Von seiner Mutter, Madame Poiret, hatte er nicht Abschied genommen.
›Es wird nie mehr ganz gut mit mir werden‹, glaubte Tilly. ›Der mörderische Doktor und seine Geliebte haben mich mit ihren unsauberen Instrumenten verdorben. Ich bin ganz kaputt. Richtig verpatzt haben sie mich – das kommt nie mehr in Ordnung. Es tut scheußlich weh …‹
Die Schmerzen im Unterleib wurden beim Gehen am schlimmsten; aber auch beim Sitzen an der Schreibmaschine waren sie oft von solcher Heftigkeit, daß Tilly aufstöhnen mußte. Herr Ottinger, obwohl etwas schwerhörig, vernahm leise Laute, die ihm beunruhigend schienen. »Was ist Ihnen, liebes Kind?« fragte er, das sanfte, bärtige Gesicht zärtlich zum Manuskript der »Lebensbeichte eines Eidgenossen« geneigt. Tilly konnte sich zusammennehmen. »Gar nichts«, konnte sie sagen. »Wirklich – ich habe nur ein bißchen Kopfweh, Herr Ottinger.« – »So, so«, machte er, und seine freundlichen alten Augen schauten schon wieder an ihr vorbei, durch sie hindurch, in eine Vergangenheit, die zugleich heiterer und würdevoller schien als eine Gegenwart, die Fröhlichkeit und elegante Form verloren hat.
Tilly wußte ungefähr, was ihr fehlte: in medizinischen Nachschlagewerken hatte sie’s festgestellt. Was nützten ihr die lateinischen Worte und die einprägsamen, etwas unappetitlichen Bilder? – ›Ich bin verpatzt worden‹, war alles, was sie begriff. ›Man hat mich kaputt gemacht. Ich werde nicht mehr gesund.‹ – Dann begriff sie auch noch: ›Im Grunde will ich gar nicht gesund werden.‹
Die Schmerzen im Unterleib waren wohl nur Symptom und Ausdruck eines größeren, tieferen Leidens. Seitdem das Kind, welches Tilly nicht hatte bekommen wollen, entfernt war, fühlte sie sich noch viel betrübter als vorher, da sie’s »unterm Herzen« trug. Sie fühlte sich so betrübt, daß sie beschloß: ›Jetzt hat es aber wirklich keinen Sinn mehr! Ich muß sterben. – Den Ernst sehe ich niemals wieder, auch den Konni nicht. Beide sind vielleicht schon totgeschlagen worden. Ziemlich viel hatte ich mir von der Bekanntschaft mit H.S. versprochen – diesem unbekannten, mir doch so vertrauten H.S. Aus irgendwelchen Gründen scheint das Schicksal nicht zu wünschen, daß wir uns begegnen … Ich sterbe, etwas anderes bleibt gar nicht übrig. Ich habe nichts mehr, was mich halten könnte – nicht einmal ein kleines Kind; denn das durfte ich nicht bekommen. Ich weiß aber, wie ich mir Veronal verschaffen kann. Ich verschaffe mir Veronal … Der Mutter sage ich, daß ich auf zwei Tage nach Basel muß zu Bekannten. Ich gehe in das Hotel, wo ich damals mit dem Ernst gewesen bin. In das Hotel, wo die Polizei uns überrascht hat – dorthin gehe ich …‹
Tilly bestand darauf, daß sie das gleiche Zimmer bekomme wie damals. Die Wirtin wunderte sich: Aber es hat doch zwei Betten und ist um einen Franken fünfzig teurer als die kleinen einbettigen! – Tilly blieb dabei: Ich will Numero 7.
Mit Rührung erkannte sie das klapprige Waschgestell wieder und die Flecken an der Wand, von denen Ernst so sachverständig gesagt hatte: Hier hat man Wanzen zerdrückt.
Damals hatte sie nichts bei sich gehabt, keinen Pyjama und keine Zahnbürste. Heute trug sie ein kokettes, übrigens recht billiges Handtäschchen aus rotem Lackleder, in dem alles Notwendige untergebracht war. Durch das sorgfältige Packen hatte sie die Mutter irreführen wollen. Es war ihr aber auch daran gelegen, gerade an diesem Abend und in diesem Zimmer soigniert und adrett zu sein.
Sie verteilte die Flacons, Tuben, Bürsten und Metallgegenstände in hübschem Arrangement auf dem Nachttisch. Neben die Toilettensachen legte sie die beiden Röhrchen mit Veronal, als ob sie nur einen harmlosen Bestandteil der damenhaften kleinen Ausrüstung bedeuteten.
Sie zog den schwarzseidenen Hausanzug mit den langen, weiten Hosen an; während sie das Jäckchen zuknöpfte, fiel ihr ein, daß dies kleidsame Stück ein Geschenk von Peter war. ›Guter Peter!‹ dachte sie träumerisch, und sie begann, sich für die Nacht zurechtzumachen. Statt sich aber das Gesicht, nachdem sie es vom Puder sorgfältig gesäubert hatte, mit fetter Crème einzureiben, wie sie es gewöhnt war, puderte sie sich frisch und schminkte sich Lippen und Augenbrauen. Sie legte sogar ein wenig Rouge auf die obere Wangenpartie, was sie nur vor großen, festlichen Ausgängen zu tun pflegte.
Sie betrachtete sich lange im Spiegel. Ganz sachlich, ohne Stolz und ohne Betrübtheit, stellte sie fest, daß sie außerordentlich hübsch aussah. Die dunklen Schatten um die langen, schräggestellten Augen gaben dem sinnlich-schwermütigen Blick einen noch stärkeren Ausdruck. Die sehr weiße und ebenmäßig gebildete Stirne schimmerte, vom glatten Scheitel des rötlichen Haars ernst und artig gerahmt. Das dunkle Lippenrot, zu dem die Coiffeuse ihr neulich so dringlich-schwatzhaft geraten hatte, machte ihren weichen, »schlampigen« Mund erst recht verführerisch. ›Ich hätte diese Farbe schon früher benützen sollen‹, dachte sie, und dann mußte sie über sich selber lächeln.
Lächelnd ging sie die paar Schritte vom Spiegel zum Tisch, auf den sie Briefpapier gelegt hatte. Beim Gehen spürte sie wieder Schmerzen. Während sie sich am Tisch niederließ, stöhnte sie. Sie saß ein paar Minuten lang gekrümmt; die Knie hochgezogen, das Gesicht in die Hände gepreßt. ›Wenn nur nicht auch noch ein Asthmaanfall zu allem übrigen kommt!‹ dachte sie. ›O mein Gott – nur kein Asthma! Das wäre das Schlimmste, es würde alles verderben …! Ich glaube aber, das Asthma bleibt mir erspart. Ich atme leichter und freier als seit langem.‹ Dies stellte sie mit Dankbarkeit und nicht ganz ohne Verwunderung bei sich fest. Dann begann sie zu schreiben.
Sie hatte vergessen, ihren kleinen Füllfederhalter mitzunehmen. Der Federhalter, den die Wirtin ihr gebracht hatte, war dünn, mit Tintenflecken bedeckt und sehr abgegriffen. Er sah abgenagt aus – fand Tilly, die sich ziemlich vor ihm ekelte – als hätten viele Kinder ihn benutzt oder Erwachsene, denen das Schreiben schwerfällt. Alle hatten ihn zum Munde geführt und sorgenvoll an dem langen, dünnen Holz gekaut. Die Stahlfeder war alt und verrostet. Es gab ein häßlich kratzendes Geräusch, wenn man sie übers Papier führte.
Zuerst schrieb Tilly ein paar Zeilen für die Wirtin. »Falls Sie mich tot vorfinden, benachrichtigen Sie bitte den Herrn Peter Hürlimann.« Sie gab seine Adresse und Telefonnummer an. ›Hürlimann soll es der Mutter sagen!‹ – das hatte sie schon vor langem beschlossen. ›Es ist die letzte kleine Gefälligkeit, die der gute Junge mir tut.‹ – Den Brief an die Wirtin schloß sie: »Entschuldigen Sie, liebe Frau Bärli« – zu ihrer Überraschung fiel ihr plötzlich dieser Name ein – »daß ich Ihnen soviel Umstände mache, und daß ich mir gerade Ihr Gasthaus ausgesucht habe für die Sache, die ich tun muß. Hoffentlich haben Sie nicht zuviel Scherereien.« Das Wort »Gasthaus« strich sie aus und schrieb »Hotel« darüber. ›Das ist höflicher‹, dachte sie.
Dann schrieb sie an den Peter Hürlimann und bedankte sich für alles bei ihm, was er für sie getan hatte; ganz besonders auch für die letzte kleine Gefälligkeit, die es nun noch zu erledigen galt: den schlimmen Gang zur Mama. »Aber sie wird es mit Fassung aufnehmen«, schrieb Tilly. »Sie bewahrt ihre Haltung in allen Situationen. – Und Du darfst auch nicht zu traurig sein, lieber alter Peter! Wenn Du mich gerne hast, solltest Du mir die Ruhe gönnen. Ich bin furchtbar müde, und alles tut mir so weh. Verlange keine Erklärungen von mir, lieber alter Peter! Du mußt mir schon glauben und mußt spüren, daß ich recht habe, und daß es so am besten für mich ist. Denke nicht zuviel an mich, aber doch manchmal. Manchmal sollst Du schon an mich denken. Deine alte Freundin Tilly.«
Wie ein fleißiges Schulmädchen saß sie an dem kleinen wackeligen Tisch und ließ die kratzende Feder emsig übers Papier wandern. Ihre Zungenspitze spielte im Mundwinkel; die geschminkten Brauen waren hochgezogen, die Stirne hatte sie in ernsthafte Falten gelegt. Das lange Sitzen strengte sie an. Die Schmerzen im Unterleib wurden stärker. Wahrscheinlich hatte sie jetzt auch Fieber. Sie stöhnte. Stöhnend schrieb sie ihre letzten Grüße.
Als sie ihre letzten Grüße, ihren Dank und ihre Bitte um Verzeihung an die alten Ottingers schrieb, mußte sie weinen. Es war zum ersten Mal, daß ihr die Tränen kamen, seit sie jenen definitiven Entschluß gefaßt hatte, der das Herz einerseits leicht machte, andererseits erstarren ließ. »Sie sind sehr, sehr gut zu mir gewesen.« Die rostige Feder wurde immer widerspenstiger; Tilly mußte jeden Buchstaben einzeln malen. »Ich bin Ihnen dankbar, von ganzem Herzen. Hoffentlich finden Sie gleich ein anderes Mädchen, das viel schneller