Kuno war zum Vater gegangen und hatte ihm den Vorschlag gemacht, für Bärbel lieber einen Laden zu kaufen. Da man ihn aber ausgelacht hatte, wagte er keine neuen Vorschläge mehr. So mußten sich die Brüder damit abfinden, daß die Schwester für die nächsten drei Jahre ein seltener Besuch im Elternhause sein würde. Die Versuche, der Schwester noch im letzten Augenblick die Lehrstelle zu verekeln, waren fruchtlos gewesen.
»Brausewetter«, sagte Martin ergrimmt, »was ist das schon für ein Name! Genau so wie Donnerwetter. Der Chef ist gewiß ein aufbrausender Mann, der dir eine Ohrfeige nach der anderen gibt. Nee, Bärbel, ich an deiner Stelle ginge nicht hin.«
Nun hatte man sich endlich damit abgefunden, doch beschlossen die Brüder, die Schwester während der letzten Tage ihres Hierseins noch recht kräftig zu ärgern. Goldköpfchen sollte noch lange an sie denken.
»Wenn sie erst in der ollen Dunkelkammer hocken muß, vergißt sie uns ganz. Na, das ist ein schöner Beruf, immerzu im Finstern sein zu müssen, mit ’ner roten Lampe unter der Nase.«
Das Indianerzelt war fertiggestellt. Nun galt es nur noch, die »Weiße Blume der Prärie« in den Garten zu locken. Vier Knabenaugen schauten zu Bärbels Fenster empor. Sie sahen die Schwester am Fenster stehen, man winkte ihr. Goldköpfchen beugte sich hinaus:
»Was wollt ihr denn?«
»Wir haben hier was ganz Seltenes, – hast du schon mal ein Tier mit acht Beinen gesehen? Die ersten vier sind weiß, die zweiten schwarz.«
»Was denn für ein Tier?« fragte Bärbel neugierig. »Liegt es still, – kann man es knipsen?«
»Komm nur rasch herunter!«
Bärbel griff nach ihrem Photoapparat und eilte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, mit Getöse die Treppe hinab. Sie durchlief den Garten und stand vor dem Zelt.
»Wo ist denn das Vieh?«
»Komm nur …«
Kuno ging mit gekrümmtem Rücken voran ins Zelt, Martin blieb draußen stehen. Bärbel folgte dem Bruder, den Apparat in der Hand.
»Wo ist es denn?« fragte sie leise.
Kuno war rasch hinter sie getreten. Jetzt stand er dem Ausgange ganz nahe.
»Wir haben dich doch nur gefragt, ob du schon ’mal solch ein Tier gesehen hast? – Wir haben es auch noch nicht gesehen.«
»Dummer Junge!«
Da war der Kuno schon aus dem Zelt hinaus, und als Bärbel ihm folgen wollte, als sie die beiden grauen Lappen, die die Tür bildeten, auseinanderschlug, standen beide Brüder vor ihr, ein jeder hielt eine Keule in der Hand, und Martin rief drohend:
»›Weiße Blume der Prärie‹, wage es nicht, dem Indianerhäuptling ›Geierklaue‹ zu entfliehen, er skalpiert dich auf der Stelle!«
Als aber Goldköpfchen trotzdem das Zelt verlassen wollte, fielen beide Brüder über die Schwester her und warfen sie mit vereinten Kräften zu Boden.
»Ihr seid wohl mondsüchtig?«
Aber »Geierklaue« schrie:
»Du bist gefangen und bleibst es!«
Goldköpfchen besah sich das Zelt und stellte fest, daß es ein leichtes war, auf der anderen Seite zu entfliehen, denn die Tücher waren nur lose über in den Erdboden geschlagene Pfähle gehängt. Wenige Augenblicke verhielt sich Bärbel schweigend, dann kroch sie rückwärts, um rutschend aus dem Zelte zu entkommen.
Kuno schaute durch die Lappen. In seinem Gesicht leuchtete es auf.
»Sie geht uns in die Falle«, flüsterte er. Währenddessen rutschte Goldköpfchen noch ein wenig weiter.
Da stürzten beide Brüder mit Geschrei ins Zelt, hastig schob sich Goldköpfchen noch weiter nach rückwärts – dann ertönte ein Aufschrei.
Die beiden Indianerhäuptlinge tanzten wie närrisch im Zelt umher, dann hielten sie es für ihre Pflicht, nach der »Weißen Blume der Prärie« zu sehen.
Diese »Weiße Blume der Prärie« hatte im Eifer nicht bemerkt, daß im Rücken des Zeltes ein tiefer Graben ausgehoben worden war, den man ganz lose mit Brettern belegt hatte. In diesen Graben war Wasser getragen worden, das zwar schnell versickerte, doch war immerhin noch etwa zwanzig Zentimeter hoch nasser Schlamm darin. Und in diesem Schlamm lag die »Weiße Blume der Prärie«, bestrebt, sich daraus hervorzuarbeiten.
Das furchtbare Gebrüll der beiden Knaben lockte Apothekenbesitzer Wagner hinaus nach dem Garten. Ihm bot sich ein merkwürdiges Bild. Das erbitterte Goldköpfchen stand im Garten und warf mit feuchten Erdklößen nach den Brüdern, die, wenn sie getroffen wurden, gar nicht böse darüber zu sein schienen.
»Bärbel!«
Das sollte eine junge Dame von siebzehn Jahren sein! über und über mit Schlamm bedeckt, ungestüm, wie der schlimmste Gassenbube.
Kuno und Martin hielten es für angebracht, sich rasch zu entfernen. So stand Bärbel allein dem Vater gegenüber, der tadelnd seine Große anschaute.
»Siebzehn Jahre«, sagte Herr Wagner. »Die zukünftige Inhaberin eines künstlerischen Ateliers! Geh hinauf, aber sieh dich vor, daß du die Treppe nicht gar zu schmutzig machst. Wenn dich die Mama in dieser Aufmachung erblickt, wird es ihr nicht gerade angenehm sein.«
»Wenn die Bengels so gemein sind!«
Bärbel war entlassen, aber Herr Wagner rief nach seinen beiden Söhnen. Sie saßen hinter dichtem Buschwerk und hatten erwartet, daß sich der Zorn des Vaters auf die beschmutzte Schwester entladen werde. An dem Ton der Stimme hörten beide, daß der Vater nicht gerade gut gelaunt war.
»Soll ich dreimal rufen? Sofort hervorkommen!«
Die beiden Indianer kamen langsam heran. Die Keule schleifte hinter ihnen drein.
»Sieh ’mal, Vater«, sagte Martin im Näherkommen, »Bärbel ist ein ungeschicktes Frauenzimmer. Man gibt sich einen Schwung, – wir in der Turnstunde würden einen Ansatz nehmen …«
»Jawohl, mein Sohn, dein Vater nimmt auch einen Ansatz. Solche Rüpeleien dulde ich nicht!« Und schon hatten Kuno und Martin eine schallende Ohrfeige erhalten.
»Nun hinauf auf euer Zimmer und bleibt darin. Zum Abendessen will ich euch heute nicht sehen. Ihr bekommt die übliche Strafmahlzeit.«
Indianerhäuptling »Geierklaue« schritt mit gesenktem Kopfe voran, ihm folgte genau so kleinlaut der »Weiße Adler«.
Oben im Zimmer ergoß sich freilich der ganze Zorn der beiden Knaben über Goldköpfchen.
»Hätte sie trauernd und wehklagend im Zelt gesessen, wäre das alles nicht geschehen. Sie ist und bleibt eben nur ein dummes Mädchen.«
Aber Goldköpfchen lachte die Zwillinge nur aus.
Trotz dieses Zwischenfalles war die Eintracht zwischen Bärbel und den beiden Brüdern bald wiederhergestellt.
Schließlich neigten sich auch diese Ferien dem Ende zu. Der letzte Tag, den Goldköpfchen im Hause der Eltern verbrachte, bedrückte sie. Aber Bärbel wollte natürlich diesen Abschiedsschmerz nicht zeigen und war heute übermütiger denn je.
Auch die Zwillinge belästigten jeden Menschen, der ihnen in den Weg kam. Apotheker Wagner drückte ein Auge zu, er kannte seine Kinder viel zu gut, um nicht zu wissen, wie es heute in ihnen aussah. Er hoffte, daß man seinem Goldköpfchen doch mehrfach einen kurzen Urlaub erteilen werde, auf daß es sich nicht gar zu sehr nach dem fernen Elternhause sehne. Er wollte diese Hoffnung aber nicht im Herzen seines Kindes erwecken, wußte er doch selbst nicht, ob sie sich nicht als trügerisch erwies.
Martin