Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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war.

      »Setzen Sie sich hin, kleines Fräulein!« riet die Schwester, deren pfiffig-munteres Gesicht runde Apfelbäckchen von seltsam gesprenkeltem, stellenweise ins Violette spielendem Rot zeigte. »Machen Sie sich frei – nur das Hemd lassen Sie vorläufig an. Der Herr Doktor wird wohl bald hier sein. Heute, am Samstag, haben wir gerade flotten Betrieb. Die Damen, die am Montag wieder ins Geschäft müssen, lassen sich Samstag morgen behandeln und erholen sich übers Weekend.« Sie lachte, eigentlich ohne Grund. Es war, als spräche sie von einer neuen, amüsanten Form, das Wochenende zu verbringen. Wenn sie kicherte, leuchteten ihre Apfelbäckchen ebensosehr wie die kleinen Augen. Ihr Deutsch hatte einen stark wienerischen Akzent.

      Aus der anderen Zimmerecke, die durch grünen Vorhang verborgen war, kam ein Stöhnen – woraufhin die Pflegerin, zugleich entsetzt und belustigt, die Hände überm Kopf zusammenschlug. »Jesses, Maria und Joseph, das Fräulein Liselott wacht schon auf! Die ist gerade erst verarztet worden. Ich sag’s Ihnen ja: heute haben wir Großbetrieb!« Sie schien in famoser Stimmung. Während Fräulein Liselott aus ihrer Nische Jammertöne hören ließ, plauschte sie weiter. »Die ist nämlich ein Stammgast bei uns, jedes halbe Jahr erscheint sie mindestens einmal. Ein hübsches Ding, kann man nicht anders sagen … Na, ich muß doch mal nach ihr sehen …« Ehe sie entschwand, fragte sie noch über die Schulter – wobei sie den grünen Vorhang, in dessen Öffnung sie stand, gefällig um sich drapierte: »Der Herr Bräutigam wird Sie wohl abholen? Er muß im Vorzimmer warten, dort haben wir sehr bequeme Stühle, auch Zeitschriften, er soll sich nicht bei uns langweilen.« – »Es wird mich niemand abholen«, sagte Tilly. – Darauf die Nurse, plötzlich etwas mißtrauisch: »Was für einen Beruf haben Sie eigentlich?« Tilly log müde: »Ich bin Klavierspielerin.« Es fiel ihr nichts anderes ein. Als junges Mädchen hatte sie nett Klavier gespielt. Die Schwester zeigte sich befriedigt und gleich wieder animiert. »Aha, Künstlerin, das habe ich mir doch gedacht, ja, ja, die Damen von der Musik sind oft a bisserl leichtsinnig. – Aber so ein kleines Malheur kann einer jeden passieren«, fügte sie tröstlich hinzu.

      Das Stöhnen aus der anderen Kabine ward stärker. Tilly empfand Grauen; sie begann zu zittern, kämpfte gegen die Tränen. »Wird der Arzt nun bald kommen?« fragte sie mühsam. Da hörte sie aus dem Nebenzimmer eine tiefe, rauh belegte Stimme rufen: »Legen Sie die Äthermaske auf, Schwester! Ich bin fertig.« Die Nurse zuckte zusammen; bekam fahrige Gesten; holte die Maske herbei. »Jetzt halten S’ nur still, kleines Fräulein! Schenkel auseinander. Zählen S’ langsam bis fünfzig! Tief atmen! Langsam atmen! Nur brav stillhalten, der Herr Doktor kommt schon, es ist gleich vorbei … Eins – zwei – drei – fünf – neun – fünfzehn … Nur brav zählen, bittschön! Und stillhalten! Wird ja gleich vorüber sein … Haben ja schon Zartere überstanden als Sie, kleines Fräulein …«

      Tilly atmete gierig den Äther. Nur das Bewußtsein verlieren, nur einschlafen, nichts mehr hören … nur die Stimme dieser Frau nicht mehr hören … Die erste Reaktion war Brechreiz. Dann spürte sie Todesangst, wollte hochfahren, die Schwester drückte sie nieder … »Nur stillhalten, kleines Fräulein … Nur keine Geschichten machen … Haben andere ja auch schon überstanden …« – ›Das Fräulein Liselott zum Beispiel‹, dachte Tilly, schon halb betäubt. ›Der Stammgast … die fesche Person, kann man nicht anders sagen … Warum zeigt sich der Doktor eigentlich nicht? Er will wohl nicht, daß ich sein Gesicht sehe; könnte ihn auf der Straße wiedererkennen; könnte mir’s ja einfallen lassen, ihm zuzugrinsen, ihn zu grüßen …‹

      Da spürte sie schon seine Hände an ihrem Leib. Sie erschauerte unter der kalten Berührung der Instrumente. ›Das kitzelt!‹ war sie noch fähig zu denken. ›Huh – das kitzelt aber infam! Gleich werde ich entsetzlich lachen müssen … Aber nun tut es weh!‹ – »Noch nicht anfangen!« schrie sie und erschrak selber über den dumpfen Klang ihrer Stimme, die von sehr weit her zu kommen schien. »Noch nicht anfangen, bitte!! Ich bin ja noch wach!« – »Wollen Sie wohl den Mund halten!« herrschte die rauhe Stimme sie an.

      Sie zwang sich zu schweigen. Gleichzeitig machte sie sich klar, daß sie zu sprechen gar nicht mehr imstande wäre. Dies war die Besinnungslosigkeit; der Abgrund – sie stürzte hinein. Indessen erwies sich das Dunkel, von dem sie empfangen ward, leider als bevölkert; mehrere verdächtige Gestalten traten daraus hervor und verursachten Schrecken. Stimmen vermischten sich miteinander; eine von ihnen war besonders verhaßt: sie gehörte der Rechtsanwältin Albertine Schröder, die im Bett telefonierte. »Ist hier der junge Herr Rabbiner Nathansbock? Hier ist die olle Schröder, von den SA-Leuten erst vergewaltigt, dann vermöbelt worden. Hören Sie, Nathansbock: ich habe eine süße kleine Frau für Sie, prima Ware, möchte geheiratet sein, bietet zehntausend Franken, machen wir das Geschäft?« Welcher Schrecken, da die Rechtsgelehrte nun das dicke, graue Plumeau von sich schleuderte, mit gewaltigem Satz aus dem Bett sprang und eine riesige Schere ergriff, die auf dem Nachttisch neben ihr gelegen hatte. Mörderisch stumm, drang sie mit der blitzenden Schärfe auf Tilly ein. »Da hast du deinen süßen Rabbiner! Deinen wonnigen kleinen Gatten! Du Hure! Da hast du, verfluchte Hure du!« Das eisige Metall fuhr knirschend in ihre Eingeweide. Der Schmerz war ungeheuer, Tilly fuhr in die Höhe.

      Sie sah den Arzt, der sich bis jetzt so schlau vor ihr versteckt gehalten. Er stand über sie geneigt, so tief, daß ihm das Blut zu Kopfe stieg. Auf seiner geröteten Stirn trat eine dicke Ader bedrohlich stark hervor. Sein Gesicht, mit hoher Stirn, langer, gerader Nase und kleinem Schnurrbart, schien männlich edel geschnitten, aber verwüstet: das Gesicht eines Trinkers mit schwimmenden Augen und gedunsenen Lippen. Er war zornig, er raste, stampfte auf, brüllte die Schwester an: »Sie wacht ja auf! Schweinerei! Scheiße! Wo hast du denn die Äthermaske, dumme Gans? Sie blutet ja! Ich sage es immer, mit dir kann man nicht arbeiten! Verflucht noch mal! Gib die Maske!!«

      Tilly, in einem Starrkrampf aus Entsetzen und Schmerz, konnte nur denken: ›Er nennt sie Du. Sie ist seine Geliebte.‹ – Sie sah das Gesicht der Schwester, das höchst sonderbar verändert war. Ihr scheinheiliges Häubchen hatte sie abgelegt und zeigte nun eine etwas zerzauste blonde Dauerwellenfrisur – ›unsere gemeinsame Freundin, die Coiffeuse, wird sie wohl hergestellt haben‹, beschloß Tilly unter Qualen. Auf der kleinen, runden Stirne der Nurse standen dicke Schweißperlen. Ihr purpurrotes, schamloses, nacktes, nasses Gesicht glich einer aufgeplatzten Tomate. Sie keifte: »Kann ich dafür, daß du am hellen Morgen schon besoffen bist? Es ist ja nicht mehr anzusehen, wie du’s treibst – ich gehe auf und davon – du wirst dich noch nach mir sehnen – auf den Knien rutschen wirst du noch vor mir! Da ist die Maske. Das dumme Ding schläft schon wieder ein, rege dich nur nicht auf.«

      Tilly, wieder mit dem Äther vorm Gesicht, begriff: Dieses war die infernalische Szene, der man sich unvermutet gegenübersieht, wenn man die Tür zu einem Zimmer öffnet und findet ein Mörderpaar bei der Arbeit. Sie haben blutige Hände, sind erhitzt von der makabren Hantierung, rufen sich im Kauderwelsch der Kriminellen Flüche zu, haben aber das meiste doch wohl schon geleistet, das Opfer ist fast zerlegt, sie schneiden ihm die Finger mit den Ringen ab – ach, ich bin das Opfer, mein Kind ist es, das sie stehlen … Ernst, Ernst, wo bist du, die Polizei hat dich abgeführt, ich bin allein mit dem verworfenen Paar …

      Das Schreckensbild verging in Qual und Nacht. Wie ein Labsal kam der Äther, den man erst so gefürchtet hatte. ›Weh mir, ich falle … Mit mir stürzt das Kind … Niemand da, um uns aufzufangen. Wie tief ist die Tiefe – bodenlos … Niemand hält mich, ich sinke, weh mir, ich sinke hin …‹

      Mallorca – höchst liebliches Eiland, mild beglänzt und beschienen von einer gnädigen Sonne; reich gesegnet mit Palmen, Zypressen und allerlei Blütengebüsch; mit Strandpromenaden, Klöstern, Hotels, dekorativ gruppierten Felsen, Grotten, Wasserläufen, Terrassen; mit schönen Frauen, feurig imposanten Männern, liebenswerten Knaben; mit Kathedralen, Stierkampftheatern, Bordells, Cinémas, Flughäfen, Landungsbrücken, Museen; mit Bergen und Gärten, stillen Winkeln und belebten Plätzen; Mallorca, reizendste Gegend, seit eh und je bevorzugt von den Feinsten, auf deiner Erde lustwandelte Madame George Sand in schmuckem Herrenkostüm; vor dem farbenreichen Panorama, das du bietest, träumte am Pianoforte der lungenkranke Pole Chopin; Mallorca – friedlichste Insel, sorgenloses kleines Paradies, weit entfernt von Lärm und Gefahren der Welt; angenehm isoliert, doch nicht abgelegen; idealer Aufenthalt für die Empfindlichen