In den nächsten Minuten, die Julie wie Stunden erschienen, hörte sie das wütende Geheul der Indianer von draußen und ihre Rufe in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann wiederum vernahm sie laute Schüsse aus Gewehren und Revolvern und sie glaubte, die Befehle eines der Soldaten aus dem Fort aus dem ganzen Lärm herauszuhören. Von irgendwoher brüllte jemand „Feuer! Feuer!“ und im nächsten Augenblick fiel ein weiterer Schuss, ganz in der Nähe.
Ein kalter Schauer jagte Julie über den Rücken. Was ging dort draußen nur vor sich? Wie sinnlos sie hier herumstand! Längst hatten die Angst und der Schrecken von ihr Besitz ergriffen. Wo blieb bloß Hardy? Sie musste nach ihm sehen!
Kurz entschlossen zog Julie den hinderlichen, bodenlangen Mantel wieder aus, warf ihn achtlos beiseite, ehe sie ihre Röcke raffte und zur Eingangstür eilte. Sie horchte mit angehaltenem Atem. Noch immer erklangen von draußen Schreie und Schüsse und ihr Verstand wusste, in was für eine Gefahr sie sich begab, aber sie konnte nicht länger nutzlos hier herumstehen! Hastig riss sie die Türe auf und mit einem Satz sprang sie hinaus, ins Freie. Unter dem Vordach der Praxis war es dunkel. Mit einem Blick erfasste sie die Situation, die sich fast am anderen Ende der Straße abspielte, denn der Schein des brennenden Saloons leuchtete weit über die Siedlung hinweg. Menschen mit Eimern rannten umher und versuchten zu retten, was noch zu retten war. Dazwischen ritten Cherokees auf ihren Pferden und Männer versuchten, sie aufzuhalten. Sie hörte das Surren von Pfeilen und Schreie von Verwundeten, doch genau erkennen konnte sie nichts. Alles schien gleichzeitig zu passieren und immer wieder krachten Schüsse, die ihr durch Mark und Bein gingen. Der Rauch der Flammen und der abgefeuerten Munition mischte sich mit dem herabfallenden Schnee und nebelte ihre Sicht ein. Sie musste husten.
Auf der Straße lagen Menschen, von denen sie nicht abschätzen konnte, ob sie noch lebten oder schon tot waren. Ihr Herz schlug laut und rasend und pochte in ihren Halsschlagadern. Was sollte sie tun? Einige Meter vor ihr kamen zwei Reiter in wildem Galopp entlang gejagt und sie erkannte, dass es Cherokees waren. Mit einem leisen Aufschrei wollte Julie sich abwenden und in die Praxis zurückstürmen, doch sie stolperte über einen Gegenstand. Hart schlugen ihre Ellenbogen auf den Holzbohlen auf. Sie achtete kaum auf den Schmerz, sondern wandte sich um. Ihr stockte der Atem.
„Hardy!“ Sie merkte nicht, dass es ihr eigener Aufschrei war, der über den Platz hallte. Auf allen Vieren krabbelte sie zu ihm hinüber. „Hardy!“
Schluchzend suchten ihre zitternden Finger nach seinem Handgelenk, nach einem Puls, einem Lebenszeichen. Er hatte die Augen geschlossen, doch als sie den langen, dünnen Pfeil entdeckte, der in seiner Brust steckte, wusste sie, dass es vergebens war. Zu oft hatte sie die Anatomiebücher durchgearbeitet. Der Pfeil hatte ihn direkt ins Herz getroffen. Am ganzen Leib zitternd wollte sie sich aufrappeln, doch da war plötzlich ein Schatten über ihr, der den Feuerschein des Saloons versperrte und sie an den Oberarmen packte und durch die Tür ins Innere der Praxis schleifte.
Völlig außer sich und nun in grenzenloser Panik, kreischte Julie auf. Sie versuchte, sich zu wehren, doch die beiden Arme waren stärker und warfen sie unsanft neben der Tür zu Boden. Schützend schlug sie die Hände über ihrem Kopf zusammen.
„Du hierbleiben!“, befahl eine tiefe Stimme in gebrochenem Englisch. Langsam wagte Julie es, den Blick zu heben. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Obwohl auf seinen Wangen die beiden weißen Striche aufgemalt waren, erkannte sie ihn. Seine schwarzen Augen blickten eindringlich zu ihr hinab und mit einem Mal hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Er würde ihr nichts tun, das spürte sie.
„Du hierbleiben“, sagte er noch einmal und deutete auf den Boden. „Sonst du tot!“
Julie wagte kaum zu atmen und starrte ihn an. Es war dasselbe Gesicht, derselbe junge Mann, doch mit einem Mal gab es da keine bedauernswerten Gefühle mehr, die sich bei ihrer ersten Begegnung in ihr Bewusstsein gestohlen hatten. Das da, dieser junge Mann da vor ihr, war ein Wilder, ein unberechenbares Individuum, dem sie nicht länger trauen konnte. Julie biss sich auf die Lippen. Er würde sie nicht umbringen, weil sie ihm damals geholfen hatte, nur aus diesem einen Grund würde er sie verschonen.
„Du verstanden?“, fragte er jetzt, deutlich sanfter, als ihre großen, verängstigten Augen ihn noch immer sprachlos beäugten.
Julie nickte zaghaft. Sein schwarzes Haar glänzte im Licht der Lampen, die überall brannten und die Federn, die hineingebunden waren, ließen es noch dicker erscheinen, als es ohnehin bereits war. Doch ehe sie dazu kam, sich zu fragen, weshalb er immer noch regungslos dort stand und auf sie hinabstarrte, wandte er sich um und verließ die Praxis. Er schlug die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sie alleine zurück. Schutzsuchend zog Julie ihre Knie an den Körper, legte ihren Kopf darauf und begann, haltlos zu schluchzen. Gedämpft drangen die Rufe und die Schreie, Wiehern von Pferden und weitere Schüsse zu ihr hindurch, bis schließlich eine bedrückende Stille folgte. Irgendwann hörte sie auf zu weinen. Sie lauschte und glaubte, vertraute Stimmen zu vernehmen. Ruhe schien eingekehrt zu sein, was wohl bedeutete, dass die Cherokees fort waren. Julie wusste nicht, wie lange sie dort auf dem kalten Fußboden neben der Eingangstür gekauert hatte. Ihr fröstelte, doch sie wagte nicht, aufzustehen und ihren Mantel zu holen, der halb auf dem Behandlungstisch hing, halb unten auf der Erde lag.
Schnelle Schritte erklangen auf den Holzbohlen vor dem Eingang. Sie hielten kurz inne, ehe sie näher kamen. Es waren laute, klopfende Schritte von schweren Stiefeln und Julie musste lächeln. Es war vorüber. Jemand kam, um sie zu retten. Die Tür wurde aufgestoßen.
„Julie!“ Eine ihr wohlbekannte Gestalt beugte sich über sie. „Julie! Bist du verletzt? Ist dir etwas passiert?“
Ihre rotgeweinten Augen schauten ihn an. Sie brachte ein kaum merkliches Kopfschütteln zustande.
„Mir...geht’s gut“, kam es leise über ihre Lippen. „Aber Hardy...“
„Ich weiß.“ Behutsam legte Hugh seinen linken Arm um ihre Schultern und schob den rechten unter ihre Kniekehlen. „Ich habe ihn gesehen.“
Er nahm sie hoch und sie ließ es geschehen. Er trug sie hinaus, in das Schneegestöber und die Kälte, über Hardy Retzers Leichnam hinweg und marschierte mit ihr die Straße hinab. Sie schien unter Schock zu stehen, denn sie reagierte nicht auf die besorgten Fragen ihrer Freunde und Nachbarn, an denen sie vorüber kamen.
Hugh sagte nur immer wieder: „Sie ist in Ordnung! Ihr ist nichts passiert!“ und war doch selbst kaum fähig, seine Fassung zu wahren. Immer wieder verschwamm die Straße vor seinen Augen, als er versuchte, die Tränen zurückzudrängen und sich nichts anmerken zu lassen.
Die Kälte und der Schnee, der unaufhörlich auf sie herabfiel, brachten Julie aus ihrer Lethargie in die Gegenwart zurück.
„Was...was ist passiert?“, fragte sie leise und fuhr sich mit der Hand über das blasse Gesicht.
„Die Cherokees haben uns überfallen“, antwortete Hugh leise und warf einen langen Blick zurück auf die glühenden Überreste des Saloons.
„Ich weiß“, entgegnete Julie. „Deshalb habe ich überlebt...weil es die Cherokees gewesen sind.“
Hugh verstand sie nicht, doch er hatte jetzt keinen Nerv, sie danach zu fragen, was ihre geheimnisvolle Aussage zu bedeuten hatte.
„Lass mich runter“, bat Julie, doch Hugh achtete nicht darauf. Er würde kein Risiko eingehen. Es war besser, wenn er sie jetzt nicht auf ihre eigenen Beine stellte. Vor ihrem Wohnhaus standen Miklós und seine Frau. Beide weinten leise und als sie Hugh mit Julie jetzt erblickten, bekreuzigten sie sich.
„Mädchen! Oh, Gott sei Dank!“, rief der Ungar und wischte sich die feuchten Wangen trocken. „Du lebst!“
Julie versuchte ein Lächeln, das nicht recht gelingen wollte. „Ja, ich bin in Ordnung!“
„Hardy nicht.“ Hugh deutete die Straße hinab und Miklós nickte begreifend.
Äußerlich war ihr nichts geschehen, sie war unverletzt, doch der Schock und die entsetzlichen Geschehnisse pressten ihr Herz zusammen. Nur ganz allmählich fühlte sie sich ein