Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
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      Sehr vorsichtig setzte Hugh seine kleine Schwester ab, fasste sie jedoch sogleich an den Oberarmen. Das Schluchzen kam aus der angelehnten Tür zum Jungenschlafzimmer.

      „Ihr seid nicht verletzt?“, fragte Julie hastig. „Euch ist doch nichts geschehen?“

      Zu ihrem Entsetzen antwortete ihr großer Bruder nicht. Seine braunen Augen starrten sie leer an und auf einmal spiegelten sich Tränen darin. Ein Schauer jagte Julie über den Rücken. „Nein!“

      Mit einem Ruck machte sie sich aus Hughs Umklammerung frei. Sie lief zur Schlafzimmertür, stieß sie auf. Dort standen ihre Eltern, neben dem Bett von Nikolaus. Stützend krallte Julie sich am Türrahmen fest. Ihre Knie drohten, unter ihr nachzugeben.

      „Nein“, flüsterte sie und biss sich auf die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen und da fühlte sie, wie Hugh seinen Arm um ihre Taille legte und sie langsam bis ans Bett geleitete. Durch den Schleier nahm Julie kaum wahr, was sie dort vor sich erblickte. Nikolaus, ihr kleiner Bruder, der ihr so unendlich viel bedeutete! Es schien, als schliefe er nur. Seine Augen waren geschlossen und seine Hände über seinem Körper gefaltet. Julie blinzelte. Die Farbe seines Gesichts war blass und Julie wusste, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte, niemand konnte das.

      „Ein Indianerpfeil“, flüsterte Hugh ihr von hinten leise ins Ohr, sodass nur sie es hören konnte. „Er ist durch die Fensterscheibe gedrungen und hat ihn genau getroffen. Er hat nicht gelitten.“

      Seine Stimme brach ab und ein leises Schluchzen drang aus seiner Kehle. Julie fand keine Worte, sie fühlte sich entsetzlich hilflos und geschunden. Ihr kleiner Bruder war tot! Noch nach dem Abendessen hatte sie sich von ihm verabschiedet und er hatte gelacht und ihr versprochen, etwas vom Nachtisch für sie übrigzulassen. Bei der Erinnerung war Julie nicht länger fähig, sich unter Kontrolle zu halten. Sie warf sich herum, klammerte sich an ihren großen Bruder, der sie um einen ganzen Kopf überragte und weinte unkontrolliert. Sie merkte kaum, wie Hughs Arme sich um sie schlangen und fest an sich pressten, wie er sein Gesicht in ihrem Haar vergrub und seine Tränen hineintropften und es feucht werden ließen. Sie standen und hielten sich und wussten doch beide, dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie zuvor.

      Sie beerdigten die Toten am anderen Morgen auf dem Friedhof neben der Kirche. Friedrich war kaum fähig, die Gebete zu sprechen, doch er tat es mit mühevoller Würde und leisen, wenigen Worten. Zuerst kam Miss Tryon, eine junge Engländerin an der Reihe, die ein Zimmer in der zerstörten Pension gemietet hatte und nicht mehr rechtzeitig aus dem brennenden Gebäude herausgekommen war. Danach musste er zwei junge Männer begraben, die zu dem Siedlertreck gehört hatten, der noch immer vor der Stadt kampierte und dort auch den Winter verbringen wollte, um im Frühjahr Häuser zu bauen. Sie hatten versucht, ihre Wagen zu verteidigen und dabei unvorsichtig gehandelt. Das nächste Opfer war Penny, ein sechzehnjähriges Mädchen. Daneben stand der Sarg von Doktor Hardy Retzner und schließlich der von Nikolaus Kleinfeld, dem jüngsten Opfer des Überfalls.

      Die komplette Stadt, einschließlich des Trecks, war zur Trauerfeier erschienen und füllte den Friedhof. Sie hatten Glück im Unglück gehabt und die meisten ihrer Wagen zeigten keine Beschädigungen. Die Männer, die die Löcher für die Gräber hatten ausheben müssen, standen einige Meter daneben und es war ihnen anzusehen, welche Schwerstarbeit sie verrichtet hatten. Der Boden war gefroren und jede Schaufel Erde eine Qual. Später war es ihre Aufgabe, die Gräber wieder zuzuschütten und sie mit einfachen Holzkreuzen zu versehen.

      Nach der Trauerfeier wurde von allen Seiten großes Beileid bekundet, was Luise kaum zu ertragen vermochte. Friedrich stützte sie an den Oberarmen und gab sich alle Mühe, die Fassung zu wahren. Noch während sie herumstanden, begannen die Männer, die Gräber wieder zuzuschütten, denn der Himmel versprach neuen Schnee und deshalb mussten sie sich beeilen. Die gefrorenen, harten Erdklumpen schlugen auf den einfachen Holzsärgen auf und erzeugten ein dumpfes, gespenstisches Klopfen.

      Die Trauergemeinde löste sich auf, jeder ging zurück zu seinem Haus oder zu den Wagen vor der Stadt. Friedrich hielt seinen Arm schützend um seine Frau gelegt, während sie die Straße hinab, nach Hause gingen.

      Julie half ihrer Mutter schweigend bei der Zubereitung des Trauerschmauses und sie war froh, dass es hier nicht mehr üblich war, alle Nachbarn dazu einzuladen. So konnte jeder von ihnen still seinen Gedanken nachhängen und sich seiner Trostlosigkeit hingeben.

      Julie war sich nicht schlüssig, für wen der Schmerz des Verlustes größer war: Für ihren kleinen Bruder oder für Hardy Retzner. Sie fehlten ihr beide entsetzlich und die Erkenntnis, dass sie beide niemals wiedersehen würde, zerriss ihr das Herz. Genauso schlimm empfand sie jedoch diese bedrückende Stille, die über ihrem Haus lastete. Friedrich saß im Schaukelstuhl vor dem Kamin, in dem das Feuer knisterte und las in der Bibel. Hugh hatte sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen und sie stand mit ihrer Mutter in der angrenzenden Küche und versuchte so zu tun, als würde alles wieder irgendwie in Ordnung kommen.

      Julie verspürte den starken Drang, darüber zu sprechen, was geschehen war. Sie wollte, dass sie sich alle gemeinsam an die schönen Zeiten erinnerten, die sie miteinander gehabt hatten. Nikolaus’ vorlauten und doch häufig so weisen Sprüche, sein Temperament und seine wilden Phantasien. Sie erinnerte sich, wie er einmal im Frühjahr, als Kleinkind, in den Bach hinter dem Häuschen gesprungen war, das sie in Deutschland bewohnt hatten. Er hatte „Ente“ spielen wollen, wie er ihnen später erklärte und dabei war er stundenlang unbemerkt in dem niedrigen Rinnsal hin und her gepaddelt. Im Winter desselben Jahres hatte er sich auch die Lungenentzündung zugezogen, die seine Gesundheit auf ewig geschwächt und anfällig gemacht hatte.

      Julie schluckte. Sie konnte nicht daran zurückdenken. Es war zu früh, für sie alle. Sie konnten noch nicht darüber sprechen, wie dankbar sie dafür sein mussten, dass Nikolaus sie – wenn auch für eine viel zu kurze Zeit – ein Stück des Weges begleitet hatte. Irgendwann würde es wieder in Ordnung kommen, denn sie mussten ihr Leben weiterführen, auch ohne ihn. Sie würden so tun, als ginge es weiter wie bisher, auch wenn es niemals wieder so sein würde und ganz gleich, wie sehr ihr Herz sich danach sehnte, dass die Vergangenheit zurückkehrte. Sie würden sich ablenken mit neuen Aufgaben und Zielen, um den Schmerz weit fernhalten zu können und wenn sie es lange genug durchhielten, dann würden sie es irgendwann akzeptieren können.

      Der Überfall

      Die ersten Schneeflocken fielen wieder vom Himmel als der Trupp der Kavallerie sich langsam in Bewegung setzte. Die beiden Soldaten vor dem Tor zum Fort hoben salutierend ihre Gewehre und warteten, bis Captain Harbach mit der zwanzig Mann starken Truppe hinausgeritten war und den Weg in Richtung Stadt hinab verschwand.

      „Sergeant!“, brüllte er auf einmal und ein Reiter löste sich aus der Gruppe.

      „Ja, Sir?“ Der junge Mann ließ seinen Dunkelbraunen mit dem Hengst des Captains Schritt halten.

      „Wir werden als erstes den Sheriff aufsuchen und ihn grob über unser weiteres Vorgehen unterrichten. Nur für den Fall, dass er unsere Hilfe bräuchte. Ich hoffe aber nicht, dass das in nächster Zeit der Fall sein wird.“

      „Ja, Sir.“

      „Währenddessen können Sie nach unseren vier Soldaten sehen und prüfen, wie es ihnen geht! Verstanden?“

      „Jawohl, Sir!“ Der junge Mann hielt sein Pferd noch immer neben dem des Captains.

      „Irgendwelche Fragen, Sergeant? Irgendwelche Unklarheiten?“, fragte Captain Harbach mit deutlich unwilligem Unterton.

      „Nun, Sir...Captain...“, begann der junge Mann zögernd und merkte gleich darauf, dass er besser den Mund gehalten hätte. „Ich will Ihre Fähigkeiten und Ihre Entscheidungen wirklich nicht in Frage stellen und kritisieren, Sir, aber...“

      „Aber was, Sergeant?“, fiel der Captain ihm scharf ins Wort.

      Der junge Mann schluckte. „Nun, Sir...meiner Ansicht nach machen Sie das Problem mit den Cherokees nur schlimmer anstatt besser, wenn Sie jetzt hinausreiten, um wieder irgendwelche Verhandlungen anzustiften