Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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oder in ein kleines Taschentuch. Sie bekommen rote, etwas schmerzende Augen; ihr Mund verzerrt sich wie bei kleinen Kindern; vielleicht werfen sie auch die Arme in die Höhe, gleich Schauspielern auf einer Bühne, bewegen tragisch die Häupter und rufen Worte mit ihren dummen, schweren, irdischen Stimmen: »Warum hast du uns das getan, liebe Schwester? Weshalb mußte dies sein, süße Braut? Wehe, wehe – warum bist du fortgegangen? Du hast dich aus dem Staube gemacht, das war unfair; denn wir sind noch hier. Als hätten wir nicht schon genügend Anlaß zum Weinen gehabt, gibst du uns noch einen neuen – du Schlimme! Du Leichtsinnige! Du Leichtfüßige! Springst uns, mir nichts dir nichts, auf und davon! Hinterläßt ein paar Briefe – meinst wohl, damit sei alles getan – und wir haben das Nachsehen; wir starren hinter dir drein … O Pfui und Wehe! Wir haben dich doch geliebt, und nun spielst du uns solche Streiche! Wir schleppen uns dahin, und du flatterst: welche Ungerechtigkeit! Du wurdest klein und hold, eine wächserne Puppe; wir aber sind dick und schwer und voll Flüssigkeit, gar nicht vornehm; müssen trinken und essen, schlafen und sprechen, weinen und bluten, Blut und Tränen vergießen – und du bist ausgetrocknet, eine reizende Mumie. O Pfui und Wehe über dich, unsere kleine Gespielin, kleine Leidensgefährtin, kleine Gefährtin der Freuden – wie konntest du unsere Gemeinschaft nur so verraten! Wir gehörten zueinander, und nun hast du dich so fürchterlich distanziert!«

      Ein Bursche namens Ernst, Vagabund und Berliner Schupomann außer Dienst, der eine Nacht mit Tilly geschlafen hatte und dann von der Polizei abgeholt worden war, weinte nicht oder doch nicht über den Tod seiner Geliebten; denn er wußte nicht, daß sie gestorben war. Er trieb sich irgendwo auf den Landstraßen von Finnland umher und bekam keine Post. Im Laufe der letzten Monate war er aus sechs Ländern ausgewiesen worden und hatte sechs Grenzen ohne gültige Ausweispapiere zu nächtlicher Stunde überschritten. Das Problem, wo er etwas zu essen und ein Bett für die nächste Nacht finden könne, beschäftigte ihn weit mehr als der Gedanke an das kleine Mädchen mit den schrägen Augen und dem schlampigen Mund, der er ein Kind gemacht hatte – was er übrigens auch nicht wußte. Wenn Ernst also weinte, dann geschah es aus Hunger oder Müdigkeit oder aus allgemeinem Ekel vor der Welt, nicht aus Gram über Tilly.

      Hingegen saßen, die Köpfe nah beieinander über Kinderbildern der Toten, Frau von Kammer und Marion; ihre Tränen benetzten die alten, steifen Photographien. »Sieh dir diese Aufnahme an!« rief die Mutter. »Wie sie da lacht! Und diese Grübchen in ihren Backen! Sie ist reizend gewesen – von euch allen die Hübscheste: findest du nicht?« – »Ja, Mama«, sagte Marion, »von uns allen die Hübscheste!« – »Aber auf diesem Bild muß sie mindestens schon zwölf Jahre alt sein.« Welche Zärtlichkeit, wieviel wehmutsvolles Entzücken in Frau von Kammers Stimme, die sonst so scharf und trocken geklungen hat. »Wie schmal ihr Gesicht damals war!« Und die Mutter erinnerte sich: »Sie hatte eine schwere Grippe hinter sich. Ihr hattet alle die Grippe, aber bei ihr trat sie am schwersten auf. Das Fieber war schrecklich hoch, ich dachte, sie müßte sterben … Mein Gott, ich weiß noch, wie ich sie nachts in mein Bett holte, weil sie in ihrem eigenen nicht schlafen konnte …« – »Ja, Mama«, sagte Marion wieder, und ihre Finger klammerten sich plötzlich um die Photographie, als ob sie sie in Stücke reißen wollten. »Was machst du?« fragte die Mutter. »Du zerreißt ja das Bild!« Da ließ Marion den Kopf nach vorne sinken, fassungslos – und während die Bilder aus ihren Händen zur Erde glitten, stöhnte sie auf: »O Mutter, Mutter – ich kann nicht mehr – ich will nicht mehr – ich mag nicht mehr leben …«

      Die Mutter nahm zwischen ihre Hände Marions tränennasses Gesicht. »Sprich nicht so! Sei still! Weine! Sage nicht solche Dinge – bitte nicht! Denke nicht solche Sachen! Sei still!« – Welche Veränderung war vorgegangen mit Frau von Kammer, der geborenen von Seydewitz? Wohin waren ihre Haltung, die adlige Reserviertheit, die starre Form? Der Schmerz hatte ihr Antlitz weich gemacht und es menschlich belebt; auch jünger schien es geworden. Wann waren Mutter und Tochter sich je so nahe gewesen? – Noch niemals. Großes Leid mußte kommen und eine Erschütterung, von der das Herz sich nicht mehr erholt, damit sie einander schluchzend in die Arme sanken.

      Schluchzend und eng beisammen saßen sie, als Susanne eintrat – das jüngste Fräulein von Kammer; sie war aus dem smarten Mädcheninstitut herbeigereist, um der Bestattung ihrer Schwester Tilly beizuwohnen. Da stand sie nun, eine veritable von Seydewitz: hoch aufgeschossen, sportlich trainiert, immer noch etwas zu mager. Das braun gebrannte, straffe Gesicht wäre hübsch gewesen ohne den mürrischen Ausdruck und jene ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwärts gezogen wurden. Das dünne, aschblonde Haar trug sie, wie als kleines Mädchen, zu steifen Zöpfen frisiert, von denen man den Eindruck bekam, daß sie hart und kühl anzufühlen sein müßten, wie Metall. Sie schaute streng aus wasserblauen Augen; ihr Blick drückte Tadel aus, über das unpassende Halbdunkel in der Stube, und weil die beiden Damen auf dem Kanapee in so inniger Pose beieinander saßen. »Was treibt ihr denn da?« fragte die junge Susanne scharf – als hätte sie Mutter und Schwester bei etwas Unanständigem ertappt. »Es ist ja stockfinster. Ihr könnt gar nichts mehr sehen.«

      Marion und die Mutter wandten langsam die Köpfe, ohne sich aus ihrer Umarmung zu lösen. Hinter ihnen stand die junge Susanne – drohend aufgerichtet in der offenen Tür, blank und hart beschienen vom Licht, kühl und ehrgeizig, nicht sehr intelligent, eine Fremde, das Kind einer fremden Zeit.

      9

      Martin ist krank, »eine Lungenentzündung«, sagt Dr. Mathes. Und David Deutsch gegenüber erklärt er: »Das kommt nicht selten vor im letzten Stadium des Morphinismus.« – Bald scheint eine Besserung zu konstatieren; sie hält nicht an, der Rückfall stellt sich ein. – »Ich möchte die Verantwortung nicht mehr alleine tragen.« Das Gesicht des Doktors ist recht düster geworden. »Wir wollen ihn in ein Krankenhaus transportieren. Auch tut man gut daran, seinen Eltern Nachricht zu geben.«

      David hat es Martin beizubringen: »Du mußt in ein Krankenhaus.« Der nimmt es aber nicht schwer. »Natürlich«, meint er nur. »Das ist gewiß vernünftiger.« – Woher kommt ihm dieses Vertrauen? Wie erklärt sich solche Euphorie? Er bekommt kleinere Dosen Morphium als sonst; sein Herz hielte die starken nicht aus. Nicht das Gift also kann es sein, das seinen Blick derart leuchten macht; wohl auch nicht nur das Fieber. – »Es ist hübsch hier«, sagt er, da man ihn im Hospital gebettet hat. »Ich fühle mich wohl. Ja, rücke mir das Kissen zurecht! Vielen Dank, lieber David.«

      Martin, der den Tod gewollt hat, nun, da er ihm so nahe ist, erkennt er ihn nicht. So lange hatte er ihn herbeigerufen, ihn gelockt, jetzt aber will er seine Zeichen nicht verstehen, und er scheint unempfindlich für die Liebkosung seiner dunklen Hand. »Wenn ich wieder gesund bin«, versichert er dem David Deutsch, der fast den ganzen Tag an seinem Krankenbett verbringt, »wenn es mir ein bißchen besser geht, dann reise ich mit Mama in die Schweiz. Soviel Geld wird mein alter Herr schon noch auftreiben. Er ist ja gar nicht so schrecklich arm, wie er immer tut. Eigentlich ist er wohl noch ziemlich wohlhabend, weißt du …« Das »weißt du« auf die etwas selbstgefällig-doktrinäre Art zerdehnt, die man an ihm kennt. – Das Sprechen macht ihm Schwierigkeiten, er muß husten.

      »Sicher, Martin, die Schweiz wird dir guttun.« Welche Anstrengung kostet es David Deutsch, zu lächeln! »Aber du sollst jetzt nicht soviel reden!« – Und Martin behauptet: »Ich fühle mich heute viel besser.« Ach, er hat ihn gelockt, er hat sich so tief mit ihm eingelassen, so zärtlich-gründlich hat er sich mit ihm beschäftigt, und nun erkennt er ihn nicht … Martin liegt in einem billigen Hospital; das Geld, welches sein Vater, auf Davids dringliche Bitten, aus Berlin geschickt hat, reicht nicht aus, um den Aufenthalt in einer guten Privatklinik zu bezahlen. David hat ohnedies seine geringen Ersparnisse angreifen müssen, damit Martin ein Einzelzimmer bekommen konnte. David hätte es nicht ertragen, den Freund in einem Raum mit fremden, kranken, vielleicht übelriechenden, boshaften Leuten zu sehen … Ein bescheidenes Zimmer: nur das Bett, zwei Stühle, ein kleiner Nachttisch und Waschgeschirr. Auf dem Nachttisch stehen immer Blumen. David bringt jeden Tag gelbe Rosen oder bunte Tulpen mit und vielleicht etwas Obst oder ein Buch mit Bildern, in dem der Fiebernde blättern kann.

      Die Krankheit zieht sich hin; übrigens ist ihr Verlauf ungewöhnlich, gegen die Regeln: eine Lungenentzündung mit atypischen Komplikationen. David möchte Einzelheiten wissen, aber der Professor, ein schweigsamer und zurückhaltender