Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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sich auflösen! Mir liegt nichts daran, ich wäre ohne das Empire glücklich. Mag doch London eine provinzielle Stadt wie Kopenhagen werden – es wäre vielleicht dann nicht mehr so lärmend dort, man hätte mehr Ruhe, und ich brauchte nicht auf Mallorca zu sitzen, um arbeiten zu können. Lassen wir die anderen ihren kindlichen Hunger nach Macht befriedigen, und geben wir ihnen das Beispiel der Sanftheit. Sie werden uns nicht überfallen, wenn wir nicht mehr bewaffnet sind. Sie werden unsere Leben verschonen – der Krieg ist es, der uns vernichten würde. Wenn nur ein Teil der Welt – der reifere, bessere Teil – sich zum Verzicht auf die Gewalt entschlösse, folgten die anderen nach. Schließlich fände man zueinander. Alle Menschen wären eine Familie, die Staaten wären nicht mehr voneinander abgegrenzt, die Verteilung der Länder hätte keine Wichtigkeit mehr. Das schöne Ziel wäre erreicht«, sprach er träumerisch in die warme Nacht hinaus.

      Einmal lachte sie über ihn; er nahm es nicht übel, sagte nur: »Lachen Sie nur! Ich habe auch viel gelacht, viel gespottet, stets gezweifelt, stets alles besser gewußt. Ich war Skeptiker. Durch alle Abgründe der Skepsis bin ich gegangen. Die Skepsis führt zur Verzweiflung. Wenn man leben will, muß man auf das Gute im Menschen vertrauen können.« – Da war sie schon wieder ernst.

      Hinter ihnen wurde der weite Salon allmählich leer. Die festlichen Lichter waren ausgegangen; in einer Ecke saß traulich Meister Samuel mit einer hübschen jungen Amerikanerin und trank Whisky. – »Was habt ihr euch eigentlich zu erzählen – ihr, dort drüben am Fenster?« rief ihnen seine Orgelstimme zu. Marion antwortete nicht; sie sah jetzt müde aus, wie nach einer Anstrengung, die zu lange gedauert hat. Der Schriftsteller – dessen kurzes fahles Gesicht im Gegenteil erfrischt und rosig belebt schien – sagte, wobei er nicht zu Samuel hinüber, sondern aufs Meer schaute: »Wir streiten über die Mittel; nicht über das Ziel. Sicher nicht über das Ziel.« Zu Marion gewendet, meinte er abschließend: »Sie übersehen eine grundlegende Tatsache, chère amie – eine ganz einfache biologische Tatsache, möchte ich beinah sagen. Die Liebe ist stärker als der Haß. Der Haß nutzt sich ab, erlahmt, läßt die im Stich, die mit ihm zu siegen meinten. Die Liebe aber ist unüberwindlich.«

      Da sie nun verstummten und es auch im Raume hinter ihnen stille war, hörte man plötzlich, mit einer seltsamen Eindringlichkeit, als wollte es sich endlich bemerkbar machen, das Rauschen des Meeres und das seufzend leise Auslaufen der kleinen Wellen auf dem nahen Strand.

      Ein paar Tage später reiste Marion ab, ohne den berühmten Autor noch einmal gesehen zu haben. Alle warnten sie davor, dies friedensvolle Eiland gerade jetzt zu verlassen; am heftigsten riet Siegfried Bernheim ihr ab. »Auch ich sollte eigentlich nach Paris, in Geschäften. Fällt mir aber gar nicht ein, zu fahren. Kein Mensch weiß, was nächstens in Europa geschieht. Morgen kann es zum Krieg zwischen England und Italien – und das heißt: zur allgemeinen Katastrophe – kommen. In Frankreich herrscht schon jetzt beinah Bürgerkrieg. Die Frage ist, ob man Sie in Marseille überhaupt landen läßt. Dort wird jetzt gestreikt, kein Hotel oder Restaurant ist offen, die Hafenarbeiter machen keinen Dienst, es wurde auch schon geschossen – ich flehe Sie an, meine Liebe: bleiben Sie hier! Sie riskieren draußen Ihr Leben. Hier ist nichts zu fürchten, auf dieser Insel sind wir in Sicherheit.« – »Soviel ich weiß, ist gestern eine Bombe vor dem Gemeindehaus in Palma explodiert«, sagte sie. Bernheim nahm dies nicht ernst. »Das sind Kindereien! Die Menschen hier haben ein gutes Herz. Warum sollten sie böse und blutdürstig sein? Sie haben genug zu essen, und diesen Himmel und dieses Meer! Vielleicht kommt es zu Unruhen in Barcelona. Auf Mallorca ist man wie in Gottes Schoß. – Ich gedenke, mir von hier aus anzusehen, wie sie sich in Europa schlagen«, sagte der Bankier. – Und einer der jungen Literaten zitierte lachend die Verse von Jean Cocteau:

      »À Palma de Majorque

      Tout le monde est heureux.

      On mange dans la rue

      Des sorbets au citron.«

      Marion ließ sich nicht umstimmen. Alle schüttelten betrübt die Häupter über soviel Eigensinn; Samuel umarmte sie und schalt sie mit bewegter Orgelstimme »kleine Närrin«; sie reiste ab. Am 13. Juni kam sie in Marseille an. Es war nicht gemütlich. Am Hafen gab es weder Kofferträger noch Taxis. Für ein enormes Trinkgeld wollte ihr ein Junge das Gepäck zum Bahnhof bringen. Die Hotels und Restaurants waren geschlossen, wie Bernheim es vorausgesagt hatte. Die Straßen waren verstopft von Menschen, die in langen Zügen marschierten, rote Fahnen trugen und die »Internationale« sangen. Die Gesichter schwitzten, waren eingehüllt in Staub, hinter dem Staub aber gab es ein mutiges Leuchten. Man begrüßte sich mit der erhobenen Faust. ›Was ist es?‹ dachte Marion. ›Ist es die Revolution?‹ Sie empfand Freude, hier zu sein. Erst in der überfüllten Bahnhofshalle bekam sie Angst. Der Zug, der sie nach Paris bringen sollte, verspätete sich. Sie fand auch den Jungen mit ihrem Gepäck nicht mehr. Übrigens war sie hungrig.

      Am nächsten Morgen erwartete Marcel sie in Paris, an der Gare de Lyon. Er sah glücklicher aus als seit langem. »In unserem alten Frankreich gehen große Dinge vor!« erklärte er ihr.

      Als Marion ihre Tournee für den Sommer vorbereitete, hatte sie wieder Schwierigkeiten mit ihrem Paß. Verschiedene Konsulate weigerten sich, ihr ein Visum zu geben. Sie erinnerte sich des spanischen Beamten in Nice und seines grausamen: »En somme, Madame, vous êtes sans patrie.« So ging das nicht weiter. Eines Tages sagte sie zu Marcel: »Mir scheint, mein Engel, wir müssen heiraten.« Er schien über diese Mitteilung zu erschrecken. Er gestand ihr: »Es ist mir nicht so ganz recht … Irgendwie habe ich davor Angst.« – »Wieso – Angst?« wollte sie lachend wissen. Er sagte: »Du hast mich nie heiraten wollen, und das war ein guter Instinkt von dir. Ich eigne mich nicht zum Ehemann. Ich bin krank, neulich habe ich wieder Blut gespuckt, ich bin erblich belastet, ich habe abscheuliche Eltern. Wo werde ich enden?« Er zögerte eine Sekunde, ehe er selbst, sehr leise, die Antwort gab: »Im Irrenhaus – fürchte ich oft …« Während Marion eine heftig abwehrende Geste machte, fuhr er fort: »Und nun – nur des Passes wegen? Irgendwie empfinde ich es doch als unschicklich … Das ist wahrscheinlich sehr dumm von mir«, entschuldigte er sich gleich. »Bürgerliche Vorurteile … Die pädagogischen Prinzipien der Madame Poiret scheinen ihren Einfluß auf mich ausgeübt zu haben.« Er lachte ein bißchen, wurde aber gleich wieder düster. »Es wird uns Unglück bringen …« Unter den hochgespannten Bögen der Brauen war sein Blick verdunkelt von Ängsten, die Marion nicht verstand. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar; es fühlte sich hart und widerspenstig an. »Aber, mon choux! Seit wann sind wir abergläubisch? – Wir könnten uns ja bald wieder scheiden lassen, wenn dir der Ehestand nicht gefällt!« schlug sie lachend vor. Sie küßte ihn; die Gebärde, mit der sie ihn an sich zog, war nicht jene, die eine Liebende für den Geliebten hat; vielmehr glich sie der anderen, mit der die Mutter ein erschrecktes Kind umarmt. Er lächelte zaghaft, während er den Kopf an ihre Schulter legte. »Es wird sehr hübsch sein, wenn wir Mann und Frau sind, meine kleine Marion …« Es klang aber nicht sehr bestimmt, eher fragend, fast flehend.

      Ein paar Tage nach der Zeremonie auf dem Standesamt war Marcel es, der vorschlug: »Wir sollten eine kleine Hochzeitsreise unternehmen, das gehört sich doch. Monsieur Poiret und Madame werden für ein paar Wochen miteinander in die Berge fahren.« – »Das wäre großartig!« Marion war begeistert. »Ich habe noch drei Wochen Zeit vor meiner Tournee durch die böhmischen Bäder.«

      Sie entschieden sich für das Engadin. In St. Moritz gefiel es ihnen nicht. Sie fanden ein schönes altes Graubündener Bauernhaus, in der Nähe von Sils Maria. Dort mieteten sie sich zwei Zimmer. – »Eine wunderschöne Hochzeitsreise!« stellten sie, jeden Morgen wieder, befriedigt fest. Sie atmeten freier in dieser dünnen und reinen Luft. Vieles, was drunten, im Tiefland, sie quälend beschäftigt hatte, schien sie hier droben kaum noch anzugehen. Vorübergehend durften sie manches vergessen, was sonst Inhalt ihrer Reden und Gedanken war. Sie sprachen nicht mehr vom Faschismus, der britischen Politik, den deutschen Konzentrationslagern, dem historischen Materialismus und der letzten Rede des Genossen Dimitroff; vielmehr davon, welch unbeschreiblich zarte und starke Farben der Himmel hatte; wie rührend es war, daß auf dem kargen Moos so mannigfach geformte und getönte Blumen gediehen, oder von der fast schmerzenden Klarheit des Lichts, in dem alle Dinge zugleich wirklicher und entrückter standen als drunten, in der feuchteren Atmosphäre. Am Abend kam die Bergwand, vor der Sils Baselgia lag, schwarz