Da richtete sich Nicoletta ganz gerade auf, hackte mit der Nase in die Luft und zischte: »Ich verbiete dir, von meinem Bräutigam, dem größten lebenden Menschen, so zu sprechen.«
Hendrik lächelte erschöpft und wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Na«, sagte er, »dann muß ich es ja wohl mal dem armen Kroge erzählen.«
Während er mit dem Künstlertheater telefonierte, ließ Barbara zum ersten Mal ihre Stimme vernehmen, vor der es wie ein Schleier von Traurigkeit hing. »Du willst ihn also heiraten?« fragte Barbara.
»Wenn er mich nimmt!« versetzte mit einer schaurigen Fröhlichkeit Nicoletta, wobei sie es vermied, die Freundin anzusehen.
Barbara sagte: »Er ist dreißig Jahre älter als du. Er könnte dein Vater sein.«
»Ganz recht«, sagte Nicoletta, und aus ihren schönen Augen schlug die Flamme des Wahnsinns. »Er ist wie mein Vater. In ihm habe ich den Verlorenen wiedergefunden. Wunderbar erneuert sich die alte Bindung.«
Barbara sagte beschwörend: »Er ist krank.«
Jedoch die Verblendete sprach erhobenen Hauptes: »Er hat die höhere Gesundheit des Genies.«
Da stöhnte Barbara nur noch: »Mein Gott, mein Gott«, und legte das Gesicht in die Hände.
Als eine Viertelstunde später Oskar H. Kroge, Direktor Schmitz und Frau von Herzfeld eintrafen, hatte Nicoletta ihre zahlreichen Koffer schon gepackt und stand in der Hotelhalle, den Wagen erwartend, der sie zur Bahn bringen sollte.
Schmitz, der plötzlich gar keine weiche Stimme mehr hatte, sondern einfach schrie, drohte mit Polizei und Verhaftung; Oskar H. Kroge fauchte wie ein alter Kater, während Nicoletta wie ein Raubvogel zurückhackte; Frau von Herzfeld versuchte es mit vernünftigem Zureden, aber sie verstummte vor Nicolettas schrillem Hohn und eisigem Pathos. Alle redeten durcheinander: Schmitz beklagte die ausverkauften Häuser, Kroge sprach von Mangel an künstlerischem Verantwortungsgefühl und an menschlichem Anstand, und die Herzfeld bezeichnete Nicolettas Betragen als den Akt einer verspäteten und degoutanten Pubertätshysterie. Barbara inzwischen hatte unbemerkt das Hotel verlassen. Nicoletta reiste ab, ohne sich von Barbara verabschiedet zu haben.
Nicolettas jähes Verschwinden bedeutete für Barbara nicht nur Schmerz, sondern auch beinah etwas wie Erleichterung. Die Nachricht von der Hochzeit, die »in aller Stille« von Nicoletta und Theophil Marder gefeiert worden war, empfing sie ohne große Bewegtheit. ›Arme Nicoletta‹, war eigentlich alles, was sie noch dachte. Ihr Herz begann schon, auf den problematischen Genuß einer Freundschaft zu verzichten, von der es so viele Jahre lang beschäftigt, beglückt und gequält worden war. An eine Zukunft mit Nicoletta konnte Barbara nicht mehr denken; indessen liebte sie es, sich der gemeinsamen Vergangenheit zu erinnern und sich selber die Geschichte einer Freundschaft zu erzählen, die durch so phantastisch-sinnvolle Umstände zustande gekommen war und sich nach so wunderlichen Gesetzen entwickelt hatte.
Willy von Niebuhr, der Vater, dessen Leben unruhvoll verlaufen war – wenn auch vielleicht nicht ganz so abenteuerlich, wie seine Tochter es darzustellen pflegte – hatte sich niemals viel um Nicoletta gekümmert. Als er in China starb, war das Mädchen dreizehn Jahre alt. Damals war sie eben aus einem Internat in Lausanne mit erheblichem Skandal entlassen worden. Niebuhr, der wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte, schrieb aus Shanghai an Bruckner, mit dem er als Student befreundet gewesen war: »Kümmere dich um das Kind!« Der Geheimrat beschloß, das Mädchen für ein paar Wochen als Logierbesuch in sein Haus zu nehmen, bis ein neues geeignetes Internat oder eine andere Möglichkeit der Unterbringung für sie ausfindig gemacht sein würde. So erschien Nicoletta im Hause Bruckner: ein gravitätisch-ernsthaftes, kluges und eigensinniges junges Geschöpf mit großer, gebogener Nase, leuchtenden Katzenaugen, einem mageren, biegsamen Körper und der stolzen, siegesgewissen Haltung des Kopfes. Dem Geheimrat war an seinem jungen Gast alles unheimlich: der verlockende und drohende Blick, die übermäßig deutliche, schneidend akzentuierte Sprechweise, die diabolische Korrektheit des Betragens. Er fand es fesselnd, aber auch etwas peinlich, die sonderbare Tochter eines interessanten Freundes so nahe bei sich zu haben und den ganzen Tag beobachten zu müssen.
Es überraschte ihn – aber er verhinderte es nicht – daß Barbara sich mit einer so heftigen Freundschaft an Nicoletta anschloß. Was zog sein Kind zu diesem fremden, krassen, wunderlichen Mädchen? Liebevoll sann der Vater darüber nach. Ihm schien es, daß Barbara in Nicoletta den Menschen suchte, der ihr selber am entschiedensten unähnlich war … Immerhin hielt der Vater diese Freundschaft für bedenklich genug, daß er danach trachtete, Nicoletta aus seinem Hause zu entfernen. Sie wurde einer Pension an der französischen Riviera anvertraut; aber auch dort gab es bald wieder Skandal, Nicoletta kehrte in die Brucknersche Villa zurück. Sie wurde entfernt, und sie kam wieder: dieses Spiel wiederholte sich häufig. Von vielen Abenteuern, die ihr junges, zugleich feierlich und unbedenklich geführtes Leben mit sich brachte, erholte sie sich stets bei Barbara. Barbara erwartete sie immer, öffnete immer ihre Tür, wenn Nicoletta anklopfte; der Geheimrat sah es, wunderte sich, grämte sich vielleicht, aber duldete es. Übrigens durfte er feststellen, daß seine schöne und gescheite Tochter, während sie an ihrer Freundin sonderbarer Existenz so treuen Anteil nahm, ihr eigenes Leben keineswegs vernachlässigte. Sie beschäftigte sich, spielerisch und nachdenklich, mit tausend Dingen; sie hatte Freunde, für deren Launen und Sorgen sie viel geduldige Sympathie aufbrachte; sie war leichtsinnig und versonnen; halb Amazone und halb sanfte Schwester; kühl und gütig, sehr spröde und stets bereit zu Zärtlichkeiten, die eine bestimmte Grenze niemals überschreiten durften. – So lebte Barbara, und vielleicht gab der Umstand, daß sie auf Nicoletta wartete, daß sie zu jeder Stunde des Tages auf Nicolettas überraschende Ankunft vorbereitet war, ihrem Leben den geheimen Sinn, das rätselhafte Zentrum, dessen es bedurfte.
Immer war Nicoletta wiedergekommen. Barbara spürte und wußte, daß sie es diesmal nicht tun würde. Dieses Mal war etwas Einschneidendes, Definitives geschehen. Nicoletta glaubte, in Theophil Marder den Mann gefunden zu haben, der ihrem Vater – oder der legendären Figur, die sie aus ihm machte – ähnlich und ihm ebenbürtig war. Nun brauchte sie Barbara nicht mehr. Dem wiedergefundenen Vater, dem neuen Geliebten vertraute sie mit dem dramatischen Eklat, der all ihre Handlungen charakterisierte, ihr Leben an. Seinem maßlosen und überreizten Willen unterwarf sich Nicoletta, die den Kopf sehr hoch trug, aber es doch liebte, sich befehlen zu lassen. Was hatte hier Barbara noch zu suchen? Viel zu stolz, um sich aufzudrängen – zu hochmütig, um auch nur zu klagen, verstummte sie und behielt sogar ihr undurchdringlich heiteres Gesicht. ›Arme Nicoletta‹, dachte sie. ›Nun mußt du selbst mit deinem Leben fertig werden. Es wird kein leichtes Leben sein – arme Nicoletta.‹
Übrigens hatte Barbara nicht viel Zeit, über ihre Freundin Nicoletta nachzudenken; ihr eigenes Dasein, der neue Alltag in der fremden Stadt und an der Seite eines fremden Mannes nahmen sie in Anspruch. Sie sollte sich an das Zusammenleben mit Hendrik Höfgen gewöhnen. Würde sie es allmählich lernen, diesen Menschen zu lieben, dessen pathetischer Werbung sie – halb aus Neugier, halb aus Mitleid – nachgegeben hatte? Ehe Barbara sich diese Frage auch nur stellte, mußte sie versuchen, eine andere – wie sie fand: entscheidende – sich zu beantworten; nämlich die: