Mindestens einen gab es im Ensemble des Künstlertheaters, für den diese Entwicklung der Dinge eine große Freude war: Hans Miklas strahlte und triumphierte. Er habe es ja gleich gewußt, daß die ganze Geschichte mit dem sogenannten Revolutionären Theater ein ausgemachter Schwindel sei – erklärte er laut im H.K., und die strafenden Blicke der Frau von Herzfeld konnten ihn nicht davon abhalten, es mehrfach zu wiederholen. Sein trotziges Gesicht schien erhellt von dem starken Vergnügen, welches ihm das Fiasko des Revolutionären Theaters bereitete; einen ganzen Tag lang war er wohlgelaunt, pfiff und summte, hatte keine schwarzen Löcher in den Wangen, hustete gar nicht und lud sogar die Efeu zu einem Schnaps ein: solches war noch niemals geschehen, die gute Frau sagte: »Junge, Junge, du bist ja heute ganz aus dem Häuschen!«
Natürlich konnte der schöne Zwischenfall die Laune des jungen Miklas nur vorübergehend, nicht auf die Dauer verbessern. Schon am nächsten Tage erschien sein Gesicht wieder böse verschlossen, die schwarzen Höhlen unterhalb der Wangenknochen waren wieder da, und sein Husten klang besorgniserregend. ›Wie er uns alle haßt!‹ dachte Barbara, die ihn beobachtete. Sie war nicht unempfänglich für den finsteren Charme des ungezogenen Buben. Sein Gesicht, mit dem dichten, widerspenstigen Haar über der hellen Stirn, den dunklen Rändern um die trotzigen Augen und den abweisend vorgeschobenen, ungesund leuchtenden Lippen, wirkte auf sie weit anziehender als etwa die vor Eitelkeit ermüdete Miene des schönen Bonetti. An der schmalen und elastischen Figur des jungen Miklas – an diesem trainierten, biegsamen und ehrgeizigen Körper – gab es irgend etwas, was Barbara rührte. Deshalb versuchte sie zuweilen, den jungen Menschen ins Gespräch zu ziehen. Zunächst begegnete er ihr – der Gattin des verhaßten Vorgesetzten – mit verbissenem Mißtrauen. Allmählich gelang es Barbara, ihn freundlicher und vertrauensvoller zu stimmen. Manchmal lud sie ihn zu einem Bier und einem belegten Brot im H.K. ein – Aufmerksamkeiten, die Hans Miklas sehr zu schätzen wußte. Besonders wenn Barbara sich über Hendrik geärgert hatte, machte es ihr Vergnügen, sich mit dem bösen Jungen zu unterhalten. »Wollen wir uns nicht mal wieder einen aufsässigen Abend leisten?« schlug sie ihm dann vor, und er akzeptierte gerne. Für aufsässige Abende war er immer zu haben, und erst recht, wenn ihm auch noch Bier und Fleisch dazu bezahlt wurden.
Mit einem Interesse, in das sich ein wenig Grauen mischte, lauschte Barbara, wenn Hans Miklas von dem, was er liebte, und von dem, was er haßte, sprach. Niemals noch hatte sie mit einem Menschen am gleichen Tisch gesessen, der sich zu Gesinnungen und Ansichten bekannte, die dieser Knabe mit so viel Fanatismus vertrat. Ihr wurde klar, daß er alles mißachtete oder verabscheute, was ihr selber, ihrem Vater oder ihren Freunden teuer und unentbehrlich war. Was meinte er denn, wenn er den »verdammten Liberalismus« heftig anklagte oder »gewisse jüdische und verjudete Kreise« verhöhnte, die – seiner Überzeugung nach – die deutsche Kultur auf den Hund brachten? ›Ja, er meint alles, was ich je geliebt und woran ich geglaubt habe‹, verstand Barbara. ›Er meint den Geist und die Freiheit, wenn er »Judenpack« sagt.‹ Und sie erschrak im tiefsten. Trotzdem reizte es ihre Neugierde, ein Gespräch fortzusetzen, das, für ihren Begriff, durchaus phantastischen Charakter hatte. Es kam ihr vor, als wäre sie plötzlich aus der zivilisierten Sphäre, in der sie zu leben gewohnt war, in eine ganz andere, wildfremde und barbarische versetzt worden …
Wofür begeisterte sich ein so rätselhaftes Geschöpf wie Hans Miklas? Was für Ideen und für Ideale waren es, an denen sein aggressiver Enthusiasmus sich entzündete?
Er schwärmte von einer »judenreinen deutschen Kultur«, und Barbara mußte verwundert den Kopf schütteln. Als ihr sonderbarer Gesprächspartner ihr auseinandersetzte, daß der »Versailler Schandvertrag zerrissen« und die deutsche Nation wieder »wehrhaft« werden müsse, leuchteten seine Augen, und auch von seiner Stirn schien Glanz zu kommen.
»Unser Führer wird dem Volk die Ehre wiedergeben!« rief er aus. Nun klang seine Stimme heiser; er schüttelte siegesgewiß das Haar. »Wir ertragen nicht länger die Schande dieser Republik, die vom Ausland verachtet wird. Wir wollen unsere Ehre zurückhaben – jeder anständige Deutsche verlangt das, und anständige Deutsche gibt es überall, selbst hier, an diesem bolschewistischen Theater. Sie sollten einmal hören, wie Herr Knurr spricht, wenn er nicht fürchten muß, belauscht zu werden! Er hat drei Söhne im Krieg verloren, aber er sagt, das wäre ja nicht so schlimm, viel schlimmer ist, daß Deutschland seine Ehre verloren hat – und eben die kann uns der Führer – nur der Führer – wieder verschaffen!«
Barbara aber dachte: ›Warum erregt er sich so wegen der deutschen Ehre? Was stellt er sich eigentlich vor unter diesem ungenauen Begriff? Ist es für ihn wirklich so enorm wichtig, daß Deutschland wieder Tanks und Unterseeboote bekommt? Er sollte doch erst einmal sehen, seinen schlimmen Husten loszuwerden, in einer netten Rolle Erfolg zu haben und etwas mehr Geld zu verdienen, damit er sich jeden Tag satt essen kann. Sicher ißt er zu wenig und trainiert zuviel – er sieht ja fürchterlich überanstrengt aus.‹
Sie fragte ihn, ob er noch ein Schinkenbrot wolle; er nickte flüchtig, aber dann schwärmte er weiter: »Es kommt der Tag! Unsere Bewegung muß siegen!«
Ähnliche Worte einer begeisterten Zuversicht hatte Barbara erst kürzlich von einem anderen gehört: von Otto Ulrichs. Diesem zu widersprechen, hatte sie nicht gewagt – ihr Verstand wie ihr Gefühl waren ja beinah ganz überzeugt von seinem vernunftvoll-glühenden Glauben; zu Hans Miklas hingegen sagte sie: »Wenn Deutschland wirklich einmal so werden sollte, wie Sie und Ihre Freunde es sich wünschen – dann will ich lieber nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dann reise ich ab«, erklärte Barbara und lächelte Miklas nachdenklich, aber nicht unfreundlich zu. Der jedoch strahlte: »Das glaube ich wohl! Es werden verschiedene Herrschaften abreisen – das heißt: wenn wir sie noch abreisen lassen und sie nicht vorher einstecken! Dann sind wir dran! Dann werden endlich wieder die Deutschen in Deutschland etwas zu sagen haben!«
Wie ein begeisterter Sechzehnjähriger sah er jetzt aus, mit dem verwirrten Haar und den leuchtenden Augen – Barbara konnte nicht leugnen, daß er ihr gefiel, wenngleich jedes Wort, das er sagte, ihr fremd und abstoßend war. Mit einer Beredsamkeit, die sich häufig verwirrte, aber stets eindringlich blieb, erklärte er ihr, daß der Glaube, für den er kämpfte, ein im tiefsten revolutionärer Glaube sei. »Wenn der Tag erst da ist, und unser Führer die ganze Macht übernimmt – dann ist Schluß mit Kapitalismus und Bonzenwirtschaft, die Zinsknechtschaft wird gebrochen, die Großbanken und die Börsen, die unsere Volkswirtschaft aussaugen, können zumachen, und niemand wird ihnen nachweinen!«
Barbara wollte wissen, warum Miklas nicht mit den Kommunisten gehe, wenn er doch, wie sie, gegen den Kapitalismus sei. Miklas erklärte – eifrig wie ein Kind, das eine auswendig gelernte Lektion hersagt: »Weil die Kommunisten kein Vaterlandsgefühl haben, sondern internationalistisch und von den russischen Juden abhängig sind. Auch von Idealismus wissen sie nichts, alle Marxisten glauben, es kommt nur aufs Geld an im Leben. Wir wollen unsere eigene Revolution – unsere deutsche, unsere idealistische; nicht eine, die dirigiert wird von den Freimaurern und durch die Weisen von Zion!«
Hier machte Barbara den erhitzten Knaben darauf aufmerksam, daß sein »Führer«, der den Kapitalismus abschaffen wollte, sehr viel Geld von der Schwerindustrie und den Großgrundbesitzern bekomme – woraufhin Miklas zornig wurde und solche Verdächtigungen als »typisch jüdische Hetze« scharf zurückwies. Auf diese Art diskutierten die beiden bis tief in die Nacht hinein: Barbara – ironisch, sanft und neugierig – horchte den Trotzigen aus und suchte ihn zu belehren. Er aber blieb, mit eigensinniger Kinderstirn, bei seinem blutrünstigen Glauben an die Heilslehre von der Rasse, der Brechung der Zinsknechtschaft und der idealistischen Revolution. – Souffleuse Efeu, die aus einer Ecke das ins Gespräch vertiefte Paar eifersüchtig beobachtete, flüsterte dem Portier Knurr zu: »Frau Höfgen ist auf meinen Jungen scharf – das hat mir gerade noch gefehlt. Frau Höfgen will mir meinen Buben wegnehmen …«
Noch in derselben Nacht bekam Hans Miklas Krach mit seiner Efeu; Barbara indessen hatte mit Hendrik eine schlimme Szene. Höfgen tobte: nicht aus »kleinbürgerlicher Gatteneifersucht« – wie er betonte – vielmehr aus politischen Gründen. »Man sitzt nicht mit einem Lumpen von Nationalsozialisten den ganzen Abend an einem Tisch!« rief er, bebend vor Zorn. Barbara versetzte, daß, ihrer