Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
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gesunden Menschenverstand ausgestattet und an allem interessiert, was sich ihr an neuen Erkenntnissen bot.

      „Wenn eine Frau diese Blutungen einmal nicht mehr bekommt, eine verheiratete Frau, meine ich“, fügte er schnell hinzu, „kann sie mit großer Sicherheit davon ausgehen, guter Hoffnung zu sein.“

      „Aha!“, machte Julie und betrachtete die beiden Zeichnungen. Sie konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Säugling durch diese winzige Öffnung aus einer Frau hinauskommen sollte, doch es schien ganz offensichtlich recht gut zu funktionieren. Sie überlegte.

      „Haben Sie das alles begriffen?“, wollte Doktor Retzner wissen.

      Julie legte den Kopf schief. „Nun ja“, begann sie zögernd. „Fast alles.“

      Er lächelte ihr ermutigend zu. „Sie können mich alles fragen, Julie-Mädchen! Was haben Sie nicht verstanden?“

      „Um ganz offen und ehrlich zu sein...“ Sie zog unangenehm berührt die Schultern hoch. Es kostete sie einige Überwindung, ihre Frage auszusprechen. Mit jedem Tag der vergeht, dachte sie, versündige ich mich mehr und irgendwann werde ich meinen Eltern nicht mehr in die Augen sehen können. Laut jedoch sagte sie: „Sie haben mir zwar erklärt, wie das Kind in der Gebärmutter heranwächst...“ Sie brach ab.

      „Aber?“, hakte Doktor Retzner vorsichtig nach. Er wollte sie nicht drängen und gleichzeitig verlangte sein nüchterner Verstand von ihm, ihr schonungslos alles zu erzählen, auch, wenn er damit vermutlich den Zorn ihrer Eltern auf sich zog, sollten sie es herausfinden. In seiner Überzeugung allerdings besaß auch ein Mädchen das Recht, über die natürlichsten Vorgänge der Menschheit zu erfahren – ganz gleich, in welcher Position die Kirche dazu stand.

      Julie schluckte. Es kostete sie einige Überwindung, es auszusprechen. „Aber...nun ja, was ich nicht verstehe ist, wie es dort überhaupt hineinkommt!“

      Er erstarrte. Er hatte diesen Punkt absichtlich ausgelassen, in der Hoffnung, sie würde sich die logische Folgerung selbst zusammenreimen. Offenbar tat sie das nicht, konnte es vermutlich auch gar nicht. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Es half nichts, er musste sie darüber aufklären. Er konnte ihr das nicht vorenthalten, wollte er sie nicht bei einer der Frauen in eine peinliche Situation bringen. Natürlich würden die Patientinnen mit ihr anders reden und ihr Dinge anvertrauen, die sie ihm gegenüber vermutlich nicht erwähnten und dann musste sie wissen, worum es sich handelte. Ihm blieb keine Wahl und so nahm er den Bleistift wieder zur Hand und nach einer kurzen Sekunde der Überwindung setzte er ihn auf den entsprechenden Teil der Zeichnung.

      „Damit“, stieß er hastig vor, „damit gelangt das Kind in eine Frau und deshalb kann nur durch beide zusammen, durch Mann und Frau, neues Leben gezeugt werden.“

      Er fühlte, wie Julie neben ihm den Atem anhielt. Er wusste, dass ihr in diesem Moment sehr vieles klar werden musste und einige Erkenntnisse auf sie einstürzten, mit denen sie vermutlich nicht sofort zurechtkommen würde. Es tat ihm leid, dass er es ihr nicht irgendwie schonender beibringen konnte. Wieviele junge Mädchen hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, was sie in ihrer Hochzeitsnacht erwartete! Wieviele böse Überraschungen gab es für sie und genau das wollte er ihr ersparen. Er wollte nicht, dass sie überfallen wurde von einem Vorgang, von dem sie nicht einmal ahnte, dass es ihn gab, erst recht nicht, wenn er ihr Bräutigam sein würde. Die Vorstellung ließ ihn lächeln. Er betrachtete das junge Mädchen, das noch immer da stand, ganz in ihren Überlegungen versunken und auf das Buch hinabstarrte. Am liebsten hätte er sie augenblicklich in den Arm genommen. Wie entzückend sie aussieht, schoss es ihm durch den Kopf, wie ungeheuer süß und einzigartig!

      „Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragte er dann, als sie auch nach einer langen Pause keinen Ton von sich gab.

      „Ja, natürlich“, brachte das junge Mädchen leise hervor. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß und rot wurde.

      „Erzählen Sie bitte Ihren Eltern niemals etwas von dem, was ich Ihnen eben erklärt habe! Sie würden es mir vermutlich nie verzeihen!“

      Unerwartet trat ein verschmitztes Lächeln auf Julies Gesicht. „Nein“, erwiderte sie leise und warf selbstbewusst den Kopf zurück, um ihn anzusehen. „Das glaube ich allerdings auch nicht!“

      Am darauffolgenden Sonntag, nach Friedrichs Predigt, standen noch einige Städter vor der Kirche, wie so häufig nach dem Gottesdienst und unterhielten sich, doch nicht allzu lange, denn es regnete schon wieder und ein kalter Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch und über das Land.

      „Ein solches Wetter habe ich in Deutschland noch nie erlebt“, gab Julie zu, die langsam mit Doktor Retzner den morastigen Pfad hinab spazierte, der auf die Hauptstraße führte. „Es wird überhaupt nicht besser! Dabei sollten wir längst Frühling haben!“

      „Das ist ein anderes Klima hier“, erläuterte der junge Arzt und lächelte. „Ich lese die Zeitung so oft, wie ich dazukomme und darin stand auch einmal etwas über die verschiedenen Wettergebiete dieses riesigen Landes.“

      „Wirklich?“ Interessiert schaute Julie ihn an. „Was heißt das?“

      „Das heißt“, erklärte er bereitwillig, „dass es in Amerika alles gibt: Grüne Wiesen, weite Wälder, hohe Gebirge und Wüsten, einfach alles! Ist das nicht unglaublich? Und das auf einem einzigen Kontinent!“

      Julie versuchte, sich das vorzustellen – eine Wüste neben einer grünen Wiese, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Schließlich nickte sie nur. „Was Sie nicht alles wissen!“

      Hinter ihnen kamen Luise und Friedrich mit ihren beiden Söhnen marschiert. Niemand wollte sich zu lange in der regnerischen Kälte aufhalten und sie beeilten sich, ihren Spaziergang heute kurz zu halten, um schnell nach Hause, ins Warme und Trockene zu gelangen. Es war schon seit Jahren zu einer Angewohnheit geworden, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst immer noch eine kurze Runde zu Fuß zu gehen. Auch in Deutschland hatten sie das immer getan und dabei öfter zu einem Tratsch bei einem Gemeindemitglied angehalten und die neuesten Ereignisse ausgetauscht. Hier beschränkte sich der Sparziergang auf die Bewegung an der frischen Luft.

      „Die beiden sehen sehr vertraut aus“, fand Luise, während sie ihre Tochter und den österreichischen Arzt kritisch beobachtete.

      Friedrich schmunzelte. „Keine Sorge! Ich glaube, dass ihre Beziehung rein auf der Basis ihrer Arbeit beruht!“

      „Hoffentlich!“, kommentierte seine Frau und runzelte bedenklich die Stirn. „Mit seiner Bildung wird er ja hoffentlich vernünftig genug sein und die Finger von ihr lassen!“

      „Aber Luise!“, raunte Friedrich kopfschüttelnd und warf einen Blick über seine Schulter zurück, doch weder Hugh noch Nikolaus schienen etwas von ihrem Gespräch gehört zu haben, denn sie schuppsten sich gegenseitig umher. „Hardy ist ein anständiger Kerl! Er würde Juliane niemals unsittlich nahetreten!“

      Seine Frau lächelte leicht, wenig überzeugt. „Vermutlich hast du recht, dennoch werde ich ein Auge auf die beiden werfen und sollte mir irgendetwas auffallen, werde ich einschreiten. Sie ist schließlich unsere einzige Tochter!“

      Am Abend, noch bevor das Abendessen fertig war, musste Nikolaus wieder durch die Stadt laufen, bis zu der großen Scheune, wo die Pferde, Maultiere und Ochsen untergebracht waren. Dort half er wie jeden Tag beim Misten, wie abgesprochen.

      „Ich beeile mich!“, versprach der Junge und zog sich seine Schildmütze über das braune, widerspenstige Haar.

      „Warte!“ Sein großer Bruder erhob sich vom Tisch und legte die zwei Wochen alte Zeitung beiseite, die er von irgendjemandem geschenkt bekommen hatte. „Ich helfe dir, dann geht es schneller!“

      „Au ja!“, rief Nikolaus und hüpfte auf der Stelle. „Das wird lustig!“

      „Ihr sollt arbeiten, nicht euch amüsieren“, grummelte Friedrich, der neben dem Ofen stand, seine Frau beim Kochen beobachtete und sich gleichzeitig die Hände wärmte. „Vergesst das nicht und beeilt euch! Heute ist Sonntag!“

      „Natürlich,