Sie ließ langsam die zwanzig Tabletten, eine nach der anderen, in die dampfende, goldbraune Flüssigkeit fallen. Dann zerstieß sie das Veronal mit dem Teelöffel. Die Flüssigkeit in der Tasse färbte sich weißlich; sie sah nun aus wie ein seltsam flockiges Süppchen.
Während Tilly die Tasse zum Munde führte, bewegte sie die dunkel geschminkten Lippen. »Müde bin ich – geh zur Ruh – schließe beide Augen …«
Ihre Lippen berührten den ziemlich dicken Rand der weißen Tasse. Das Süppchen hatte einen scharfen, bitteren Geschmack. Nicht aufgelöste Teile der Tabletten schwammen im lauwarmen Naß. Tilly schüttete den Trank schnell hinunter. Auf dem Grund der Tasse hatte sich eine breiige Substanz festgesetzt. Obwohl Tilly Brechreiz spürte, kratzte sie auch diesen Veronalrest noch mit dem Teelöffel zusammen und verschluckte ihn.
Nun war es getan.
»Vater, laß die Augen dein – gnädig, gnädig über meinem armen Lager sein …«
Am nächsten Tage gab es in dem Gasthaus, wo Tilly ihr Kind empfangen und den Todestee getrunken hatte, großen Betrieb. Ein Kegelklub beging sein zwanzigjähriges Jubiläum, der Bierkonsum war bedeutend, Frau Bärli hatte alle Hände voll zu tun, sie vergaß die Schläferin in Zimmer 7, die übrigens darum gebeten hatte, nicht geweckt zu werden. Erst am späten Abend fiel ihr ein, daß dieser Gast nicht mehr zum Vorschein gekommen war. Sie fand die Tür verschlossen; klopfte; rief, klopfte stärker; ließ endlich durch den Hausknecht aufmachen. Tilly gab kein Lebenszeichen mehr. Auf dem Schreibtisch lagen, säuberlich aufeinandergeschichtet, die Briefe. Frau Bärli weinte – mehr aus Schreck und Nervosität, als weil es ihr besonders nah gegangen wäre.
Als Peter Hürlimann erschien, war der Arzt schon da gewesen. Auch die Polizei hatte schon alles besichtigt; Peter kam spät, er war in einem Konzert gewesen, nachher in einem Café. Er war weiß im Gesicht, seine Lippen bebten, er sagte immer wieder: »Aber das kann doch nicht sein!« – »Doch«, sagte Frau Bärli, »der Arzt hat ihren Tod festgestellt. Erst vor ein paar Stunden ist sie gestorben – meint der Arzt – aber vorher muß sie schon lang bewußtlos gewesen sein. Hoffentlich hat sie nicht viel zu leiden gehabt, ich glaube es eigentlich nicht, sie sieht ja so schön und friedlich aus, wie ein Engelchen, finden Sie nicht, Herr Hürlimann, ganz wie ein Engelchen, das muß ein leichter, sanfter Tod gewesen sein, vielleicht hätte man die Ärmste doch noch retten können, wenn nur heute nicht gerade diese Wirtschaft mit dem Kegelklub gewesen wäre.«
Fassungslos stand Peter vor ihrem wächsernen Liebreiz. Wie süß und grausig sie sich schon verwandelt hatte! Wie makellos und völlig fremd sie war! »Sie ist ja ganz klein geworden«, brachte er hervor. Und immer wieder, als wäre dieses das Schlimmste und alles käme drauf an: »Ganz klein ist sie ja geworden …« Dann stampfte er auf – aus einem dumpfen, machtlosen Zorn, einem sinnlosen Aufbegehren oder nur, um des Weinens Herr zu werden. Hierüber erschrak Frau Bärli. »Das arme junge Blut …« sagte sie und beobachtete ängstlich den gedrungenen Burschen mit dem struppigen Haar. Sein gutmütiges, breites Gesicht verzerrte sich. Endlich liefen ihm die Tränen über die runden Backen.
Peter mußte zu Frau von Kammer, mit Tillys Brief. Sie erschien selber an der Wohnungstür, in einem schwarzen Négligé, das zu ihrer starren, würdevollen Miene dramatisch witwenhaft wirkte. »Herr Hürlimann?« Sie war die Dame von Welt: kühl und formvollendet. »Meine Tochter ist noch in Basel.« – »Ach nein«, sagte Peter. »Ach nein. Nicht in Basel.« Da stand er – nicht beschwingt, ach, nicht der Bote mit den Flügelschuhen, ein plumper Herold der Trauer, die braven Augen verweint, und die Zunge, die das Schreckliche sprechen sollte, schien ihm im Munde zu schwellen. In der Faust aber, die er mühsam hob, hielt er Tillys Brief. Da begriff Frau von Kammer, wußte alles; schrie auf, taumelte und langte nach dem Papier wie nach einem Halt. »Was ist geschehen?« brachte sie hervor; aber dies war wieder nur floskelhaft nach ihrer konventionellen Art. Sie empfand, bei allem Jammer: eine solche Frage war nun am Platze. Ach, sie wußte ja, was geschehen war.
Den Brief in der Hand, stand sie dem Unglücksboten gegenüber – nun wieder starr, den Mund geöffnet zu einem Jammerlaut, der stumm blieb. Der klagend aufgerissene Mund – schwarze Öffnung in der weißen Starrheit der entstellten Miene – gab dem Antlitz der Mutter das Aussehen einer tragischen Maske. Peter erinnerte sich, daß Tilly, wenn sie sehr traurig und sehr betroffen war, auf ganz ähnliche Art den Mund geöffnet hatte. Vom Schmerze geschlagen wie von einer Faust, glich Frau von Kammer zum ersten Mal ihrer Tochter.
»Kommen Sie!« bat sie heiser – denn sie und der Unglücksbote standen immer noch vor der offenen Türe der Wohnung. Und sie zerrte den jungen Mann, der Tilly geliebt hatte, mit einer Gebärde, die durch ihre Heftigkeit fast unzüchtig wirkte, in den dämmrigen Flur.
Tilly ist tot, niemand kann ihr mehr helfen, niemand hat ihr helfen können, als sie noch umherging oder an der Schreibmaschine saß und Schmerzen litt und sich Sorgen machte, wegen der Polizei, wegen des verschollenen Geliebten, wegen des Kindes, das sie nicht bekommen wollte. Tilly ist wächsern verklärt, schaurig verzaubert, und übrigens unheimlich klein geworden – eine kleine Leiche, wie eine Kinderleiche sieht sie aus. Unnahbar und hold, den Lebenden ganz entfremdet, schläft ihr kindliches, streng gewordenes Antlitz zwischen den weißen Rosen. Die Augen, die soviel Tränen vergießen mußten, geruhen nicht mehr hinzuschauen, da nun die anderen weinen. Denn jetzt wird reichlich geweint.
Schluchzend sitzen die alten Ottingers in ihrer stattlichen guten Stube; sie haben das kleine Fräulein von Kammer gern gehabt wie ein Töchterchen. Herrn Ottingers Werk, die »Lebensbeichte eines Eidgenossen«, ist fast abgeschlossen – »und das letzte Kapitel kann ich ihr nicht mehr diktieren!« jammert der alte Herr. – Peter Hürlimann weint, vor Kummer, aber auch aus Reue. ›Ich hätte sie heiraten sollen! Warum habe ich es nicht getan?! Aus lauter dummer Vorsicht und Ängstlichkeit! Weil ich erst mein festes Einkommen haben wollte! Ach, ich Narr! Sie wäre zu retten gewesen. Ich hätte eine gute Schweizerin aus ihr gemacht; sie hatte das Zeug, eine brave Bürgerin unseres Landes zu werden.‹ – Peter Hürlimann ist kein maßloser Patriot oder hat sich doch Gefühle solcher Art niemals eingestanden. Nun aber, da Tilly tot ist, empfindet er: ›Ich hätte eine gute Schweizerin aus ihr machen können.‹ Denn er liebt sein Land, er ist stolz auf die Heimat. Es ist ein freies, gutes, redliches Land, Tilly hätte hier glücklich sein können, sie hat ja kein eigenes Land mehr gehabt – ach, es muß weh tun, ohne Heimat zu leben, auf die Dauer hält es wohl niemand aus. – So denkt Peter, schmerzlich bewegten Herzens, und er schwört sich: ›Ich würde mein Land tapfer verteidigen, wenn es zum Äußersten kommt. Solange aber Friede ist, will ich schöne Musik machen, zu Ehren der Schweiz; gediegene und doch kühne Musik, die der kleinen Schweiz große Ehre machen soll in der Welt. Und auch zur Erinnerung an Tilly soll sie klingen, die schöne Musik, die ich machen will. Das wird niemand wissen; aber ich weiß es: daß alles, was ich von jetzt ab mache, im Gedanken an sie geschrieben ist, und zu ihrem Gedenken.‹
Wenn jemand genug hat und Abschied nimmt, weinen die, so zurückbleiben. Warum weinen sie denn? Wird dieser Mensch, der weggegangen ist, ihnen wirklich so fehlen? – Sie werden ihn bald vergessen: dies ahnen sie wohl, und deshalb vergießen sie Tränen. Auch sind sie traurig, weil sie noch ein wenig weiterleben müssen. Wenn von uns einer erlöst und frei geworden ist, wird es den Zurückbleibenden, den Noch-zum-Leben-Verdammten ein paar Minuten lang schreckhaft klar, was unser Dasein auf diesem Stern bedeutet. Es ist Fluch und Jammer von Anbeginn. Aus Blut und Tränen sind die Spuren, die wir hinter uns lassen; von Blut und Tränen ist das Gesicht des Menschen besudelt: das jammervolle Antlitz der Sterblichen ist an Augen und Lippen, auf Stirne und Wangen mit Blut und Tränen beschmiert. Denn wir werden in Schmerzen geboren, und wir gehen hin unter Qualen. Dazwischen aber ist große Traurigkeit und ein langes Entbehren. Auf unseren Mienen stehen die Zeichen des Fluches. Mit Blut und Tränen suchen wir sie abzuwaschen; aber das Zeichen bleibt. – Wir meinen, fliehen zu können, indem wir sterben. Vielleicht ist auch dies noch ein Irrtum, und wir sind fester gebunden, als unsere Unwissenheit es annehmen möchte. Sind uns neue Zustände der Verdammnis vorbehalten, wenn wir uns von diesem frei gemacht haben? Findet unsere Gier nach dem Nichts sich enttäuscht, noch im Tode? Erwarten uns andere Formen der Existenz? Setzt der Fluch sich fort? Geht es weiter? – Wir wissen