß ich schon. Liz war die Tochter, die sie gerne gehabt hätte. Stattdessen hat sie mich.
„Wie geht es ihr?“, frage ich, denn ich merke, wie sich die Erinnerungen daran, wie Ma lieber mit Liz als mit mir ins Einkaufszentrum ging, unliebsam ins Gedächtnis drängen und das möchte ich auf keinen Fall. „Lebt sie jetzt nicht in England?“
„Bereits seit etlichen Jahren.“ Wieder klingt Mas Stimme anklagend; als müsse ich das doch wissen. Aber ehrlich gesagt, bin ich froh, dass wir uns aus den Augen verloren haben, als ich nach der Schule zum Studium nach Edinburgh ging. „Sie ist dort mit einem Zahnarzt verheiratet.“
„Stimmt. Bert soundso“, rate ich, während ich mein Gehirn nach Infos durchforste.
„Brian“, korrigiert Da schnell, bevor meine Mutter wieder beleidigt gucken kann. „Dr. Brian Bothwell.“
Ich erinnere mich vage an die Hochzeit. Er war mir nicht sonderlich sympathisch, dieser tolle Fang, den meine Cousine laut meiner Ma gemacht hat. Einen Zahnarzt zu heiraten scheint in ihrer Welt der Gipfel des Olymp zu sein. Den ich natürlich noch nicht erklommen habe – und aller Wahrscheinlichkeit auch nie erreichen werde, selbst wenn irgendwann eine Beziehung wieder denkbar wird.
„Hm… Ja… Also, wegen Liz…“ Es ist einer der wenigen Momente, in denen meine Mutter um Worte verlegen ist. Das ist so ungewöhnlich, dass mein Körper vergisst, Angst zu haben. Der Druck auf meine Magen lässt minimal nach.
„Weißt du noch, dass Liz eine Tochter hat?“, fragt sie schließlich bemüht beiläufig.
„Ja, ich kann mich erinnern, dass sie mit ihrer Familie auf der Party zu deinem fünfzigsten Geburtstag war.“
„Ach Gott, das ist ja schon fast zehn Jahre her!“, ruft Ma aus, als könne sie nicht glauben, dass die Zeit tatsächlich auch vor ihr nicht Halt macht. „Was mich dazu bringt, dass du noch nicht zugesagt hast, ob du im August zu meinem Geburtstag kommst. Naja, vermutlich hast du gedacht, dass du als meine Tochter nicht explizit auf die Einladung antworten musst. Natürlich kommst du! Aber ich schweife irgendwie vom Thema ab… Wo waren wir? Ach ja, mein fünfzigster Geburtstag… Nun, damals war Charlotte noch ein süßes, kleines Mädchen.“
Mich interessiert Charlotte nicht weiter, meine Gedanken beginnen schon um Mas Party zum Sechzigsten zu kreisen, die in wenigen Wochen stattfinden wird. Ich habe nicht zugesagt, weil ich immer noch überlege, wie ich mich davor drücken kann. Mein Mund wird trocken, wenn ich nur an die Reise dorthin denke, deswegen wende ich meine Aufmerksamkeit lieber Sherlock zu. Ich klopfe mit der Hand auf den freien Platz neben mir auf der Couch, damit er zu mir kommt und ich ihn besser streicheln kann. Es hat etwas ungeheuer Beruhigendes an sich, einen Hund an seiner Seite zu haben und vielleicht sollte ich mir einen zulegen. Aber den Gedanken verwerfe ich schnell wieder. Ein Hund braucht seine regelmäßigen Spaziergänge, was ich aufgrund der Angst nicht gewährleisten kann.
Suchen Sie sich eine Aktivität außer Haus, höre ich Dr. Walker sagen. Er fände die Sache mit dem Hund bestimmt total super. Trotzdem tut mir das Tier einfach zu sehr leid, denn ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das mit den Spaziergängen hinbekomme. Aber für jetzt ist es irgendwie schön, als sich der warme Körper an mich drängt und ich die seidigen Ohren streicheln kann.
„Lauren? Kannst du dich jetzt mal auf mich konzentrieren? Nur dieses eine Mal?“
Dieses eine Mal? Mit viel Mühe kann ich ein ironisches Schnauben unterdrücken. Vor allem, da mein Vater mich so eindringlich ansieht.
„Lauren, das ist jetzt wirklich wichtig“, sagt er dann auch. „Deine Cousine ist in echten Schwierigkeiten und deine Mutter meint…“
„Du musst zugeben, dass die Lösung naheliegend ist, Allan“, sagt Ma im Brustton der Überzeugung.
Und ich verstehe jetzt wirklich nur noch Bahnhof.
„Von was redet ihr eigentlich?“ Mein Zeigefinger kreist nervös um Sherlocks riesige Schlappohren.
„Liz‘ Tochter, Charlotte, hat ein paar Probleme in der Schule. Nun ja, um ehrlich zu sein, bekam sie einen Schulverweis und muss nun wechseln. Liz und ihr Mann sind völlig überfordert mit der Situation. Deswegen hat deine Cousine mit mir gesprochen und mich um Rat gefragt und ich dachte, wenn jemand ihr helfen kann, dann bist das du.“
„Ähm…“ Etwas verlegen knabbere ich an meiner Unterlippe, dann zucke ich die Achseln. „Natürlich versuche ich Liz so gut es geht zu helfen. Sie kann mich gerne anrufen.“
Da räuspert sich umständlich, was mir vermutlich eine Warnung sein soll. Allerdings ahne ich nicht im Entferntesten, was da auf mich zukommt.
„Ich dachte eigentlich, dass deine Hilfe über ein Telefonat hinausgeht.“ Jetzt tut Ma wieder so seltsam verlegen, räuspert sich ebenfalls und verstummt dann.
„Herrgott, dann sag doch einfach, was ich tun soll“, entfährt es mir ungehalten. Ich werde ganz sicher nicht nach England fahren, um meiner ach-so-tollen Cousine vor Ort Erziehungstipps bezüglich pubertierender Teenager zu geben. Wenn ich es nicht mal zu Izzy nach North Berwick schaffe – und da möchte ich wirklich gerne hinfahren -, dann ist alles hinter Schottlands Grenze so gut wie unerreichbar.
„Ich denke, es ist das Beste, wenn Charlotte ihr Umfeld wechselt. Manchmal bewirkt das ja Wunder, so wie bei Die strengsten Eltern der Welt.“
Meine Mutter lächelt triumphierend, so als wäre das Leben tatsächlich eine dieser Reality-TV-Shows, die sie so gerne sieht. Was sie sagt, sickert nur langsam in mein Gehirn, das plötzlich wie gelähmt ist. Dafür verstärkt sich parallel dazu der Druck auf meinen Magen und mein Herz beginnt zu rasen.