Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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werden. Sie gingen auf der großen Landstraße, die nach St. Moritz führt, rechts neben ihnen der verdunkelte See, links die Bergwand. Der starke Wind, den sie im Rücken hatten, kam von Maloja her. Über ihnen, der Himmel, war reingefegt. Nachmittags hatte es Wolken gegeben; aber nun stand jeder Stern in genauer Klarheit.

      Marion war froh, weil Marcel schweigen konnte. Von ihm genommen schien der unselige Zwang, Worte ohne Ende hervorbringen zu müssen. War er von einer Krankheit genesen? Er hatte den gleichmäßig ruhigen, kraftvollen Gang des Gesunden. Er schritt wacker aus – wie ein Soldat, fand Marion, die sein Gesicht von der Seite prüfte. Hatte nicht auch dieses Antlitz jetzt soldatische Züge? Im blassen Licht der feierlichen Nacht sah es härter und entschlossener aus, strenger und dabei zuversichtlicher, als sie es jemals gekannt hatte. Der Blick ging siegesgewiß geradeaus. So schreitet und so blickt einer, der sich über das Ziel des Weges länger nicht im Ungewissen ist. Der Mund war trotzig etwas vorgeschoben. Die stolze Kurve der Brauen beherrschte eine Stirn, die trotz ihrer Niedrigkeit kühn schien – bereit, sich allen Stürmen auszusetzen; nicht nur dem frischen Wind, der von Maloja kam und den sie jetzt noch in den Rücken hatten.

      Sie hatten heute in Sils Maria das bescheidene Haus besucht, an dem die Tafel mit der Inschrift hing: »Hier sann und schaffte Friedrich Nietzsche …« Über diesen Text hatten sie etwas lachen müssen; aber sie waren ernst geworden in der engen Stube. Aus dem Fenster gab es keinen Blick in diese unsagbare Landschaft; man hatte vor sich nur die steil nach oben strebende Wand des Hügels, an den das Haus wie festgewachsen schien. Bei all seinen inneren Kämpfen, enormen Aufschwüngen, katastrophalen Niederlagen hatte der magenkranke Professor – gemartert von Kopfschmerzen und intellektuellen Ekstasen – sich nicht den Trost der schönen Aussicht gegönnt. Marion und Marcel konstatierten dies mit Ehrfurcht und mit Erbarmen.

      »Wir wollen umkehren«, sagte jetzt Marcel; es war, als könnte er’s nicht erwarten, den kalten Bergwind endlich im Gesicht zu spüren. Sie waren nicht darauf gefaßt gewesen, daß es sie mit solcher Heftigkeit anwehen würde. Sie erschauerten, froren, schmiegten sich im Gehen enger aneinander. Marion sagte: »Es ist so gut, daß wir hergekommen sind!« Er lächelte, ohne sie anzuschauen. »Ja – schöner als hier kann es auf dieser Erde nicht sein.« Er blieb stehen. »Dieses Tal … dieser Wind …« Er zog tief die Luft ein. »Der Mann in dem abscheulichen Zimmer, wo wir heute gewesen sind – der kannte sich aus. Er wußte die schönste Landschaft zu finden und die Probleme, die entscheidend sind. Er hatte alles schon durchgemacht, ehe wir anfingen zu denken. Der ganze Aufruhr unserer Herzen, alle Ratlosigkeit, die schrecklichsten Irrtümer, der Wahnsinn und noch die kühnsten Hoffnungen waren ihm gegenwärtig. Er hat alles schon ausgesprochen – in deiner Sprache, Marion, in deiner schönen Sprache. Jetzt sollten wir schweigsamer sein – und wäre es nur aus Ehrfurcht. Da er in Gedanken alles durchgelitten und durchgekämpft hat, müssen wir anders leiden und anders kämpfen. Hier hat der Prophet seine Wege gemacht. Wir aber sollten handeln. – Warum sagst du nichts, Marion? Aber du zitterst ja? Du klapperst ja mit den Zähnen, ma pauvre! Komm näher an mich! Ich will meinen Mantel über deine Schulter legen.«

      8

      »Ich kann das Kind nicht bekommen«, sagte Tilly, leise und mit bebender Bestimmtheit; woraufhin die Ärztin streng und etwas feierlich wurde: »Genug jetzt! Ich will davon nichts mehr hören! Sie sind völlig gesund.« – »Abgesehen von meinem Asthma«, warf Tilly böse ein. – »Das ist nervös«, stellte die Ärztin fest. »Nach der Niederkunft wird es bald verschwinden.« – »Ich kann das Kind nicht bekommen. Sie müssen mir helfen, Fräulein Doktor! Sie müssen!« – »Ich darf nicht, und Sie wissen, daß ich nicht darf. Ich würde es aber auch nicht tun, wenn ich dürfte. Sie bringen das Kind zur Welt, werden es lieb haben – und mir dankbar sein, daß ich Ihnen Ihre Bitte heute abschlagen muß.« Tilly stöhnte. In ihrem weißen Gesicht öffnete sich klagend der Mund – ein dunkles Loch in der hellen Fläche dieser verzweifelten Miene. Ihr liebenswürdiges Antlitz wirkte tragisch verändert und sah übrigens ein wenig idiotisch aus, durch seine Starrheit und weil der Mund so trostlos offen blieb. Die Ärztin erschrak. »Aber mein liebes Kind!« sagte sie ängstlich. »Machen Sie doch kein so jammervolles Gesicht! Wahrscheinlich sind die Dinge gar nicht so schlimm, wie Sie sich das jetzt einbilden … Wollen Sie mir nicht ein wenig erzählen? Über den Vater Ihres Babys, und warum Sie so traurig sind?« – »Nein«, sagte Tilly; es kam rauh und fast zornig heraus. Die Ärztin, etwas pikiert, zuckte die Achseln. »Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht guttun. Aber ganz wie Sie wollen – natürlich, ganz wie Sie es wünschen, mein Kind.« – »Entschuldigen Sie!« sagte Tilly; sie war aufgestanden. »Entschuldigen Sie, bitte. – Ja, ich muß wohl jetzt gehen.«

      Auf der Straße, in ihrem Zimmer, an der Schreibmaschine – der Refrain von Tillys Gedanken bleibt: ›Ich kann das Kind nicht bekommen. Alles spricht dagegen, es soll nicht sein. Sein Vater treibt sich irgendwo auf einer Landstraße herum, oder er sitzt in einem deutschen Gefängnis. Die Nacht, in der ich es empfangen habe, hat mit dem Besuch der Polizei geendigt.

      Welch entsetzliches Zeichen! Auf mir liegt ein Fluch, auch der Kleine würde etwas von ihm abbekommen. Ich kann das Kind nicht bekommen – ach Ernst, warum bist du nicht da, um mir zu helfen!‹

      Sollte sie mit der Mutter sprechen? Sie wagte es nicht. Alles mußte sie mit sich selber ausmachen, die Entschlüsse ganz alleine fassen. Manchmal dachte sie: ›Vielleicht darf ich es doch bekommen, das Kind. Ich könnte den Peter heiraten, er würde meinen, es ist von ihm, er würde es gernhaben, später könnte ich ihm vielleicht die Wahrheit gestehen – aber nein! Das ist ja purer Wahnsinn! Ihn so anzulügen! Woran denke ich denn! Ich verliere den Kopf.‹

      Wenn nur Marion jetzt in Zürich wäre! Aber sie war beschäftigt, irgendwo unterwegs. – Und Frau Ottinger? Die war freundlich und gut. Zehnmal war Tilly entschlossen, der alten Dame alles zu erzählen; zehnmal brachte sie’s nicht über die Lippen. Nein, es ging nicht, es lag jenseits der Schicklichkeitsgrenze, so viel durfte man der braven Madame keinesfalls zumuten. Tilly lächelte matt, wenn Frau Ottinger sich besorgt wegen ihres schlechten Aussehens äußerte. »Ich fühle mich oft etwas müde«, gestand das Mädchen; Frau Ottinger riet ihr zu Lebertran. – Tilly war lange Zeit in tausend Ängsten gewesen, der Polizeibeamte, der sie damals im Hotel überrascht hatte, könnte sich mit Ottingers in Verbindung setzen. Nichts dergleichen geschah. Die Polizei hielt sich unheimlich still. Ernst verschwand – wahrscheinlich war er nachts zur französischen Grenze gebracht und dort seinem Schicksal überlassen worden; mit Tilly indessen schien man gnädig zu verfahren. Mindestens gönnte man ihr eine Bewährungsfrist – ›bis man mich zum nächsten Mal mit einem jungen Mann ohne Paß morgens in einer Kammer findet‹, dachte sie bitter. ›Dann freilich wäre Schluß, man setzte auch mich über die Grenze. – Oder schwebt schon jetzt gegen mich ein Verfahren? Vielleicht bereitet etwas Fatales sich vor, von dem ich nur noch keine Kenntnis habe …‹ Ihr war oft zumute, als würde sie beobachtet und belauert. Sie hatte sich kompromittiert, man kannte höheren Ortes ihren Lebenswandel, man war mißtrauisch gegen sie, wahrscheinlich schickte man Spione hinter ihr her. Tilly fürchtete sich. Oft, auf der Straße, fuhr sie plötzlich herum, weil sie die korrekt unnahbare Miene jenes Beamten neben sich zu erkennen meinte. – ›Ich werde verfolgungswahnsinnig‹, hielt sie sich vor. ›In was für einem Zustand bin ich? Pfui, man darf sich nicht so gehen lassen! – Eine schöne Frau Mama würde ich abgeben! Mir täte das Wesen leid, das mich als Mutter hätte und den verschollenen Ernst als Papa. – Ich kann das Kind nicht bekommen.‹

      Schließlich sprach sie mit der alten Friseuse, von der sie sich das Haar richten ließ; sie war aus Genf, hatte in Paris und Nordafrika gearbeitet, ihr französischer Akzent wirkte vertrauenerweckend. »Es handelt sich um eine gute Freundin von mir«, behauptete Tilly – wozu die Haarkünstlerin nachsichtig lächelte. »Sie kann das Kind nicht bekommen. Kennen Sie einen zuverlässigen Arzt?« Die Coiffeuse kannte einen und erbot sich sogar, für »Tillys Freundin« alle nötigen Verabredungen mit ihm zu treffen. »Ich empfehle ihn immer in solchen Fällen«, schwatzte sie, während sie mit gewandten Fingern Tillys Frisur arrangierte. »Ein vorzüglicher Mann.« – Tilly wurde für den nächsten Sonnabend angemeldet.

      Sie mußte in einem dumpfen Korridor warten, ehe eine dicke kleine Person in nicht ganz sauberer Schwesterntracht sie in den Empfangsraum geleitete.