Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
Скачать книгу
»lassen wir also die menschlichen Erwägungen beiseite. Ich gebe zu, daß der arme Bursche mir leid tut, mit seinem Husten und mit seinen schwarzen Löchern in den Backen. Aber aus so privaten Gründen würde ich mich doch nicht für ihn einsetzen – du solltest mich gut genug kennen, Hendrik, um das zu wissen. Vielmehr sind es, wie immer, politische Erwägungen, die meine Haltung bestimmen. Man soll keine Märtyrer schaffen. Es wäre, gerade bei der augenblicklichen politischen Situation, durchaus falsch …«

      Hier stand Hendrik auf. »Entschuldige, daß ich dich unterbreche«, sagte er mit vernichtender Höflichkeit. »Aber es scheint mir zwecklos, diese an sich gewiß sehr interessante theoretische Debatte fortzusetzen. Der Fall liegt einfach: Ihr habt zwischen mir und Herrn Hans Miklas zu wählen. Wenn er an diesem Theater bleibt, werde ich es verlassen.« Dieses sprach er mit einer feierlichen Schlichtheit, die an dem unerbittlichen Ernst seiner Worte nicht zweifeln ließ. Er stand am Tisch, das Gewicht des vorgebeugten Oberkörpers auf die Hände gestützt, die mit gespreizten Fingern vor ihm lagen. Die Augen hielt er gesenkt, als wollte seine Bescheidenheit es vermeiden, den Entschluß der Anwesenden durch die unwiderstehliche Kraft seines Blickes zu beeinflussen.

      Bei Hendriks schrecklichen Worten waren alle zusammengefahren. Kroge biß sich die Lippen; Frau von Herzfeld konnte sich nicht enthalten, ihre Hand auf das Herz zu legen, welches krampfhaft pochte; Direktor Schmitz war bleich geworden: ihm bereitete es physische Übelkeit, sich vorzustellen, das Künstlertheater könnte nun auch noch Höfgen, den Unersetzbaren, verlieren, nachdem es schon die effektvolle Nicoletta von Niebuhr eingebüßt hatte.

      »Reden Sie keinen Unsinn«, flüsterte der dicke Mensch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Und er fügte mit seiner überraschend weichen und angenehmen Stimme hinzu: »Sie können beruhigt sein: der Junge fliegt.«

      Miklas flog – Kroge hatte nur mit Mühe und dank der eifrigen Unterstützung Ulrichs’ durchsetzen können, daß der verabschiedete junge Schauspieler die Gage für zwei Monate ausbezahlt erhielt. Niemand wußte, wohin Miklas reiste, selbst die arme Efeu sah ihn nicht mehr, er hatte das Künstlertheater seit jenem peinlichen Zwischenfall nicht mehr betreten, grollend hatte er sich zurückgezogen, und nun war er verschwunden.

      Miklas, Opfer seines kindischen Trotzes und seiner ebenso glühenden wie nicht durchdachten Überzeugung, war fort. Hendrik Höfgen hatte den Unbotmäßigen erledigt, den Aufsässigen aus dem Wege geschafft: Sein Triumph war vollkommen, mehr denn je bewunderten ihn alle Mitglieder des Künstlertheaters, von der Motz bis zum Böck. Die kommunistischen Bühnenarbeiter, in ihrem Stammlokal, lobten seine energische Haltung. Der Bühnenportier Knurr zeigte eine unheilverkündend finstere Miene, wagte jedoch kein Wort zu sagen und versteckte sein Hakenkreuz sorgfältiger denn je unter dem Rockaufschlag. Wenn aber Höfgen das Theater betrat, trafen ihn aus dem Halbdunkel der Portiersloge fürchterliche Blicke, in denen zu lesen stand: Warte nur, du verfluchter Kulturbolschewist, dir werden wir das Handwerk schon noch legen! Unser Führer und Erlöser ist unterwegs! Der Tag seiner großen Ankunft ist nahe! – Hendrik erschauerte, ließ sein Gesicht zur undurchdringlich hochmütigen Maske erstarren, und ging grußlos vorbei.

      Seine überragende Stellung anzuzweifeln war niemandem möglich: Er regierte im H.K., im Büro, auf der Bühne. Seine Gage wurde auf fünfzehnhundert Mark erhöht: Hendrik machte sich keineswegs mehr die Mühe, wie ein nervöser Sturmwind in Direktor Schmitzens Büro zu fahren und erst lange neckisch zu tun, um dies zu erreichen; vielmehr verlangte er es mit knappen Worten. Kroge und die Herzfeld wurden von ihm fast wie Untergebene behandelt, die kleine Siebert schien er völlig zu übersehen, und in den kameradschaftlichen Ton, den er Otto Ulrichs gegenüber beibehielt, mischte sich eine gönnerhafte, beinah etwas verächtliche Note.

      Nur einen Menschen gab es in seinem Umkreis, den zu überzeugen, zu gewinnen, zu verführen ihm übrig blieb. Das Mißtrauen, mit dem Barbara auf Hendrik schaute, hatte sich seit der Miklas-Affäre noch vertieft und verschärft. Er aber ertrug es nicht, auf die Dauer jemanden in seiner Nähe zu haben, der ihn nicht bewunderte und nicht an ihn glaubte. – Die Entfremdung zwischen ihm und Barbara war fortgeschritten während dieses Winters. Nun nahm Hendrik einen frischen Anlauf, um sie gänzlich zu überwinden. Zwang ihn nur die Eitelkeit zu diesem neuen Energieaufwand des Werbens? Oder nötigte ihn auch ein anderes Gefühl, seine verführerischen Kräfte für Barbara noch einmal spielen zu lassen? Er hatte sie seinen »guten Engel« genannt. Aus seinem guten Engel war sein schlechtes Gewissen geworden. Barbaras stille Mißbilligung warf einen Schatten über seine Triumphe. Der Schatten mußte weggewischt werden, damit er ungestört die Triumphe genießen konnte. – Hendrik bemühte sich um Barbara fast ebenso eifrig wie in den ersten Wochen ihrer Beziehung. Er ließ sich nicht mehr gehen in ihrer Gegenwart; vielmehr hatte er nun wieder Scherze und bedeutende Gespräche für sie bereit.

      Damit sie ihn in den Augenblicken seiner intensivsten Kraftentfaltung, seiner blendendsten Wirksamkeit sähe, forderte er sie nun häufiger auf, zu großen Proben ins Theater zu kommen. »Du kannst mir gewiß wertvolle Ratschläge geben«, sagte er mit der vor Bescheidenheit klagenden Stimme und senkte die Lider über einem schillernden Blick.

      Als Hendrik die erste Kostümprobe zu seiner Neubearbeitung einer Offenbach-Operette leitete, betrat Barbara leise den Zuschauerraum; leise ließ sie sich nieder, in der letzten Reihe des finsteren Parketts. Auf der Bühne standen die Girls, warfen die Beine und schrien den Refrain eines Chansons. Vor ihrer tadellos ausgerichteten Front hüpfte die kleine Siebert, die als Amor zurechtgemacht war: mit lächerlichen Flügelchen an den nackten Schultern, Pfeil und Bogen um den Hals gehängt, und einem rot geschminkten Näschen im bleichen, angstvollen und hübschen kleinen Gesicht. ›Was für eine unvorteilhafte Maske Hendrik ihr zumutet!‹ dachte Barbara. ›Ein melancholischer Amor.‹ Und sie empfand, in ihrem dunklen Versteck, etwas wie eine gerührte Sympathie für die arme Angelika, die da vorne zappelte und sprang: vielleicht begriff Barbara in diesem Augenblick, daß um Hendriks willen Angelikas Gesicht den klagenden und angstvollen Ausdruck hatte.

      Höfgen stand, tyrannisch gereckt und mit gebreiteten Armen, auf der rechten Seite der Bühne und beherrschte alles. Er stampfte nach dem Rhythmus der Orchestermusik, sein fahles Antlitz faszinierte durch den Ausdruck äußerster Entschlossenheit. »Schluß! Schluß! Schluß!!« tobte er, und während das Orchester plötzlich zu spielen aufhörte, erschrak Barbara fast ebensosehr wie die Chorgirls, die ratlos dastanden, und wie die kleine Angelika: Amor, mit erfrorenem Näschen, gegen die Tränen kämpfend.

      Der Regisseur aber war nach vorne gesprungen, in die Mitte der Bühne. »Ihr habt Blei in den Beinen!« schrie er die Girls an, die traurig die Köpfe senkten, wie Blumen, über die ein eisiger Wind weht. »Keinen Trauermarsch sollt ihr tanzen, sondern Offenbach.« Herrisch winkte er dem Orchester, und da es wieder zu spielen begann, tanzte er selbst. Man vergaß, daß es ein fast schon kahler Herr im grauen, etwas abgetragenen Straßenanzug war, den man da vor sich hatte. Höchst schamlose, höchst erregende Verwandlung am hellen Vormittag! Schien er nicht Dionysos, der Gott der Trunkenheiten zu sein, wie er nun ekstatisch die Glieder warf? Barbara beobachtete ihn nicht ohne Erschütterung. Eben noch war Hendrik Höfgen der Feldherr gewesen, der – gereizt, hochmütig, unerbittlich – vor seinen Truppen, den Chorgirls, stand. Ohne Übergang war er nun verfallen in bacchantische Raserei. Verzerrungen liefen über sein weißes Gesicht, die Edelsteinaugen verdrehten sich vor Verzücktheit, und von den geöffneten Lippen kamen heisere Laute der Wollust. Übrigens tanzte er glänzend, die Chorgirls schauten respektvoll auf ihren mit großer Technik taumelnden Regisseur, Prinzessin Tebab hätte ihre Freude an ihm gehabt.

      ›Woher kann er das?‹ dachte Barbara. ›Und was fühlt er denn jetzt? Fühlt er jetzt irgend etwas? Er macht den Girls vor, wie sie die Beine werfen sollen. Das sind seine Ekstasen …‹

      In diesem Augenblick unterbrach Hendrik die frenetische Übung. Ein junger Mann aus dem Büro war vorsichtig durch das Parkett gegangen und auf die Bühne gestiegen. Nun berührte er zart die Schultern des verzückten Regisseurs und flüsterte: Herr Höfgen möge die Störung entschuldigen, Direktor Schmitz lasse ihn bitten, diesen Plakatentwurf für die Operettenpremiere, der sofort in die Druckerei zurückgeschickt werden müsse, zu begutachten. Hendrik winkte der Musik ab, stand in gelassener Haltung und klemmte sich das Monokel vors Auge: Niemand hätte dem Mann, der jetzt mit kritischer Miene ein Papier